11.12.1998

Leiden des Exils, Hoffnung auf Heimat

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Leiden des Exils, Hoffnung auf Heimat

Fünfzig Jahre lang im Exil. Seit sie 1948 aus ihrer Heimat vertrieben wurden, leben die Palästinenser an den Grenzen des Staates Israel: ein Teil in Flüchtlingslagern, der andere in Städten. Die einen vegetieren in großer Armut, die anderen haben sich ein neues Leben aufgebaut. Alle aber stehen noch immer unter dem Eindruck eines nicht wiedergutzumachenden Verlustes und träumen von der „Rückkehr“. Nachdem sie jahrelang die Speerspitze des Nationalbewußtseins der Palästinenser gebildet hatten, sind de Flüchtlinge seit den Osloer Verträgen in Vergessenheit geraten. Dabei steht ihr trauriges Los im Zentrum der Konfrontationen, die den Nahen Osten erschüttert haben.

Von unserem Korrespondenten ALAIN GRESH

ICH mußte mich kneifen, weil ich es einfach nicht glauben konnte: Unter den Füßen hatte ich die Erde von Tarschiha, der Geburtsstadt meiner Eltern. Diese Häuser hatte mein Vater betreten, durch diese Straßen war meine Mutter gegangen, damals, vor fünfzig Jahren. Sie hatte mir aus dem Gedächtnis einen Plan gezeichnet, der so exakt war, als sei sie gestern erst von dort abgereist. Und ich war nun hier.“

Samia ist Palästinenserin, geboren im Libanon. Sie hat schon in jungen Jahren am bewaffneten Kampf teilgenommen, hat von der Befreiung geträumt, von der Emanzipation der Frau, von der Weltrevolution. Und jetzt kann sie zum ersten Mal Tarschiha besuchen, jenes Dorf in Israel, das während ihrer Kindheit immer gegenwärtig war. „Ich kannte Palästina aus den Erzählungen. In unserem Flüchtlingslager wurde die Erinnerung immer wieder beschworen, bei allen Gelegenheiten, bei Hochzeiten und Beerdigungen, oft unter Tränen. Es war eine Art von verlorenem Paradies. Wenn ich im Bett lag und mir die Decke über die Ohren zog, weil der Regen auf das Blechdach trommelte, daß es klang wie Maschinengewehrsalven, dann hatte ich Angst, und ich träumte von einem sicheren Zufluchtsort, an dem wir vor allem Unglück geschützt wären.“

Samia war nicht enttäuscht, auch wenn die Wirklichkeit nicht immer den Bildern entsprach, die man ihr ausgemalt hatte. „Die Landschaft war noch schöner, als ich es mir vorgestellt hatte. Schöner als die schönsten Gegenden im Libanon. (...) Bei einem meiner Spaziergänge durch den Ort traf ich ein jüdisches Ehepaar“, erzählt Samia, sichtlich bewegt. „Die beiden fragten mich nach dem Weg zur Poliklinik, und ich antwortete ohne nachzudenken: ,Ich habe keine Ahnung, ich bin nicht von hier.' Dann wurde mir klar, was ich da gesagt hatte, und ich brach in Tränen aus.“ Ist Samia nun „von hier“, ist sie „aus Tarschiha“? Und wäre sie bereit, sich hier, im Staat Israel, niederzulassen, wo noch immer ein Teil ihrer Verwandtschaft lebt und freundlichen Umgang mit den jüdischen Nachbarn pflegt? Ja, natürlich, erklärt Samia sofort – aber dann schränkt sie die spontane Entscheidung doch etwas ein: „Das Wichtigste ist die Möglichkeit, aus freien Stücken zurückzukehren. Ob das tatsächlich geschieht, ist gar nicht so entscheidend.“

Offiziell gelten sie als „Flüchtlinge“. Eine Minderheit lebt in Lagern im Libanon, in Syrien, in Jordanien und im Westjordanland, in Ost-Jerusalem und im Gasastreifen. Manche haben in Ägypten oder im Irak eine neue Heimat gefunden, in den Golfstaaten oder auch in den USA. Viele leben in Armut, aber andere sind Ärzte oder Ingenieure, bekannte Intellektuelle oder auch außerordentlich wohlhabende Geschäftsleute. Obwohl die meisten in den Exilländern geboren sind, geben sie auf die Frage nach ihrer Herkunft Antworten wie „aus Haifa“, „aus Ramallah“, „aus Jaffa“ oder nennen die Namen von Dörfern, die schon 1948 zerstört wurden1 , die aber in ihrer Erinnerung weiterleben, weil es noch Fotografien gibt, Eigentumstitel und die erzählten Erinnerungen.

