11.12.1998

Venezuela für Chavez und gegen Korruption

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Venezuela für Chavez und gegen Korruption

DER weltweite Verfall der Erdölpreise und die Auswirkungen der derzeitigen Erschütterungen in der Finanzwelt haben Venezuela mit voller Wucht getroffen. Die Präsidentschaftswahlen vom 6. Dezember fielen also in eine schwierige Phase. Während sich die beiden Parteien Copei und Acción Democrática, die das politische Leben des Landes seit 1958 beherrschen, in einer Krise befinden, siegte der Überraschungskandidat, der die weitverbreitete Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen ausbeuten knnte. Der linke Caudillo Hugo Chavez, der 1992 schon einmal als Armeeoberst hinter einem Putschversuch gestanden hatte, ist ein radikaler Kritiker der weitverbreiteten Korruption, er prangert die fortbestehende soziale Ungleichheit an und polemisiert gegen die wirtschaftliche Globalisierung und die Diktatur der Finanzmärkte.

Von ARTURO USLAR PIETRI *

Der Staat ist reich und die Bevölkerung arm. So läßt sich in knappen Worten das wichtigste Paradoxon der venezolanischen Gesellschaft zusammenfassen: die Kluft zwischen staatlichem Überfluß und der verzweifelten Not ihrer Bürger.

Die 22 Millionen Einwohner leben höchst ungleich verteilt auf einem Staatsgebiet von ca. einer Million Quadratkilometern (etwa das Dreifache des deutschen Territoriums); sie konzentrieren sich vor allem in einigen städtischen Ballungsräumen. Viele Venezolaner haben ihren Heimatort verlassen und drängen sich nun in den ranchos, improvisierten Vierteln aus Baracken mit Blech- oder Pappdächern, die sich als breite Elendsgürtel über Hügel und tief eingeschnittene Täler hinziehen.

Caracas ist die einzige Stadt der Welt, wo die marginalisierte rancho-Bevölkerung 60 Prozent der Einwohnerzahl ausmacht und damit die Einwohnerzahl der eigentlichen Stadt übersteigt. Unentbehrliche städtische Dienstleistungen wie ein anständiges Straßennetz, öffentliche Verkehrsmittel, Schulen, Müllabfuhr, Wasser- und Abwassersysteme, Krankenstationen, Stromversorgung usw. sind nur in wenigen der Elendsviertel vorhanden, in denen auch keinerlei rechtliche Ordnung herrscht. Kriminalität ist weitverbreitet, und die Quote an Gewalttaten gehört zu den höchsten in der ganzen Welt.1

Das Erdöl hat dem Staat zwischen 1976 und 1995 etwa 270 Milliarden Dollar eingebracht. Zum Vergleich: Der Marshallplan, der nach dem Zweiten Weltkrieg den Wiederaufbau Westeuropas ermöglicht hat, umfaßte insgesamt Hilfsgelder von knapp 13 Milliarden Dollar. Venezuela hat also durch Erdöleinnahmen eine Gesamtsumme erwirtschaftet, die zwanzig Marshallplänen entspricht. Die Riesensummen wurden dienten freilich nicht dazu, das Land mit einer minimalen Infrastruktur auszustatten oder die skandalöse soziale Ungleichheit zu verringern.

Während die Nutznießer des Geldregens aus dem Ölgeschäft jedes Jahr etwa 100 Milliarden Dollar illegal aus dem Land schaffen, leben über 71 Prozent der Venezolaner nach wie vor in Armut. 21 Prozent der aktiven Bevölkerung sind arbeitslos, 48 Prozent überleben nur dank des informellen Wirtschaftssektors, und rund 2 Millionen Kinder, von denen 200000 sich nur mit Betteln durchbringen, leben in tiefster Armut.

Durch einen historischen Zufall hielt Venezuela nach seiner Unabhängigkeit 1811 an den Bergbaugesetzen der Kolonialzeit fest, denen zufolge alle Bodenschätze der Krone gehörten. Der Staat ist also Eigentümer aller Bodenschätze und bezieht direkt, über verschiedene Steuern und Abgaben, den größten Anteil an den Einnahmen aus der Ölförderung. Am deutlichsten wurde diese Situation im Jahr 1976, in der Amtszeit des Sozialdemokraten Carlos Andrés Perez, nach dem Anstieg der Ölpreise auf dem Weltmarkt. Perez verstaatlichte die Förderunternehmen und bildete ein Monopol zur Förderung und Vermarktung von Erdöl, die Petróleos de Venezuela Sociedad Anónima (PDVSA), die mit 3,1 Millionen Barrel täglicher Fördermenge zum zweitgrößten Produzenten der Welt wurde.

Anders als in anderen Ländern mit ähnlichen Ausgangsbedingungen (zum Beispiel Norwegen) hat der Staat sich nicht darum geschert, diesen Geldsegen in die Industrialisierung des Landes zu investieren, die Entwicklung voranzutreiben und wirtschaftlichen Aufschwung zu fördern. Hingegen erkaufte er sich, wie andere Ölstaaten auch (zum Beispiel Algerien), durch eine Art Versorgungsökonomie die Passivität der Bürger, indem er ihnen ein Mindesteinkommen garantiert. Proportional zum Reichtum des Staates wuchs also auch die Abhängigkeit der Bevölkerung von den öffentlichen Ausgaben.

