Das heikle Verhältnis von Wahrheit und Versöhnung in Südafrika
Von VICTORIA BRITTAIN *
EIN Büroraum in einem unscheinbaren Gebäude in Kapstadt: Ein kleiner weißer Mann mit schütterem Haar macht seine Aussage vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission (WVK).1 Er ist offenbar krampfhaft bemüht, die Geheimnisse des Programms zur biologischen und chemischen Kriegführung des Apartheidregimes auf keinen Fall preiszugeben. Nach Aussagen von Zeugen hat Doktor Wouter Basson Gefangenen, unter anderem auch Nelson Mandela, Gift injiziert, differenzierte Impfstoffe für die verschiedenen „Rassen“ entwickelt, schwarze Versuchspersonen sterilisiert und die Zentren der südafrikanischen Städte massenhaft mit Drogen wie Ecstasy versorgt. Das Projekt des Doktor Basson sah außerdem die Verbreitung der Krankheitserreger von Anthrax (Milzbrand), Cholera und auch von Botulismus vor, desgleichen von Blausäure, Aldikarb, Thalium, Paroxon und einem sehr starken Tränengaswirkstoff namens CR. Zudem wurden in seinem Labor biologische Waffen entwickelt, die sich in Fahrradpumpen, Schraubenziehern, Spazierstöcken und Regenschirmen verstecken ließen.
Dieses streng geheime Projekt, das an die Experimente der Nazis erinnert, war im Ausland in bestimmten Kreisen bekannt. Doktor Basson, Militärarzt im Rang eines Brigadegenerals, hatte 1983 zu den ausgewählten Teilnehmern einer nichtöffentlichen Konferenz über biologische und chemische Kriegführung in San Antonio in den USA gehört. Danach absolvierte er offizielle Besuche in Taiwan, Israel, Deutschland und Kroatien. Den britischen und amerikanischen Verantwortlichen war er einschlägig bekannt: Vor den Wahlen 1994 ließ Washington gegenüber Vertrauten des damaligen Präsidenten De Klerk durchblicken, daß Bassons Ermordung allen Seiten gelegen käme.
1997 erhielt die südafrikanische Armee von der CIA die Warnung, ihr Spezialist habe vor, sich mit all seinen Kenntnissen, seinen Geheimnissen und vielleicht einem Teil seines tödlichen Arsenals aus Südafrika abzusetzen. Zum Glück für die Regierung Mandela fanden sich in Bassons Haus große Mengen Ecstasy und Mandrax, so daß ein Verhaftungsgrund gegeben war. Später wurde er der Massenherstellung von Drogen sowie des Mordes, Betrugs und Diebstahls angeklagt.
Am letzten Anhörungstag der Wahrheits- und Versöhnungskommission herrscht eine höchst emotionale Stimmung, nichts erinnert an ein Gerichtsverfahren. Die WVK spiegelt die neuen Machtverhältnisse in Südafrika, aber sie zeigt auch, mit welcher Hartnäckigkeit sich die alten Kräfte den neuen widersetzen.
Auf der einen Seite Doktor Basson, umringt von vier korpulenten Afrikaaner-Rechtsanwälten und einem ganzen Schwarm von jungen Referendaren, die sich mit Handys und wedelnden Notizen wichtig machen. Die andere Seite ist vertreten durch den Vorsitzende der WVK, Bischof Desmond Tutu, den Rechtsanwalt Dumisa Ntsebeza, Doktor Fazel Randera, Wendy Orr, die Gerichtsmedizinerin aus Port Elizabeth, die als erste den systematischen Einsatz von Folter durch die Polizei aufgedeckt hatte, durch Yasmine Sooka, eine weiße Beamtin, die sich am Ende ihrer Rolle im Apartheidsystem bewußt geworden war und sich dagegen aufgelehnt hatte, aber auch durch schwarze und asiatische Mittelständler, die im Exil oder am Rande der Gesellschaft aufgewachsen sind.
Die Jury hört sich die wiederholten Lügen Doktor Bassons an und nimmt seine Weigerung, Fragen zu beantworten, besonnen zur Kenntnis. „Herr Doktor, beruhigen Sie sich. Vielleicht sind diese Behauptungen ja verleumderisch, aber sie sollten Sie nicht provozieren. Hauptsache, Sie sagen zu den Tatsachenvorwürfen aus. Sie können antworten“, rät Ntsebeza, nachdem Basson seinem Ärger auf afrikaans Luft gemacht hatte.