Genau wie Samia träumen sie alle von der „Rückkehr“. Jeder von ihnen kennt den Wortlaut der Resolution 194 auswendig, die am 11. Dezember 1948, vor genau fünfzig Jahren, von der UN-Vollversammlung verabschiedet wurde: „Es ist geboten, den Flüchtlingen, die dies wünschen, die Möglichkeit zu verschaffen, so bald wie möglich an ihre Wohnorte zurückzukehren und dort in Frieden mit ihren Nachbarn zu leben.“ Einen anderen Passus dieser Resolution weisen sie jedoch empört zurück: „Allen, die nicht zurückkehren wollen, müssen für ihre Güter angemessene Entschädigungen gezahlt werden.“ Man verkauft seine Heimat nicht.

Von allen Fragen, die während der Verhandlungen vorläufig ausgeklammert wurden, ist das Schicksal der Flüchtlinge die schwierigste. Die Flüchtlingslager sind wie offene Wunden – solange sie nicht kuriert werden, kann es keine dauerhafte Friedenslösung in der Region geben. An Vorschlägen mangelt es nicht, aber solange die israelische Regierung bereits den Rückzug aus wenigen Quadratkilometern des Westjordanlands kategorisch ablehnt, scheint eine Einigung in diesem Bereich unmöglich. Dieses Problem sieht auch der palästinensische Dichter Mahmud Darwisch, der zwischen Ramallah und Amman pendelt: „Jeder von uns hat diesen Konflikt auszutragen: Die Stimme des Herzens verbietet uns, auf das zu verzichten, was uns gehört, aber die Stimme der Vernunft sagt uns, daß wir nicht darauf hoffen dürfen, jemals in unsere Dörfer und Städte zurückzukehren, die jetzt in Israel liegen. Doch wie können wir das alles aufgeben? Unsere Erinnerungen sind noch nicht verblaßt, wir haben ja nicht zweitausend Jahre im Exil gelebt. Unsere Häuser, unser Land – all das ist zum Greifen nah.“

Immer in Angst vor der Vertreibung

IN der kollektiven Erinnerung der Palästinenser ist an-nakba, die Katastrophe von 1948, noch immer schmerzhaft präsent. „1948 waren wir gerade dabei, ein eigenes Nationalbewußtsein zu entwickeln“, meint Dr. Ijad Sarradsch, Leiter der kommunalen psychiatrischen Klinik in Gasa2 . „Die Palästinenser sind überwiegend Bauern, ihre Identität war an ihr Land gebunden. Land und Haus zu verlieren, das bedeutete, Ehre und Identität zu verlieren.“ In Dr. Sarradsch' Behandlungszentrum nimmt man sich der besonders verletzlichen Mitglieder der Gesellschaft an – vor allem Frauen, die in einer patriarchalischen Gesellschaft diskriminiert werden, und Kinder, die traumatisiert sind durch die langen Jahre der Besatzung und die Gewalt, die oft zu Persönlichkeitsstörungen führt. Als Sarradsch 1996 verhaftet wurde – er hatte es gewagt, Kritik an Jassir Arafat zu üben – erlebte er das Verhör eines Angeklagten mit. Der Vernehmungsoffizier, ein junger palästinensischer Anführer aus der Intifada-Zeit, verlor schließlich die Geduld und begann zu brüllen – und zwar auf hebräisch! Welch eine merkwürdige Identifikation der Opfer mit den Tätern.

„Wir Palästinenser leiden unter einer tiefsitzenden Angst vor der Entwurzelung, vor der Vertreibung“, erklärt Sarradsch. „Für mich heißt Frieden vor allem eines: daß man mich nicht vertreiben kann. Bis zu den Oslo-Verträgen hatte ich immer Bedenken, ins Ausland zu fahren – man hätte mir ja die Wiedereinreise verwehren können.“ Ein Erlebnis ist Sarradsch besonders in Erinnerung geblieben: „Das war 1991 in der Stadt Chan Junis, im Süden des Gasastreifens. Israelische Soldaten hatten einen Block von 28 Häusern umstellt. Alle Bewohner mußten herauskommen, sie sollten einen ,Terroristen' ausliefern. Als sie sich weigerten, wurden ihre Häuser eines nach dem anderen gesprengt – anschließend fuhren Panzer über die Trümmer, es blieb kein Stein auf dem anderen. Diese Häuser waren von Familien aus einem benachbarten Flüchtlingslager gebaut worden, die an die zehn Jahre gespart hatten, um endlich in die Stadt ziehen zu können. Ich werde nie vergessen, wie diese alte Frau weinend vor den Überresten ihres Hauses stand. Zum dritten Mal hatte sie alles verloren: Schon 1948 war ihr Haus zerstört worden, und dann abermals 1970, von der Armee unter der Führung von General Scharon.“

