11.12.1998

Georgien und seine vielen Abchasien

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Georgien und seine vielen Abchasien

Von VICKEN CHETERIAN *

DER Überfall geschah in der Nacht des 9. Februar 1998. Am Kura-Ufer in der Altstadt von Tiflis eröffneten die Attentäter mit Maschinenpistolen und Granatwerfern das Feuer auf Eduard Schewardnadse. Daß der georgische Präsident und frühere Außenminister der UdSSR mit leichten Verletzungen davonkam, verdankte er seinem gepanzerten Mercedes – einem Geschenk der deutschen Regierung. Die georgischen Politiker beschuldigten hinter vorgehaltener Hand sofort die Russen. Auch Eduard Schewardnadse selbst beschuldigte Kräfte, „die uns Afghanistan, die Berliner Mauer, die Befreiung Europas, die Pipelines und den eurasischen Verkehrskorridor nicht verzeihen“1 . Das Parlament beschloß, die russischen Militärbasen zu blockieren, insbesondere die von Wasjani, die nur 30 Kilometer von Tiflis entfernt liegt, um zu verhindern, daß die Attentäter aus Georgien entkommen.

Auch die internationalen Medien übernahmen die Hypothese eines russischen Komplotts. Dagegen sprechen nur einige Fakten: die georgische Polizei verhaftete zahlreiche „Swiadisten“ (Anhänger des früheren Präsidenten Swiad Gamsachurdia); einzig die Gruppe um den tschetschenischen Rebellenführer Salman Radujew bekannte sich zu dem Attentat; und ein FBI-Team befand nach einer Untersuchung vor Ort, der Anschlag sei von Anfängern ausgeführt worden. Das hinderte das Wall Street Journal allerdings nicht, einen Zusammenhang zwischen dem Attentat von Tiflis und dem Rücktritt des armenischen Präsidenten herzustellen und zu behaupten, Moskaus Absicht, die Pipeline-Projekte zu sabotieren, könnte den Krieg in Berg-Karabach neu entfachen.2

Die Ereignisse haben diese konstruierte These allerdings bald dementiert. Am 19. Februar entführte in Westgeorgien eine bewaffnete Gruppe mehrere Geiseln, darunter auch vier UN-Militärbeobachter, und verlangte die Freilassung von sieben „Swiadisten“, die man im Zusammenhang mit dem Attentat auf den Staatschef verhaftet hatte. Der Anführer des Kommandos, Goscha Estebua, wurde von der Polizei erschossen, nachdem er sich mit den Behörden geeinigt und die Geiseln freigelassen hatte; fünf weitere Personen wurden während seiner Beisetzung ermordet.

Am 26. April geriet Eduard Schewardnadse in Harnisch, als nach Abschluß seines Besuchs in der Türkei, wo er mit türkischen und aserbaidschanischen Regierungsvertretern über Erdölförderung und Pipeline-Projekte konferiert hatte, die beiden georgischen Jagdbomber nicht bereitstanden, die seine Maschine auf dem Heimflug eskortieren sollten: Sie standen auf einer russischen Basis, mit Sand im Getriebe. Wieder schrieben einheimische wie internationale Medien die Verantwortung dafür den Russen zu3 ; der Präsident entließ Verteidigungsminister Wardiko Nadibaidse, der als prorussisch galt, und machte David Tewsadse zum Nachfolger, einen Veteranen des Abchasien-Kriegs, der gerade eine Ausbildung in den USA abgeschlossen hatte.

An diesen Vorfällen läßt sich der Kurswechsel ablesen, den man in Tiflis vorgenommen hat. Nachdem Georgien sich jahrelang um russische Protektion bemüht hat, ist man mittlerweile überzeugt, daß Rußland außerstande ist, die beiden wichtigsten Sicherheitsprobleme der Kaukasusrepublik zu lösen: die Aufstellung einer Armee und die Gewährleistung der territorialen Integrität seiner Regionen. Aber Eduard Schewardnadse täuscht sich, wenn er hofft, die Nato könnte Moskau ersetzen. Im übrigen hat der Druck von georgischer Seite lediglich dazu geführt, daß die russischen Soldaten begonnen haben, sich von dem Abschnitt der Außengrenze der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS) zurückzuziehen, an dem Georgien an die Türkei stößt.4