In dieser befremdlichen Welt der unbewältigten Altlasten, die im heutigen Südafrika immer noch allenthalben dominiert, arbeitet Basson auch weiterhin für das Verteidigungsministerium. Während der Anhörungen saß einer seiner Freunde, Doktor Knoebel (sein Chef aus düsteren Zeiten, der heute ebenfalls noch auf seinem Posten sitzt), zufällig neben der Ehefrau des jetzigen Verteidigungsministers Umkhonto wa Siswe. Den hatte Basson einmal umzubringen versucht.
Im Zeugenstand erklärte Basson der Jury, wie er und die Apartheidführer Nelson Mandela „beschützt“ hätten, als dieser noch im Gefängnis saß. Damals hätten Spione der Regierung in Erfahrung gebracht, daß ein Anschlag auf Mandela geplant war – „von gewissen ANC-Mitgliedern, denen er nicht radikal genug war“. Er sollte vergiftet werden, man wollte seinen Körper schwächen, die Haare sollten ihm ausfallen und sein Augenlicht nachlassen, er sollte sozusagen zum Tattergreis werden. „Seine Rettung verdankt er mir“, behauptete Doktor Basson vor den verblüfften Kommissionsmitgliedern. Stundenlang erläuterte der Arzt der WVK den eigentlichen Sinn seiner „bedeutenden“ Aufgabe: Er wollte doch nur Dämme gegen die Südafrika bedrohende Flut des sowjetischen und kubanischen Kommunismus errichten.
Nach dem Fall Basson begannen die Anhörungen zu Fragen der Amnestie2 und der Entschädigung der Opfer. Das spärliche Publikum und das geringe Medieninteresse sind jedoch einem Unterfangen nicht angemessen, das eine dauerhafte Veränderung im Verhältnis der Weißen zur Geschichte des Landes herbeigeführt hat. Einer der ANC-Minister erklärte: „Heute können die Weißen sagen: ich habe nichts gewußt. Aber sie werden nie wieder sagen können: Das alles hat gar nicht stattgefunden.“
Der Abschlußbericht der WVK – fünf Bände mit insgesamt über dreitausend Seiten – wurde Ende Oktober veröffentlicht und enthält wenig Neues im Vergleich mit den Veröffentlichungen aus den über zwei Jahre andauernden Anhörungen. Doch die in allen Einzelheiten geschilderten Greuel der Verbrechen und die barbarische Mentalität der Täter übersteigen jedes Vorstellungsvermögen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes unsäglich.
Außerordentlich erhellend ist auch, daß eine der Schlüsselfiguren des Regimes, Frederik de Klerk, mit rechtlichen Mitteln erreicht hat, daß die ihn betreffende Seite des Berichts in letzter Minute zurückgezogen wurde. Über diesen Fall wird Anfang 1999 ein Gericht befinden, die Mitglieder der WVK sind allerdings eher optimistisch. Sie gehen davon aus, daß der ehemalige Präsident es nicht schaffen wird, seinen Namen aus diesen Seiten der Geschichte zu tilgen. Ebensowenig ist es eine Überraschung, daß gewisse ANC-Vertreter den Bericht der Kommission heftig kritisiert haben.
Die WVK hat einerseits die Apartheid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeprangert, aber andererseits auch die ehemalige Befreiungsbewegung ANC wegen der von ihr begangenen Folterungen und Ermordungen angeblicher Verräter kritisiert. Die Kommission ist beim ANC äußerst unbeliebt, sich an ihrer Arbeit zu beteiligen, gilt als viel zu großes Entgegenkommen gegenüber den letzten Vertretern eines untergegangenen Unrechtsregimes.3
Heute, nach Beendigung des Kalten Krieges, wirkt das von Basson und den Mitgliedern der Sicherheitskräfte beschworene Gespenst des Kommunismus zur Rechtfertigung von Massakern, Folter, Entführung und Verletzungen der Menschenwürde nur noch lächerlich. In Wahrheit handelte es sich um einen ausgeprägten Rassenwahn; der Mythos der kommunistischen Bedrohung war damals nur ein probater Vorwand. Aber Wouter Basson klammert sich verbissen an die alten Behauptungen. Der Psychiater Dr. Sean Kaliski hat erklärt, wie extreme Gewalttätigkeit in der Apartheidära zur Normalität werden konnte. „Der Gesetzgeber erließ Bestimmungen, auf die sich die Rechtsanwälte und zahlreiche andere Berufsgruppen beziehen konnten. Daraus entstand schließlich eine normative Struktur, die das Morden rechtfertigte (...).“
Bei den Anhörungen in Kapstadt haben sich Wouter Basson und seine Anwälte als typische Vertreter des alten Südafrika erwiesen. Sie waren unfähig, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, einer Wahrheit, die doch immerhin den Weg zu der Amnestie ebnet, die in der neuen demokratischen Verfassung vorgesehen ist. Auch die westlichen Regierungen wurden für ihre Mitwisserschaft oder ihre Unterstützung (unter anderem bei der Entwicklung und Herstellung südafrikanischer Nuklearwaffen) nicht zur Rechenschaft gezogen. Keine einzige dieser Regierungen hat sich entschuldigt oder gar Entschädigungen angeboten.