Ouzo – diesen Namen findet man auf keiner Landkarte, und er steht auch nicht auf den Hinweisschildern, wenn man auf Saida, die Hauptstadt des Südlibanon zufährt. Selbst Palästinenservertretern fällt dazu nichts ein. Aber es gibt diesen Ort: Vor den Toren des großen Flüchtlingslagers Ain Hilweh hat sich eine Barackensiedlung entwickelt, die von ihren Bewohnern Ouzo genannt wird. Der Name hat seine eigene Geschichte. In den siebziger Jahren kämpften der Tschad und Libyen um die Vorherrschaft in einem gottverlassenen Wüstengebiet, das als der Aouzou- Streifen bekannt wurde. Die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO und die libanesische Linke schickten damals militärische Führungskräfte, die auf der Seite von Oberst Gaddafi kämpften. Nach ihrer Rückkehr lebten diese Kämpfer in einem Lager. Als die PLO den Libanon verließ, zogen Tausende von Armen und Verzweifelten in die Barackensiedlung – und aus Aouzou wurde Ouzo. Die Gassen in diesem Lager sind so schmal, daß zwei Menschen kaum aneinander vorbeikommen, und im Winter läuft überall das Wasser in die wellblechgedeckten Häuser. Die Trinkwasserversorgung ist häufig unterbrochen, und für das Abwasser gibt es nur offene Rinnen. „Wir sind 1948 aus Galiläa vertrieben worden und haben dann im Südlibanon gelebt, im Lager Nabatijeh“ erzählt Fatima. Wir sitzen in dem kleinen Raum, den sie mit acht anderen Familienmitgliedern teilt. „Als 1969 die Auseinandersetzungen zwischen der PLO und der Armee anfingen, sind wir nach Beirut gezogen, ins Lager Tal al-Zataar.“ 1976 kesselten die rechten libanesischen Milizen dieses Lager ein. 52 Tage dauerte die schreckliche Belagerung. Die Familie mußte fort und landete in Schatila. Das Massaker von 1982 in diesem Lager ist bekannt – Ariel Scharon, einer der damaligen Hauptverantwortlichen für das Blutbad, ist kürzlich zum israelischen Außenminister ernannt worden und soll nun die Verhandlungen über eine „endgültige“ Lösung der Palästinafrage führen. „Sie starben mit weit geöffneten Augen, in denen sich das Entsetzen über das ganze Geschehen spiegelte, über die Männer, Stühle, Sterne, Sonnen, Falangisten, die sie zittern, sich winden, verschwimmen sahen ...“, hat Jean Genet geschrieben. „Die Sterbenden sahen, rochen, wußten, daß ihr Tod der Tod der Welt war.“3

Die Überlebenden mußten abermals weiterziehen, und sie kamen an den Stadtrand von Saida. 1991, nach weiteren Kämpfen, deren Sinn sie nicht mehr zu verstehen suchten, ließen sie sich in Ouzo nieder. Für sie ist dies nur eine weitere Etappe des schmerzlichen, schon fünfzig Jahre währenden Exodus, der sie schließlich doch ins gelobte Land, nach Palästina, zurückführen soll. Wenn man der Bibel glaubt, hatten die Hebräer nach dem Auszug aus Ägypten nur vierzig Jahre des Irrens durch die Wüste zu überstehen, bevor sie ihr Ziel erreichten ...