Der vergessene Krieg in Abchasien

IM Frühling verschärfte sich erneut die Situation in Abchasien. Die Weiße Legion, die „Brüder des Waldes“ und andere georgische Freischärlertruppen verstärkten ihre Angriffe gegen die abchasische Armee, die schließlich die Kontrolle über den Grenzdistrikt Gali verlor. Hinter vorgehaltener Hand hieß es in Tiflis gar, Gali hätte am 26. Mai, dem Unabhängigkeitstag Georgiens, erobert werden sollen. Am 18. Mai kamen bei einem Guerillaangriff siebzehn abchasische Soldaten ums Leben. Im Verlauf des nun folgenden „Sechstagekriegs“ verstärkten sich die abchasischen Truppen aus dem Norden und vernichteten die georgischen Guerillakämpfer, denen keine regulären Truppen zu Hilfe kamen, weil Präsident Schewardnadse ihre Entsendung verweigert hatte. So kam es, daß wie schon 1993 dreißig- bis vierzigtausend Menschen, die meisten von ihnen Mingrelier, aus dem Distrikt Gali, ins georgische Kernland flohen. Nach den militärischen Auseinandersetzungen von 1992/93 hatten sich die Abchasier bereit erklärt, die Mingrelier, die zur Ethnie des 1992 gestürzten ehemaligen georgischen Präsidenten Gamsachurdia gehören, wieder in ihre Heimat zurückkehren zu lassen, nicht aber die Georgier, die aus anderen Regionen der Autonomen Republik stammen. 1998 jedoch brannten die Abchasier eintausend Häuser nieder, um ihnen jede Hoffnung auf eine erneute Rückkehr zu nehmen. Damit hat Schewardnadse zum zweiten Mal einen Krieg in Abchasien verloren, auch wenn es dieses Mal ein nicht deklarierter war.

Gehen diese Konflikte auf eine russische Provokation zurück? Gibt es Verbindungen zwischen dem Attentatsversuch auf Präsident Schewardnadse und den Ereignissen im Grenzdistrikt Gali? Laut Schewardnadse und Tewsadse war die georgische Armee zu einem weiteren Krieg nicht in der Lage. Es gibt allerdings eine andere Erklärung: Die Guerilla, die aus Mingreliern besteht, soll von georgischen Geheimdienstlern ausgebildet worden sein, um abchasische Ziele anzugreifen.5 Doch dann soll Tiflis die Kontrolle über die Freischärler verloren haben, aus deren Reihen sich auch das Kommando rekrutierte, das den Anschlag auf Schewardnadse durchführte. Ein weiteres Ereignis unterstreicht, wie instabil die Lage in Westgeorgien ist. Am 19. Oktober rebellierten etwa zweihundert Soldaten, brachten rund ein Dutzend Panzer in ihre Gewalt und rückten auf Kutaissi vor, die zweitgrößte Stadt des Landes. Am folgenden Tag wurde die Rebellion niedergeschlagen, ihr Anführer Akaki Eliawa ergriff die Flucht.

Für Schewardnadse stellt sich damit wieder das Problem der Mingrelier, die sich als ewige Verlierer fühlen: Sie haben Gamsachurdia – einen der Ihren – unterstützt, doch der wurde gestürzt; sie mußten einen hohen Preis für die Niederlage im Abchasien- Krieg bezahlen, und jetzt werden sie von den Georgiern in einem nicht deklarierten Krieg verheizt.

Doch Georgien hat noch mehr Probleme mit seinen Regionen. Die Beziehungen zur Autonomen Republik Adscharien sind unverändert gespannt. Deren Landesfürst, Präsident Aslan Abaschidse, wirft Tiflis vor, hinter dem Attentat zu stecken, das im vergangenen Sommer gegen ihn verübt wurde.6 Tatsächlich vermochte Abaschidse sich ein Maß von Unabhängigkeit zu bewahren, das die Staatsführung in Tiflis beunruhigt; insbesondere unterhält er mit dem Nachbarstaat Türkei wie auch mit der russischen Militärbasis in der regionalen Hauptstadt Batumi eigenständige Beziehungen. Zur Strafe versucht Tiflis, Batumi bei den wichtigsten Transportprojekten zu umgehen, um auf diese Weise die ökonomische Grundlage der adscharischen Autonomie zu untergraben. Die von Baku zum Schwarzen Meer führende Pipeline endet in Supsa, und die Eisenbahnlinie Richtung Türkei soll über Wale gehen, beide Verbindungen verlaufen also durch Regionen unter Kontrolle der Zentralregierung in Tiflis. Abaschidses Reaktion besteht darin, den Schewardnadse-Gegnern in Batumi freie Hand zu lassen.

Am 13. August kam es auch im Süden des Landes zu Spannungen. Bewaffnete Armenier stoppten Armee-Einheiten auf dem Weg nach Achalkalaki. Dieser Zwischenfall ist Öl aufs Feuer der alten Auseinandersetzungen zwischen Tiflis und den armenisch besiedelten südgeorgischen Regionen und gibt den lokalen Autonomieforderungen neuen Auftrieb: „Unser Hauptziel ist die Autonomie der Region von Achalkalaki“, erklärt Jerwand Scherinian, einer der Anführer der „Bewegung des Armenischen Volkes“, fügt aber hinzu: „Wir haben nicht die Absicht, uns mit Armenien zu vereinigen.“7 Diese Armenier sind verbittert über eine Verwaltungsreform, die ihr Gebiet einer anderen Region angegliedert hat, um die ethnische Prägung von Schawachetien zu schwächen.

