Viel alter Wein und viele neue Schläuche
Von DANIEL BENSAÏD *
DER Wind dreht sich. Das Lieblingsprojekt von Alain Minc, die „seligmachende Globalisierung“, gerät ins Stocken. Die rasante Ausweitung der internationalen Finanzkrise und der Wahlsieg von Gerhard Schröder verleiten manch einen dazu, die frohe Botschaft vom Ende des wirtschaftsliberalen Winters und vom Beginn des sozialdemokratischen Frühlings zu verkünden: Der „Neo“-Sozialismus sei angebrochen, generalüberholt und runderneuert, neokeynesianisch und arbeiterfreundlich.
Allerdings ist neuerdings mehr von „third way“ (“dritter Weg“) und „Neuer Mitte“ als von einer neuen Linken die Rede. Auf dem New-Labour-Parteitag Ende September in Blackpool hat Anthony Blair freudestrahlend verkündet, er habe aus seiner Partei eine „pro-business and pro-enterprise party“, eine industrie- und unternehmerfreundliche Partei gemacht.1 Als sich die sozialdemokratischen Spitzenpolitiker am 21. September 1998 in New York zu einer Internationalen der linken Mitte zusammenfanden, stimmte Tony Blair ein Loblied auf die „radikale Mitte“ an, Romano Prodi, damals noch italienischer Ministerpräsident, sprach vom „weltumspannenden Ölbaum“, und Bill Clinton freute sich, daß „der Dritte Weg überall auf der Welt auf dem Vormarsch ist“. Bei so viel siegesgewisser Modernität sahen Lionel Jospin und seine Regierung eher wie archaische Nachzügler aus.
Ein Blick hinter die Reden und Symbole zeigt, daß die Politik durchaus den erklärten Absichten entspricht. Der organische Intellektuelle des Blairismus, der Soziologe Anthony Giddens, erklärt im Blaubuch der neuen Ideologie: „Der Begriff der linken Mitte wurde nicht ohne Bedacht gewählt. Eine erneuerte Sozialdemokratie muß die Linke der Mitte bilden, wobei die Mitte keineswegs etwas Inhaltsloses ist.“2 Und dann folgt ein Programmm des „dritten Wegs“, das uns kühne Begriffe offeriert: die „radikale Mitte“, ein neuer „demokratischer Staat ohne Feinde“, eine aktive Zivilgesellschaft, ein „neues gemischtwirtschaftliches System“, eine neue „bürgernahe Demokratie“, einen „bürgerorientierten Liberalismus“, eine „kosmopolitische Nation“, mit einem Wort: viel alten Wein in vielen neuen Schläuchen. Eine deutsche Version des „dritten Wegs“ formulierte der ehemalige Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Bodo Hombach. Deutschland solle sich vom „Sozialstaat alten Typs“3 verabschieden, plädiert der neue Kanzleramtsminister in seinem kürzlich erschienenen Buch.
Gemeinsam ist all diesen Handlungsanleitungen für einen in die Mitte gerückten Sozialismus, daß sie sich von der alten Linken mit ihrer keynesianischen Nachfragesteuerung, ihrer Beschränkung der Rolle des Marktes, ihrem Gleichheitsideal, ihrer Vollbeschäftigungspolitik und ihrem Festhalten an einem homogenen Arbeitsmarkt endgültig verabschiedet haben. Sie fordern weniger Regierung und mehr „governance“, mehr entpolitisierte staatliche Regulierung. Sie befürworten einen neuen hedonistischen Individualismus und machen Front gegen das einende Prinzip der Solidargemeinschaft. Anthony Giddens etwa sagt klar, daß wir in einer Welt leben, in der „niemand mehr eine Alternative zum Kapitalismus hat“4 . Der künftige Handlungshorizont der neuen radikalen Mitte wäre damit auf die Aufgabe geschrumpft, unter dem wachsamen Auge der Finanzmärkte die Ertragslage zu sichern. Alles weitere ergibt sich dann von selbst.
Der „dritte Weg“ präsentiert sich als die langgesuchte legendäre Mitte zwischen allen Extremen, die ihre Rechtfertigung aus dem rituellen Verweis auf den „Naturzwang der Globalisierung“ bezieht. Die Ideologen der Friedrich-Ebert-Stiftung stellen denn auch mit aller Entschiedenheit fest, die aus dem Neoliberalismus wieder aufgetauchte Sozialdemokratie werde „in keinem Fall das sein, was sie einmal war: Die klassischen Rezepte des Wohlfahrtssozialismus haben ausgedient.“5 Von Keynesianismus, ob alt oder „neo“, keine Spur.