Samira faßt es in einfache Worte: „Wir werden Palästina niemals aufgeben und nie auf unser Recht auf Rückkehr verzichten.“ Sie wirkt dabei keineswegs entmutigt oder niedergeschlagen. Im Gegenteil: Gerade heute geht es ihr sehr gut. Sie hat ihren freien Tag (sie gehört zu den Glücklichen, sie hat eine Arbeit als Haushaltshilfe gefunden), und es ist ihr gerade gelungen, sich eine Küche zu bauen, mit Materialien, die sie auf einer Baustelle in der Nähe hat mitgehen lassen, wie sie mit einem kleinen Lächeln einräumt. Zuvor hatte sie schon ihr „Wohnzimmer“ ausgestattet (mit einem Sofa vom Sperrmüll) und eine Toilette gebaut – ein wahrer Luxus in diesem Lager. Samira ist eine Kämpferin, sie war in der Volksfront für die Befreiung Palästinas (FPLP) aktiv. Während des Krieges von 1982 heiratete sie einen jugoslawischen Studenten, der sich der palästinensischen Sache angeschlossen hatte. 1991 ließen sie sich in Ouzo nieder, inzwischen hatten sie drei Kinder. Samiras Mann kam irgendwann nicht wieder, vermutlich ist er von der libanesischen Armee getötet worden. Aber Samira hat ihre eigene Form des Widerstands gefunden: Sie will ein anständiges Leben führen und ihr Lächeln nicht verlieren, und sie hofft auf bessere Zeiten.

Die einzige Hoffnung ist Arafat

OBWOHL die Flüchtlinge die großen Verlierer des Oslo-Friedensprozesses sind, setzt Samira, wie die meisten einfachen Leute in den Flüchtlingslagern in Syrien und im Libanon, ihre ganze Hoffnung auf Jassir Arafat. Was bleibt ihr anderes übrig? Die Hamas hat kein Interesse daran, außerhalb des Westjordanlands und des Gasastreifens aktiv zu werden. Was immer man an Arafat auszusetzen hat (und dort, wo sich die Palästinensische Autonomiebehörde niedergelassen hat, ist die Kritik viel ausgeprägter wegen der Korruptionsskandale und Repressionsmaßnahmen) – er bleibt das Symbol der nationalen Wiedergeburt. Die Palästinenser im Exil sind müde. Kaum eine Familie, die nicht einen, zwei oder drei Märtyrer des Befreiungskampfes aufzuweisen hätte. Und kaum eine Familie, die nicht in wirtschaftlichen Nöten ist, deren Mitglieder nicht in viele Länder verstreut sind, die nicht sorgenvoll in die Zukunft blickt.

„Wir sind von allen verraten worden: Von der internationalen Gemeinschaft, aber vor allem von den Arabern“, ereifert sich Mohammad, ein Aktivist, der zwanzig Jahre lang an allen Fronten gekämpft hat und jetzt im Flüchtlingslager Sbeineh bei Damaskus lebt. „Was blieb Arafat denn übrig, unter diesen Umständen? Eine Fahne auf palästinensischem Boden aufzupflanzen ist schließlich besser als nichts ...“

Die Erinnerung an die letzte Vertreibung ist noch frisch: 1991 wurden 350000 Palästinenser von einem Tag auf den anderen aus Kuwait ausgewiesen. Selbst in den „Autonomiegebieten“ fühlt sich niemand wirklich sicher. Ist Hebron ein Vorgeschmack auf die kommende Katastrophe? Durch den Vertrag, den die internationale Gemeinschaft als „weiteren Schritt auf dem Weg zum Frieden“ gefeiert hat, wurde die Stadt in zwei Zonen geteilt: Die erste steht unter palästinensischer Kontrolle, aber die zweite, ein Gebiet, das 20 Prozent der Stadt umfaßt und in dem 20000 Palästinenser (und einige hundert jüdischer Siedler) leben, wird von Israel kontrolliert. Im Zentrum der Altstadt können sich die Siedler jede Provokation erlauben – die israelischen Soldaten schauen wohlwollend zu.

Einige fanatische Juden haben sich in Tal Armeida niedergelassen, oben auf den Hügeln von Hebron. Vom Dach eines Nachbarhauses (das mit Drahtgittern geschützt ist, weil die Siedler Steine und Abfälle herüberwerfen, in der Hoffnung, die Bewohner auf diese Weise vertreiben zu können) zeigt Anwar, wo überall militärische Kontrollpunkte eingerichtet worden sind, um die „Sicherheit“ der Siedler zu gewährleisten. Aber wer garantiert die Sicherheit der Palästinenser? Nach dem israelisch-palästinensischen Abkommen, das im Oktober 1998 in Wye Plantation geschlossen wurde – noch so ein „weiterer Schritt zum Frieden“ – hat die Regierung Netanjahu neben anderen Maßnahmen zur Verstärkung der Siedlungstätigkeit (wie neue Kredite, Beschlagnahme von Grundstücken zum Bau von Umgehungsstraßen, Bautätigkeit im Zentrum von Ost-Jerusalem)4 auch beschlossen, in Hebron die Wohncontainer, in denen diese „Narren Gottes“ leben, durch feste Gebäude zu ersetzen.