Die Regierungen, die von populistischen Parteien gestellt werden – dem derzeit regierenden christdemokratischen Comité de Organización Politica Electoral Independiente (Copei) oder der eher sozialistisch orientierten sozialdemokratischen Acción Democrática (AD) –, haben seit dem Sturz der Diktatur von Marcos Perez Jimenez im Jahr 1957 Staat und Gesellschaft dominiert. Den immensen Erdölreichtum haben sie nur genutzt, um das Land mit Hilfe eines Systems von Subventionen, Steuererleichterungen und Privilegien zu korrumpieren.

Riesige Summen wurden für größenwahnsinnige und unnütze Projekte vergeudet. Aber darüberhinaus haben sie auch noch enorme Schulden bei ausländischen Banken gemacht: Die Außenstände belaufen sich inzwischen auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (dieses betrug 1997 59 Milliarden Dollar, bei Auslandsschulden von 37 Milliarden).

Trotz der jüngsten Privatisierungen kontrolliert der Staat die Eisen- und Stahl- wie auch die Aluminiumindustrie, die Sektoren Stromerzeugung, Erdöl und Erdgas sowie zahlreiche gewerbliche und landwirtschaftliche Bereiche, womit die venezolanische Volkswirtschaft weltweit immer noch über einen der größten staatlichen Sektoren verfügt. Und all dies, ohne daß der Bevölkerung irgendein handfester Nutzen erwachsen oder irgendeine Form von allgemeiner Lebensqualität zugute kommen würde.

Venezuela hätte sich aufgrund seines Erdölreichtums der Herausforderung stellen müssen, ein modernes, blühendes und mächtiges Staatswesen aufzubauen und in diesem Sinne vorrangig das Bildungs- und Gesundheitswesen zu entwickeln und einen effektiven öffentlichen Dienstleistungssektor aufzubauen. Die Chefs der regierenden Parteien haben es jedoch vermieden, die erforderlichen weitreichenden Reformen in Angriff zu nehmen, da sie von ihrer interventionistischen Haltung nicht ablassen wollten und vor allem ihre eigene Bereicherung im Auge hatten. Selten wurde ein derart reiches Land so gründlich und nachhaltig von ein paar hundert Familien geschröpft, die schon seit Jahrzehnten und über alle politischen Veränderungen hinweg seine sagenhaften Reichtümer unter sich aufteilen.

Wenn der Eldorado-Mythos irgendwo seiner twortwörtlichen Bedeutung nahegekommen ist, dann auf dem Territorium von Venezuela. Die aberwitzigsten Expeditionen machten sich seit Beginn des 16. Jahrhunderts und vor allem unter der Herrschaft Karls des Fünften auf die Suche nach dem sagenhaften Eldorado. Im Goldfieber durchstreiften Abenteurer Ebenen und Gebirge, erforschten die Flüsse und den Urwald. Alles vergebens. Was davon blieb, war nur der verblüffende Gegensatz zwischen einer Ansammlung von armen Kolonialprovinzen und dem Mythos ihrer legendären Reichtümer.

Bedeutsam ist allerdings auch die herausragende Rolle, die Venezuela im Kampf um die Befreiung Südamerikas gespielt hat. In diesem kleinen Land entstand die mächtige Vision einer einzigen großen, lateinamerikanischen Nation, die zu Ehren von Christoph Kolumbus den Namen Kolumbien tragen sollte: Von hier kamen die meisten Ideologen und Militärführer, welche die Fahnen der Freiheit nach Süden bis zum Rio de la Plata trugen.

Für diese so wichtige Rolle in den Unabhängigkeitskriegen mußte Venezuela einen ungemein hohen Preis bezahlen. Nachdem der Kontinent 1821 seine endgültige Loslösung von Spanien erreicht hatte, folgte eine Periode, in der extreme Armut und caudillismo keinerlei realen Fortschritt im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben erlaubten. Es war die Periode, in der sich autoritäre caudillos wie José Antonio Páez, Antonio Guzmán Blanco und Juan Vicente Gómez durchsetzten und die entstandenen Einzelstaaten konsolidierten.

In dieser archaischen, armen und autokratischen Welt begann dann 1922 der märchenhafte Erdölsegen zu sprudeln, der das Land zum Guten wie zum Schlechten verändern sollte.

Das schwarze Gold bewirkte eine grundlegende Veränderung. Die negativen Wirkungen machen sich im Wahlsystem wie auf der Ebene des Rechtsstaats bemerkbar. Niemals stand, wie es das Wesen der Demokratie erfordert, einer Regierungspartei eine eindeutige Opposition von einer oder mehreren Parteien gegenüber, die tatsächlich andere politische Optionen repräsentiert hätten.