Die Grundstruktur des Bösen
ANGESICHTS der schillernden Persönlichkeit von Männern wie Eugene de Kock und Dirk Coetzee (zwei der bekanntesten Killer unter den Afrikaanern, die sich beide entschlossen hatten, die Geständnisse abzulegen, die Vorbedingung für die Amnestie sind) wird deutlich, welche Faszination die autoritäre Grundstruktur des Apartheidsystems auf manche Südafrikaner ausüben konnte. Der Schriftsteller André Brink hat in seinen Romanen die brutalen Erziehungsmethoden der jungen Afrikaaner beschrieben. Er hat gezeigt, wie die Greueltaten, die schon in den Familien verübt wurden, sozusagen die Folie bilden4 , vor der die Verbrechen des Apartheidregimes verharmlost wurden.
Der Begriff des Bösen gehörte nicht zum Moralkodex dieser weißen Jugendlichen. Von Scheckbetrug und Autodiebstahl gab es einen zwanglosen Übergang zu richtig schweren Verbrechen wie Folter und Mord. Die schrecklichen Einzelheiten haben überlebende Opfer der Kommission beschrieben. Für die Familien der Opfer waren diese Berichte kaum zu ertragen – manche Familien konnten sich nicht damit abfinden, daß diese Männer amnestiert werden sollen, weil sie eine gewisse Reue zeigten. Zweifellos haben die Geständnisse in vielen Fällen dazu beigetragen, alte Wunden zu heilen, etwa indem man eine Handvoll Knochen feierlich bestatten konnte. Doch Steve Bikos Witwe, die Töchter von Ruth First und der Ehemann von Jeanette Schoon (zwei Lehrerinnen, die durch Paketbomben ermordet wurden) wehren sich gegen die Amnestie für die Mörder oder deren Auftraggeber.
Auch sie sind auf der Suche nach Wahrheit, einer Wahrheit, die das Fundament der Amnestiestrategie bildet. Doch wenn die Kette der Verantwortlichkeiten nicht bis zum Ende verfolgt wird, wenn ein Mann wie Craig Williamson – ein Agent des Apartheidregimes, der den Tod von Ruth First in Mosambik auf dem Gewissen hat, und ebenso den Tod von Jeanette Schoon und ihrer Tochter in Angola – im neuen Südafrika zum geachteten Bürger werden kann, dann ist das Prinzip der Gerechtigkeit so stark in Mitleidenschaft gezogen, daß jede Versöhnung unmöglich geworden ist. Die Entscheidung im Fall Craig Williamson wird wohl nicht vor Frühjahr 1999 fallen. Vermutlich wird er in den Genuß der Amnestie kommen, obwohl wesentliche Fragen ohne Antwort geblieben sind: Hat er alles gesagt, was er wußte, nicht nur über den Mord an Ruth First, sondern auch in bezug auf seine Dokumente, die Henri Curiel – der als einziger Nichtsüdafrikaner auftaucht5 – als sowjetischen Agenten hinstellen, der den ANC unterstützt habe?
Seine größten Verbrechen hat das Apartheidregime jedoch auf wirtschaftlichem Gebiet begangen, und in diesem Bereich wird sich auch entscheiden, ob die Versöhnung möglich ist. Südafrika hat damals in puncto Ungleichheit alle Rekorde gebrochen: 20 Prozent der Bevölkerung verfügten über 75 Prozent der Reichtümer.6 Im Abschlußbericht der Kommission wird es noch einmal ganz deutlich ausgesprochen: Große Teile der Geschäftswelt haben sich der Unterstützung der Apartheid schuldig gemacht und dazu beigetragen, daß sich der Graben zwischen Reichen und Armen nicht verringert hat. Die Kommission hat daher die Erhebung einer Wachstumssteuer vorgeschlagen, als einer einmaligen Sonderabgabe, die für Gesellschaften und private Vermögen gelten soll, gekoppelt mit einer nachträglichen Besteuerung der Unternehmensgewinne.
Zweifellos werden die Folgen der Apartheid noch nach mehreren Generationen zu spüren sein, wenn die Namen der Verbrecher schon längst vergessen sein werden. Dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit – und als solches ist die Rassentrennung durch die Wahrheitskommission eindeutig kenntlich gemacht worden – wird in die Annalen des 20. Jahrhunderts als eine Schandtat eingehen, die den von Nazideutschland begangenen Verbrechen nur wenig nachsteht.
dt. Christiane Kayser
* Journalistin, London.