Jussef, ein dreiunddreißigjähriger Palästinenser aus Faludscha im Staat Israel, lebt jetzt in Hebron. Er ist ein Intellektueller, schreibt gelegentlich Gedichte, er arbeitet für die Palästinensische Autonomiebehörde, und er organisiert mit Erfolg Theateraufführungen in Schulen. Er macht kein Hehl aus seinen Befürchtungen: „Es läuft auf eine Teilung der Stadt hinaus“, sagt er. „Nach und nach werden wir vertrieben. Ich mache mir Sorgen um meine Zukunft und um die meines Sohnes.“ Aus der Altstadt von Hebron ist die Mehrheit der früheren Bewohner bereits verschwunden. Unter diesen Umständen scheint es Jussef undenkbar, sein Haus in Faludscha aufzugeben und auf die Eigentumstitel zu verzichten, die ihm sein Vater übertragen hat. „Diesen Besitz aufzugeben wäre Verrat an meinen Vorfahren und an meinem Volk, und es wäre auch ein Verstoß gegen den Glauben. Ich weiß genau, wem welcher Quadratmeter Boden in Faludscha gehört. Und jedes Jahr fahre ich hin und schaue nach dem Baum, den meine Mutter 1943 gepflanzt hat, als sie meinen Vater heiratete.“

Unsicherheit bestimmt das Leben der Palästinenser, aber ebenso die mangelnde Bewegungsfreiheit. Mit jeder politischen und militärischen Niederlage wurde ihr Bewegungsraum weiter eingeschränkt, so daß ihnen nun kaum die Luft zum Atmen bleibt. Vor seinem Haus in Ouzo erledigt der etwa sechzigjährige Dschamal ein paar kleine Reparaturen. Dschamal stammt aus dem Westjordanland; 1969 hat er sich in Jordanien der Fatah angeschlossen, dann ging er mit den Fedajin nach Libanon. Er hat an allen Fronten gekämpft, er war im Sommer 1982 dabei, als sich die Palästinenser in Beirut verteidigen mußten – und nun hat er keine Papiere und ihm droht die Ausweisung. Das Lager kann er nicht verlassen, und er fristet sein Leben, indem er für einen Hungerlohn Plastikflaschen aus den Mülleimern einsammelt.

Die Leiterin des Kindergartens Ghassan Kanafani (nach dem großen palästinensischen Schriftsteller benannt) in Ain Helweh versteht die Welt nicht mehr. Eine ihrer Kindergärtnerinnen ist nach Deutschland gefahren, um sich im Krankenhaus behandeln zu lassen, und nun darf sie nicht mehr zurück – dabei hatte sie jenes berüchtigte Visum, das jedem Palästinenser, der den Libanon verläßt, das Recht auf Rückkehr in dieses Land gewährt. Aber dann geht ihr plötzlich ein Licht auf: Als ihre Mitarbeiterin, die sich im Kindergarten um die blinden Kinder kümmert und selbst an einer Sehschwäche leidet, am Flughafen von Beirut abgefertigt wurde, haben die Beamten wohl die Gelegenheit genutzt, das Rückkehrvisum zu annullieren – die Frau konnte das ja nicht sehen ...

Einige hundert Kilometer weiter, im Lager Dehaische, nahe Bethlehem im Westjordanland: Muna hat es geschafft, im Internet die erste Homepage eines Flüchtlingslagers einzurichten. Seit 1994 ist sie im engen Bezirk dieser Siedlung im palästinensischen Autonomiegebiet gefangen. Obwohl sie einen amerikanischen Paß besitzt, muß sie ihr Visum alle drei Monate bei den israelischen Behörden erneuern lassen – nur weil sie mit ihrem Ehemann im eigenen Land leben will. Aber mit Hilfe von e-mail und Telefon setzt sie geduldig ihre Bemühungen fort, die lokale und internationale Presse mit Informationen zu versorgen.