In einem Essay, der in Großbritannien heftig diskutiert wurde, behauptet Donald Sassoon, die neuen sozialdemokratischen Parteien seien „the only left that is left“6 , die einzige Linke, die übriggeblieben ist. Die Aufgabe, dieser Perspektive eine andere, eine „linke Linke“ entgegenzusetzen, stellt sich vordringlicher denn je. Denn die Rhetorik von Sachzwang und Regulierung, von Resignation und freiwilliger Knechtschaft ist Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Orientierung und sozialen Praxis.
In der International Herald Tribune, nicht gerade ein Organ der kritischen Gesellschaftsbetrachtung, war über den Labour-Parteitag in Blackpool folgendes zu lesen: Das Straßenbild war nicht mehr wie früher von Bergarbeitern bestimmt, sondern von „Geschäftsleuten, Rechtsanwälten und Managementberatern, die meisten in dunkle Anzüge gekleidet und mit Mobiltelefonen bewaffnet“7 . In Blairs Regierung sitzt ein Lord Sainsbury, Besitzer einer Ladenkette und einer der reichsten Kapitalisten Großbritanniens. Lord Simon, Staatssekretär im Handelsministerium, war zuvor als Manager bei British Petroleum beschäftigt. Martin Taylor, vormals ein Topmanager der Barclays Bank, ist mit der Reform der Sozialversicherung betraut. Peter Davis, Manager bei der Versicherungsgesellschaft Prudencial, leitet den Ausschuß zur Reform des Wohlfahrtsstaates. Frankreichs sozialistischer Wirtschafts- und Finanzminister Dominique Strauss-Kahn ist Gründer des „Cercle de l'Industrie“, nach Darstellung des Wirtschaftsmagazins L'Expansion „die Lobby der Großunternehmer“8 . All das sorgt für enge Beziehungen und eine ganz besondere Art von Verbundenheit.
Die Einbindung der sozialdemokratischen Eliten in die höheren Ränge der Staatsverwaltung, die Chefetagen von Industrie und Finanzwelt und in das privatwirtschaftliche Milieu verdichtet sich im selben Maß, wie ihre Anbindung an die Welt der Arbeit sich lockert. Angesichts der Unentschiedenheit einer europäischen Protobourgeoisie, die noch zwischen den Polen ihrer jeweiligen nationalen Basis, ihrer transnationalen Beziehungen und ihrer europäischen Interessen hin- und herschwankt, hat die Sozialdemokratie systematisch die Aufgabe übernommen, das liberale Feuer von Maastricht und Amsterdam anzufachen. So verhält sie sich vorerst wie der Generalbevollmächtige des neuen europäischen Imperialismus.
Als Tony Blair unmittelbar nach seinem Amtsantritt die Unabhängigkeit der Bank von England verfügte, dankte die Londoner City mit stehenden Ovationen. Im Juli 1997 senkte er die Körperschaftssteuer um 2 Prozent. Sein Pogramm „welfare to work“ wird das System der sozialen Sicherung in ein System der Zwangsarbeit mit sozialer Grundsicherung umbauen. Die mit viel Tamtam angekündigte Einführung eines Mindestlohns läßt dagegen auf sich warten: Die Gewerkschaften verlangen rund 15 Mark pro Stunde (was 5 Millionen Arbeitnehmern zugute kommen würde), die Arbeitgeber wollen über 10 Mark nicht hinausgehen (in diesem Fall würden nur 1,5 Millionen Arbeitnehmer davon profitieren). Die Kehrseite der liberalen Medaille ist die Ordnungs- und Sicherheitspolitik – als einzig mögliche Antwort auf die zu erwartende soziale Verwüstung. Deshalb ist New Labour für Tony Blair auch „die Partei von Recht und Ordnung“, die Partei der „Null-Toleranz“.
Die italienische Regierung unter Prodi brachte in ihrer zweijährigen Amtszeit im wesentlichen nur die Erfüllung der Maastricht-Kriterien zuwege; die Arbeitslosigkeit ging kein Jota zurück, während Armut und soziale Ungleichheit sich weiter verschärften. Die Regierung von Frankreichs Ministerpräsident Lionel Jospin machte wiederholt Abstriche von ihren bescheidenen Wahlversprechen und verleugnete ihr Programm. Jospin setzt den Plan seines Vorgängers Alain Juppé um. Wirtschafts- und Finanzminister Dominique Strauss- Kahn hat dem Vorhaben einer „großen Steuerreform“ eine kategorische Absage erteilt. Die Privatisierung von Staatsunternehmen und der Abbau des öffentlichen Sektors werden beschleunigt vorangetrieben. Die im Gesetz zur 35-Stunden-Woche festgeschriebenen Zugeständnisse an die Arbeitgeber ersticken die potentiell positiven Beschäftigungseffekte im Keim; Arbeitszeitverkürzung als Mittel gegen Arbeitslosigkeit wird damit unglaubwürdig, die langfristige Aussicht auf die 32-Stunden-Woche zu Grabe getragen. Die Idee von Pensionsfonds beginnt sich durchzusetzen. Die Immigrantengesetze von Pasqua und Debré wurden nicht abgeschafft, sondern umgeschminkt.
