11.12.1998

Das andere Indonesien

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Das andere Indonesien

Von IGNACIO RAMONET

DAS Bild von Indonesien ist uns allen ein vertrauter Topos: ein Garten Eden, ein „Paradies am Äquator“, das heute in den Reiseprospekten mit denselben Worten gepriesen wird wie früher in der Kolonialliteratur: Der Malaiische Archipel, die „Gewürzinseln“, das „mythische Land des Pfeffers, der Nelken und der Muskatnuß“. Sumatra, Borneo, Java, Bali, Celebes, die Molukken, die Inseln der Sonde. Namen, die zum Reisen animieren, zur Flucht aus dem Alltag, zu Exotik und Sinnlichkeit.

Doch hinter diesem berückenden Erscheinungsbild verbirgt sich in Indonesien eine extreme Gewalt, deren Ursprung vermutlich auf 330 Jahre unbarmherziger niederländischer Besatzung zurückgeht, mit Massakern, Verschleppungen und blutig niedergeschlagenen Revolten. Es war eine despotische Kolonialordnung, die nach der harten japanischen Besatzung und dem Ende des Zweiten Weltkriegs wie ein Kartenhaus zusammenfiel.

Im Dezember 1949 wurde die Unabhängigkeit proklamiert. 1955 war Präsident Ahmed Sukarno Gastgeber der afro-asiatischen Konferenz in Bandung, die ihn für die Weltöffentlichkeit zum Vorreiter des Antikolonialismus machte – noch vor dem Ägypter Nasser, dem Inder Nehru und dem Chinesen Tschu Enlai. Aus dieser Konferenz ging die Bewegung der Blockfreien hervor, ein Zusammenschluß von Dritte-Welt-Ländern, die sich während des Kalten Krieges weigerten, sich auf die Seite einer der beiden Supermächte zu schlagen.

An Sukarnos Regierung war die mächtige Indonesische Kommunistische Partei (PKI) beteiligt, die damals 18 Millionen Anhänger hatte. Das konnte bei den Vereinigten Staaten, die gerade entschlossen in den Vietnamkrieg hineinsteuerten, nur Mißfallen auslösen, und auch in den indonesischen Kasernen wurde Unmut geäußert. Jeder spürte, daß 1965 das „Jahr aller Gefahren“ sein würde, wie es später der Filmemacher Peter Weir nennen sollte. Im Oktober 1995 kam es zur Explosion, als die Armee die Kommunisten beschuldigte, einen Staatsstreich zu organisieren.

General Suharto befehligte die Repression, die das Land mit Morden überzog. Unter dem Beifall der Militärs machten aufgehetzte Massen über Monate Jagd auf die Kommunisten der PKI. „Man schlägt sie tot oder trennt ihnen die Kehle durch. Man wirft sie in den Fluß oder begräbt sie in einem Massengrab, das sie selber ausheben mußten.“1 500000 Menschen wurden so im Schnellverfahren umgebracht. Die Armee liquidierte die Parteiführer und deportierte mehr als 2 Millionen Kommunisten in abgelegene Straflager.

Dieses schreckliche Massaker war das Fundament, auf dem General Suharto ab 1966 seine „neue Ordnung“ aufbaute, eine unerbittliche, klientelistische und korrupte Diktatur, die von den USA und dem Westen begrüßt und von Beginn an finanziell unterstützt wurde.

Indonesien ist schließlich von außerordentlicher strategischer Bedeutung. Mit seinen 202 Millionen Einwohnern ist es nach China, Indien und den Vereinigten Staaten bevölkerungsmäßig das viertgrößte Land der Erde – und das Land mit der größten Anzahl an Muslimen. Die indonesischen Hoheitsgewässer erstrecken sich über 5,4 Millionen Quadratkilometer (die doppelte Fläche des Mittelmeeres); sie umfassen auch die Hauptwasserstraßen zwischen dem Pazifischen und dem Indischen Ozean, die zu den meistbefahrenen der Welt gehören. Darüber hinaus ist Indonesien ein bedeutender Produzent von Erdöl und Erdgas.

WÄHREND der vergangenen dreißig Jahre betrug das Wirtschaftswachstum dank der westlichen Hilfe jährlich 6 Prozent. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg um das Dreizehnfache, der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsschwelle leben, ist von 60 auf 13,5 Prozent gesunken. Die Lebenserwartung beträgt heute 63 Jahre gegenüber 41 Jahren 1960. Der Wert der Exporte ist um das Vierunddreißigfache gestiegen. Nicht umsonst spricht man vom „indonesischen Wunder“. Der Archipel zählte zur Gruppe der „neuen asiatischen Tiger“ und träumte davon, zu den „vier Drachen“ Süd-Korea, Taiwan, Hongkong und Singapur aufzuschließen. Dieser Aufschwung des Landes ist jedoch mit einem Raubbau an den Rohstoffen und einer Zerstörung der Umwelt erkauft. Und er kommt vor allem den Privilegierten des Regimes zugute, allen voran der Familie Suharto, deren Besitz auf 40 Milliarden Dollar geschätzt wird.

Während sich das „Wunder“ vollzog, ging die Gewalt weiter: in den Städten Javas, wo Tausende Kleinkrimineller von „Todesschwadronen“ umgebracht wurden, die sich aus dem Militär rekrutierten, aber auch in Irian Jaya (westliches Neuguinea), wo weiterhin Metzeleien, Verhaftungen und Folter an der Tagesordnung sind. Oder auch in Ost- Timor, der ehemaligen portugiesischen Kolonie, die 1975 militärisch erobert und nur um den Preis eines der blutigsten und mörderischsten Kriege dieses Jahrhunderts unter indonesischer Kontrolle gehalten wurde: etwa 200000 Toten hat dieser Krieg gefordert, ein Viertel der Bevölkerung.

Als im Juli 1997 die Krise einsetzte, stürzte das Gebäude der indonesischen Wirtschaft schneller zusammen als anderswo. Und mit gewaltsameren Folgen, die den Diktator mitrissen. Nachdem die Militärs die Aufstände niedergeschlagen hatten, was 2000 Menschen das Leben kostete, dankte General Suharto am 21. Mai 1998 ab. Die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsschwelle leben, liegt heute bei 80 Millionen, das sind dreimal mehr als vor einem Jahr und entspricht 40 Prozent der Bevölkerung.

Der Nachfolger des Diktators, Jusuf Habibie, wird vermutlich auch hinweggefegt werden, wie einst Marcelo Caetano als Nachfolger von Salazar in Portugal, oder Ramis Alia als Nachfolger von Enver Hodscha in Albanien. Vor unseren Augen geht endlich eines der finstersten Regime unserer Zeit unter. Und es ist zu hoffen, daß sich auch General Suharto für seine Verbrechen vor einem internationalen Strafgerichtshof verantworten muß, wie es die Studenten fordern.

Indonesien braucht uns heute wieder.2 Die Bürger, die dafür kämpfen, daß die Demokratie wieder eingeführt wird und ihr Land endlich der Autokratie entkommt, verdienen unsere uneingeschränkte Solidarität.

Fußnoten: 1 Le Monde, 9. Juni 1998. 2 Siehe den berühmten antikolonialistischen Dokumentarfilm von Joris Ivens „L'Indonésie appelle“ (1946).

Le Monde diplomatique vom 11.12.1998, von IGNACIO RAMONET