Ahmed ist 25, er lebt in Dschabalia, nahe bei Gasa, einem Flüchtlingslager, in dem 90000 Menschen auf 1,5 Quadratkilometern zusammengepfercht sind. Das Leben ist hart: 38 Prozent der Haushalte in Gasa leben unter der Armutsgrenze, und im ersten Halbjahr 1998 betrug die Arbeitslosigkeit fast 30 Prozent. Strom- und Wasserversorgung fallen im Lager immer wieder aus. Und zugleich verfügen die 5000 jüdischen Siedler über 40 Prozent des Bodens im Gasastreifen, sie verbrauchen 80 Prozent der Wasservorräte. Ahmed war Student an der Universität von Bir Zeit im Westjordanland, aber die permanenten Schikanen der israelischen Beamten am Kontrollpunkt Erez (dem einzigen Grenzübergang nach Israel) führten dazu, daß er nicht mehr mitkam und seine Studien aufgab. Wie alle, die während der Intifada auf die Listen der israelischen Sicherheitskräfte kamen, hat er keine Chance, als einfacher Arbeiter oder Kellner in Israel zu arbeiten – und bislang hat er auch keinen Job bei der Palästinensischen Autonomiebehörde gefunden.

Seit der Unterzeichnung der Oslo-Verträge 1993 haben sich die Gräben vertieft: zwischen dem Westjordanland und dem Gasastreifen, zwischen den verschiedenen Regionen innerhalb des Westjordanlands und zwischen Ost-Jerusalem und dem Hinterland. „Wir haben gelernt, auf Jerusalem zu verzichten“, meint Muna voller Bedauern, „auf die Treffpunkte, auf die historischen Stätten, auf die Krankenhäuser.“ Seit 1993 dürfen die palästinensischen Bewohner des Westjordanlands nicht mehr in die Stadt. Das „autonome palästinensische Gebiet“ ähnelt einem Archipel, dessen Inseln allmählich auseinandertreiben.

Das Exil ist überall schmerzhaft und bitter, aber es ist nicht überall gleich. In Syrien besitzen die palästinensischen Flüchtlinge alle staatsbürgerlichen Rechte, mit Ausnahme des Wahlrechts. Sie können eine Firma gründen, ein Haus kaufen, Beamte werden, sich als Arzt oder Rechtsanwalt niederlassen. Im Libanon dagegen sind sie seit Anfang der neunziger Jahre harten Auflagen unterworfen. „Der Rassismus ist dort schlimmer als im jüdischen Staat“, empört sich ein Journalist, der fünfzehn Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht hat.

Das große Flüchtlingslager Raschidieh im Südlibanon, bei Tyrus gelegen, ist nur über eine einzige Zufahrtsstraße zu erreichen, die von der libanesischen Armee kontrolliert wird. Am Eingangstor werden alle Fahrzeuge durchsucht: Nicht ein Sack Zement, nicht ein Ziegelstein, kein Stück Holz, nicht einmal ein Nagel darf ins Lager gebracht werden. Die Soldaten geben dazu keine Erklärungen ab, und die Fahrer protestieren erst gar nicht – das alles ist längst Routine. Einer von ihnen, Mahmud, um die vierzig, meint: „Sie verbieten uns, Baumaterial hierher zu bringen, mit dem wir unsere Häuser besser ausstatten könnten.“ Er erinnert sich noch mit Schrecken an die Belagerung durch die schiitischen Amal-Milizen, Mitte der achtziger Jahre. „Die machten keinen Unterschied – ob Frauen, Kinder, Erwachsene oder alte Leute, sie wollten uns einfach alle abschlachten. Das war schlimmer als der israelische Einmarsch von 1982.“ Mahmud hat ein Universitätsstudium in Bagdad absolviert, er spricht Arabisch, Englisch, Türkisch, Persisch und Kurdisch. „Der Irak ist zwar eine Diktatur“ meint er. „Aber bis 1990 sorgte die Führung immerhin dafür, daß es den Staatsbürgern materiell nicht schlecht ging. Hier im Libanon ist den Palästinensern die Ausübung von rund sechzig Berufen verboten. Ich arbeite als Tagelöhner, aber ohne das Geld, das wir von unseren Verwandten im Ausland bekommen, könnten wir nicht überleben. Ich will hier raus, egal wohin, ich würde selbst nach Simbabwe auswandern.“ Jeden Monat verlassen Dutzende Jugendliche das Lager auf Nimmerwiedersehen – offiziell oder heimlich. Sie nehmen jede Gelegenheit wahr, und häufig sind dabei mafiöse Schleuserorganisationen am Werk. Von den 365000 Palästinensern, die nach offiziellen Angaben im Libanon leben, dürften fast 100000 inzwischen in andere Länder gegangen sein – nach Nordeuropa, nach Deutschland, in die Golfstaaten ...