Der 1993 gewählte Staatspräsident Rafael Caldera, zugleich Gründer der Copei, versuchte zunächst durchaus mutig, sich von der neoliberalen Politik abzusetzen. Er war fest entschlossen, sich nicht dem Internationalen Währungsfonds zu beugen, und ernannte Teodoro Petkoff, einen ehemaligen Guerillero der sechziger Jahre und Gründer der linksextremen Partei Movimiento al Socialismo (MAS), zum Minister für Wirtschaftsplanung. Seine heterodoxe Politik wurde von den internationalen Finanzinstitutionen und von Washington bekämpft (Die USA sind Hauptabnehmer des Erdöls aus Venezuela). Ab 1996 wurde Caldera zum Einlenken gezwungen. Er leitete Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds ein und akzeptierte einen strengen Strukturanpassungsplan, der von Petkoff, der mittlerweile auf die Marktwirtschaft umgeschwenkt ist, gesteuert wird.2 Dies führte zu einer drastischen Verteuerung des Benzinpreises, zur Freigabe der Zinssätze, der Abwertung der nationalen Währung, des Bolivar, zur Privatisierung zahlreicher Staatsunternehmen und – eine Entscheidung mit historischer Tragweite – zur Genehmigung von Erdölexplorationen durch ausländische Unternehmen.

Die Not der Bevölkerung wird durch diese neue Politik kaum gemindert. Die Menschen mißtrauen inzwischen den Parteien an der Macht, vor allem der Copei, aber auch den Sozialdemokraten von der AD, die aus den letzten Kommunalwahlen im Dezember 1995 siegreich hervorgegangen sind und in nahezu allen großen Städten regieren.

So ist es wohl kein Zufall, wenn sich gegen diese durch die Realität verschlissenen Kandidaten der Oberst Hugo Chavez durchesetzt hat: ein „bolivaristischer“ Offizier, der am 4. Februar 1994 an der Spitze von elf Kampfbataillonen und mit unterstützt durch linke Studenten der Universität von Valencia einen Aufstand versuchte, um Carlos Andrés Perez zu stürzen und die Korruption zu beenden.3 Die Menschen haben genung von den ewigen Versprechen, die nicht gehalten werden, von der sozialen Gleichgültigkeit und von der Komplizenschaft zwischen den beiden herrschenden Parteien.

Copei und AD unterscheiden sich nur in winzigen ideologischen Nuancen und haben ein System faktischer Koalitionen und wechselseitiger Zusammenarbeit entwickelt, so daß auch die Partei, die in Wahlen verliert, einen Großteil ihrer Privilegien behält. Dabei wurden feste Machtquoten vereinbart, nach denen die Nomenklatura der beiden großen Parteien auch die Posten im judikativen Bereich unter sich aufteilt, was die Unabhängigkeit der Justiz beseitigt hat.

Die beiden herrschenden Parteien waren verbraucht und haben nicht den Mut gefunden, eine Situation zu ändern, von der sie selbst sattsam profitierten. Weil sie dies nicht getan und auch die grundlegenden Reformen versäumt haben, derer das Land dringend bedarf, haben sich die Bürger nun mehrheitlich von ihnen abgewendet. Sie wollen drastischeren Lösungen, um der „politica de compadres“, der Vettern-Politik, ein Ende zu setzen. Bei den Parlaments- und Regionalwahlen am 8. November, die sich durch hohe Wahlenthaltung auszeichneten, wurde das „Movimiento V. República“ (Bewegung 5. Republik – MVR) mit 19,84 Prozent zweitstärkste Partei, hinter der AD (24,16 Prozent). Aber der „Polo Patriótico“, in dem der MVR und zahlreiche unabhängige Parteien zusammengeschlossen sind, hält mittlerweile im Kongreß die Mehrheit. Mit der Wahl von Chavez vollendet sich nun der politische Zyklus von vierzig Jahren, der durch Korruption, politischer Verwahrlosung und Verschwendung gekennzeichnet war.

dt. Miriam Lang

* Arturo Uslar Pietri, Jahrgang 1906, gilt als einer der großen spanischsprachigen Schriftsteller. Auf deutsch von ihm erschienen ist „Rauch über El Dorado“, aus d. Span v. Maria Bamberg, Stuttgart (Europäischer Buchclub) 1967. Als Journalist leitete er El Nacional, die große Tageszeitung von Caracas. Seit 1946 veröffentlichte er darin eine berühmte Chronik, deren Redaktion er vor einigen Monaten aufgrund seiner altersbedingten Augenprobleme definitiv eingestellt hat.

Fußnoten: 1 Ignacio Ramonet, „Venezuela zwischen Gangstertum und Populismus“, Le Monde diplomatique, Juli 1995. 2 Denjenigen, die gegen diesen Kurswechsel protestieren, erwidert Petkoff, es handele sich nicht um einen neoliberalen Plan, sondern um ein „Vernunftprogramm“. (Le Monde vom 4. Mai 1996). 3 Carlos Andrés Perez wurde 1993 abgesetzt. Er wurde zunächst aufgrund seiner hohen Alters von 73 Jahren unter Hausarrest gestellt und am 30. Mai 1994 wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder zu 26 Monaten Hausarrest verurteilt.

Le Monde diplomatique vom 11.12.1998, von ARTURO USLAR PIETRI