Seit mehreren Jahren bereits äußern georgische Politiker und Medien die Befürchtung, in Schawachetien könnten sich politische Bewegungen herausbilden, die aus der Region ein zweites Abchasien machen – und einen Konflikt zwischen Tiflis und Jerewan heraufbeschwören, was beide Regierungen sorgfältig zu vermeiden trachten. „Das Problem Schawachetien ist ein Problem der ökonomischen Unterentwicklung. Aber was kann das arme Georgien dagegen tun? Wir sind nicht in der Lage, in Südossetien zu investieren, wo man dies dringend von uns erwartet“, erklärt Alexander Rondelli, Professor für internationale Beziehungen an der Universität von Tiflis. Wie in Batumi, so gibt es auch in Achalkalaki eine russische Militärbasis, deren Truppe von 3000 Mann sich zur Hälfte aus der lokalen armenischen Bevölkerung rekrutiert.

Der Staat hat nichts mehr zu verschenken

IN Tiflis heißt es, Rußland nutze seine militärische Präsenz, um auf die georgische Führung Druck auszuüben. Die Moskauer Version dagegen lautet ganz anders: „Den alten Löwen der Nomenklatura wie Schewardnadse und Gaidar Alijew ist es auch deshalb gelungen, ihre Machtpositionen wiederzuerlangen, weil sie von meinem Land gestützt wurden“, erläutert Jewgenij Koschokin, Direktor des Instituts für strategische Studien Rußlands. „Sie haben Moskau benutzt, nicht umgekehrt.“

Verzichtet der Kreml mitten in der Krise auf seinen letzten Trumpf im Kaukasus und in Mittelasien – seine militärische Präsenz? Was würde in diesem Fall aus Regionen wie Abchasien, Adscharien und Schawachetien, in denen diese Militärbasen liegen? Bislang zeigt der Westen wenig Interesse an Friedensmissionen im Kaukasus und überläßt es lieber einer demoralisierten und korrumpierten russischen Armee, die regionale Stabilität zu erhalten. Dem Kreml paßten die regionalen Konflikte zwar zunächst ins Konzept, insbesondere, um Georgien und Abchasien zu zwingen, der GUS beizutreten. Aber in Moskau weiß man durchaus, daß diese Konflikte auf lange Sicht den russischen Interessen zuwiderlaufen. Derzeit führt die instabile Lage in Abchasien und in Tschetschenien zur Blockierung der beiden Eisenbahnlinien in Richtung südlicher Kaukasus, was sich zugunsten der westlichen Pläne auswirkt, neue Ost-West-Verbindungswege zu bauen.

Das größte Problem Georgiens sind freilich seine inneren Widersprüche. In diesem Gebirgsland leben viele ethnische Gruppen; selbst das Mehrheitsvolk der Georgier besteht aus Kartweliern, Mingreliern, Swanen und Adscharen. Die Strategie, mit Waffengewalt ein zentralisiertes Georgien zu schaffen, ist gescheitert. Die sinkenden Gewinne der Staatsbetriebe schränken die Möglichkeit ein, durch gezielte Investitionen zu einer regionalen Integration beizutragen: Der Staat hat nichts mehr zu verschenken, und von der neuen Wirtschaftsform profitieren nur wenige Georgier. Das verstärkt zum einen die regionalistischen Versuchungen und zum anderen die Neigung, Oppositionsbewegungen gewaltsam zu unterdrücken. Seit der Unabhängigkeit hat die Machtelite kaum etwas zur Stärkung der Legitimität ihrer Herrschaft getan; sie könnte versucht sein, dramatische Ereignisse auszunutzen, um ihre Popularität zu steigern oder gar die Opposition zum Schweigen zu bringen.

dt. Eveline Passet

* Journalist, Genf.

Fußnoten: 1 Radio Free Europe/Radio Liberty, Prag, 16. Februar 1998. Bzgl. des eurasischen Verkehrskorridors siehe Jean Radvanyi, „Die neue Seidenstraße führt an Rußland vorbei“, Le Monde diplomatique, Juni 1998. Vgl. auch Vicken Cheterian, „Kaukasische Pipelinenetze und politische Knotenpunkte“, Le Monde diplomatique, Oktober 1997. 2 Wall Street Journal, Internet-Ausgabe, 19. Februar 1998. 3 New York Times, New York, 3. Mai 1998. 4 Segodnija, Moskau, 2. Juli 1998. 5 Siehe Dodge Billingsley, „Truth Means nothing in Western Georgia“, Jane's Intelligence Review, London, Juni 1998; und Bessik Kurtanidze, „Guerillas Keep on Fighting“, The Army and Society in Georgia, Tiflis, Juni 1998. 6 Reuters, 22. Juni 1998. Über die Situation in Adscharien siehe Jean Radvanyi, „La liberté adjare inquiète la Georgie“, Manière de voir, Februar 1997. 7 Nojan Tapan, Jerewan, 24. August 1998.

Le Monde diplomatique vom 11.12.1998, von VICKEN CHETERIAN