Im Libanon ist es am schlimmsten

ALLE politischen Parteien im Libanon, rechte wie linke, haben in den Palästinensern den idealen Sündenbock gefunden. Auf sie können sie alle ihre Probleme abwälzen – so müssen sie sich nicht mit ihren eigenen Fehlern und Untaten und ihrer Verantwortung für den libanesischen Bürgerkrieg auseinandersetzen. Die Massaker von Sabra und Schatila sind lange vergessen, und Elie Hobeika, einer der Hauptverantwortlichen von damals, hat auch im November 1998 noch einen Posten in der Regierung. Aber andere erinnern sich genau an diese Zeiten, zum Beispiel Doktor C., ein libanesischer Arzt, der sein Leben der Arbeit in den Flüchtlingslagern gewidmet hat und seinen Namen lieber nicht genannt sehen will: „Damals war jeder Stein und jeder Baum auf der Seite der palästinensischen Revolution.“ Und gab es damals nicht auch eine Jugend, die darauf brannte, die Schranken der Tradition und der Konfessionen zu durchbrechen? War damals Beirut nicht das vibrierende Zentrum einer Revolution, die, wie Jean Genet sich erinnert, als „etwas Grandioses in der Art eines glanzvollen Feuerwerks“ begriffen wurde, als „ein Brand, der von einer Bank zur anderen, von einer Oper zur nächsten, vom Gefängnis zum Justizpalast übergreifen“5 würde?

Die Flüchtlinge, vor allem jene, die in den neunundfünfzig Lagern nahe der israelischen Grenzen leben, sind in hohem Maße angewiesen auf das seit 1949 bestehende UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästina (UNWRA). Das UNWRA kümmert sich um die Straßen und den Strom, das Wasser und die Müllabfuhr.6 Ein solches Lager genießt einen gewissen exterritorialen Status, der den Bewohnern wichtig ist, denn er beweist, daß ihr Anliegen fortbesteht. Fuad, ein Fatah-Funktionär, gehört der öffentlichen Kommission an, die das Lager von Chan Junis leitet. Dieses gewählte Gremium befaßt sich mit den Anliegen der Bewohner, ob Nachbarschaftsprobleme oder Fragen der Versorgung. „Als Flüchtlinge sind wir von der Etablierung der Palästinensischen Autonomiebehörde im Gasastreifen nicht direkt betroffen“, erklärt Fuad. „Wir betrachten diese Institution gewissermaßen als Regierung eines Gastlandes, die uns Aufnahme gewährt, bis eine Lösung für unser Problem gefunden ist.“

Eintausend sind in ihren braunen Kitteln auf dem quadratischen Hof angetreten, um patriotische Lieder anzustimmen, bevor sie mit dem Unterricht beginnen – am Nachmittag werden tausend andere Schüler ihren Platz einnehmen. Wie die meisten Einrichtungen des UNWRA arbeitet die Knabenschule von Ara, im Lager Dscharamana bei Damaskus, im „Doppelschichtbetrieb“ – mancherorts hat man sogar schon eine „dritte Schicht“ eingeführt. An den Wänden Zeichnungen und Parolen: „Das Buch ist ein Licht, das uns erleuchtet“. „Gemeinsam für eine schönere und saubere Umwelt!“ Andere Aufrufe haben mehr politischen Inhalt: „Das Vaterland braucht unser Blut, nicht unsere Tränen“; „Morgen werden wir gemeinsam tanzen, auf dem Boden Palästinas“.

Der Lehrer geht durch die engen Bankreihen, hält kleine Zeichnungen hoch, stellt unermüdlich seine Fragen: Was ist das? Zehn Schüler melden sich. „An egg“, gibt einer zur Antwort. Und das? „An eagle“, sagt ein anderer. Und dann wiederholt die ganze Klasse im Chor: „This is an egg, this is an eagle.“ Fünfzig Jungen im Alter von etwa zehn Jahren absolvieren hier das erste Jahr im Englischunterricht. Die Klassen sind viel zu groß, wie in den meisten der 650 Schulen, die mit Hilfe des UNWRA unterhalten werden. In Syrien liegt die Klassenstärke bei durchschnittlich 44 bis 45 Schülern, in Gasa bei 47 bis 48. Im Libanon allerdings sind es nur 37 bis 39. Dennoch erlangen dort inzwischen weniger als die Hälfte der Schüler den offiziellen Schulabschluß, der von den UNWRA-Schulen geboten wird – vor zehn Jahren waren es noch fast 90 Prozent.7

In allen seinen Tätigkeitsfeldern – es sorgt nicht nur für die Schulbildung der Flüchtlinge, sondern kümmert sich auch um das Gesundheitswesen und unterstützt die Armen – hat das UNWRA mit Problemen zu kämpfen. Es fehlt am Geld: Die Organisation finanziert sich zu 95 Prozent aus freiwilligen Beiträgen der internationalen Gemeinschaft, und 1998 mußte sie ihre Ausgaben um 60 Millionen Dollar kürzen, das sind etwa 20 Prozent ihres Budgets. Inzwischen stehen ihr nur noch 94 Dollar für jeden Flüchtling zu Verfügung, 1992 waren es noch 120 Dollar. Das ist nicht einfach eine Frage von Gleichgültigkeit bei den Geberländern, sondern die Folge einer bewußten Strategie der USA und Israels: Es geht darum, das UNWRA aufzulösen, weil sein Fortbestehen auf eine Tragödie verweist, von der diese beiden Länder nichts mehr wissen wollen.

Dabei bestehen durchaus Lösungsmöglichkeiten. Daß die Mehrheit der Flüchtlinge bereit ist, Israel anzuerkennen und sogar in diesem Staat zu leben, zeigt, wie sich die Haltungen gewandelt haben.8 Mahmud Darwisch hält jedoch zweierlei für unabdingbar: „Israel muß die Verantwortung für den Exodus der Palästinenser 1948 übernehmen; nur so kann ein Prozeß der Aussöhnung eingeleitet werden. Und die Palästinenser müssen echte nationale Unabhängigkeit gewinnen, indem sie einen eigenen Staat gründen.“ Man könne schließlich auf lange Sicht nicht Millionen Menschen im „Hinterhof ihres [eigenen] Vaterlands“ sitzenlassen.

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 Zur Vertreibung der Palästinenser zwischen 1948 und 1950 siehe Dominique Vidal (unter Mitarbeit von Joseph Algazy), „Le Péché originel d'Israäl“, Paris (Atelier) 1998. 2 Gaza Community Mental Health Programme. rana6gcmhp.net; http://www.gcmhp.net. 3 Jean Genet, „Ein verliebter Gefangener. Palästinensische Erinnerungen“, aus d. Franz. v. Thomas Dobberkau, München (dtv) 1990, S. 463. 4 Siehe Mouna Hamzeh-Muhaisen, „Why the settlement frenzy after Wye?“, Palestine Report (Jerusalem Media & Communication Center), 4. November 1998. 5 Jean Genet, a. a. O., S. 375. 6 Vgl. Julien Mauriat, „Les camps de réfugiés palestiniens à Beyrouth: dynamiques internes et articulations à leur environnement immédiat“, Abschlußarbeit an der Universität Paris-X (Nanterre), Juni 1997. 7 Zur Lage der Palästinenser im Libanon siehe Suhail Natur, „Die Situation des palästinensischen Volkes im Libanon“ (arab.), Beirut (Dar al-Taqadum al-Arabi) 1993. Vgl. auch Palestine Solidarité, Nr. 96, Oktober 1998. 8 Diese Bereitschaft der Flüchtlinge, unter israelischer Oberhoheit zu leben, kann ich aus eigenen Erfahrungen bezeugen, sie ist auch in einer Reihe von Umfragen bestätigt worden. Siehe Adel Hussein Jahja, „Die palästinensischen Flüchtlinge 1948-1998. Eine orale Überlieferung“ (arab.), Nablus (Palästinensisches Institut für Kulturaustausch) 1998. 9 Mahmoud Darwisch, „Palästina als Metapher. Gespräche über Literatur und Politik“, aus d. Franz. v. Michael Schiffmann, Heidelberg (Palmyra) 1998.

Le Monde diplomatique vom 11.12.1998, von ALAIN GRESH