Strauss-Kahn würdigt diese Bilanz mit der Genugtuung dessen, der sein Pensum erledigt hat: „In Wahrheit machen wir eine realistische und linke Politik. Um sich davon zu überzeugen, muß man allerdings die hergebrachten Beurteilungsmaßstäbe aufgeben“, denn „die Zeit ist vorbei, in der die Linke gleichbedeutend war mit der fortschreitenden Ausweitung des öffentlichen Sektors.“9
Dabei könnte die tiefgreifende internationale Krise die europäische Sozialdemokratie durchaus zu einem Linksrutsch führen. Die dafür erforderlichen institutionellen Mittel stehen ihr zur Verfügung, da sie in den meisten EU-Ländern an der Regierung ist. Sie müßte nur den Willen dazu aufbringen und sich den anstehenden Herausforderungen stellen. Wie trügerisch das so hochgelobte Modell einer neuen Wachstumsära von Anfang an war, ist heute offenkundig.10 Eine Krise, die bereits 40 Prozent der Weltwirtschaft erfaßt hat, wird Europa nicht verschonen. Die fortschreitende Rezession kann in eine Depression umkippen. Sie bedroht „die Legitimität der internationalen kapitalistischen Wirtschaft“11 .
Die linke als Kopie der rechten Mitte
ANGESICHTS der bevorstehenden Belastungsprobe sind die europäischen Bourgeoisien in erster Linie damit beschäftigt, sich auf den künftig schärferen Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten und Japan vorzubereiten. Ihr erklärtes Hauptziel besteht in der weiteren Umstrukturierung des Arbeitsmarkts, die bei Bedarf durch „schmerzlindernde Maßnahmen“ wie Fort- und Weiterbildung oder ABM-Maßnahmen für Jugendliche abgefedert wird, um einem allzu drastischen Rückgang der Binnennachfrage vorzubeugen. Giorgio Fossa, Präsident des italienischen Arbeitgeberverbands „Confindustria“, faßt es mit einer vielsagenden Formulierung so zusammen: „Eine Ausweitung der Beschäftigung hängt von vier Faktoren ab: den Zinssätzen, den Steuern, den Arbeitskosten und der Flexibilität.“12 Noch Fragen? Fiat- Chef Agnelli hat vor kurzem Lionel Jospin klargemacht, wie schwer Wachstum und Sparpolitik auf einen Nenner zu bringen sind: „Es wäre gut, wenn wir beides zusammen erreichen könnten, aber das ist schwierig.“13 Man wird sich also entscheiden müssen. Noch expliziter formuliert es der renommierte Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Robert A. Mundell von der Columbia University: „Die Funktion der europäischen Mitte-links-Regierungen besteht darin, die Wirtschaftspolitik der rechten Mitte fortzusetzen, denn für eine andere Politik gibt es kaum einen Handlungsspielraum.“14
So lassen sich der derzeitigen Wirtschaftspolitik noch nicht einmal zaghafte Ansätze zu einer keynesianischen Wende oder einem radikalen Reformismus zusprechen. Das dafür geeignete Instrumentarium hat die liberale Sozialpolitik der letzten zwanzig Jahre ohnehin zerschlagen. Die Geldpolitik wurde an das Direktorium der Europäischen Zentralbank delegiert, das den politischen Institutionen keinerlei Rechenschaft schuldig ist. Die sozialen Sicherungssysteme wurden beschnitten. Durch die Privatisierungen gab der Staat das Mittel einer aktiven Industriepolitik aus der Hand. Die Arbeitgeber kamen ohne Gegenleistung in den Genuß von Steuergeschenken. Das Lohnsystem, auf dem die keynesianische Nachkriegspolitik beruhte, wurde durch die Abschaffung des automatischen Inflationsausgleichs, die Individualisierung von Löhnen und Gehältern, die Flexibilisierung der Arbeitszeit, die Schwächung der Gewerkschaften und die Aushöhlung der Rahmentarifverträge untergraben.
Als Steuerungsinstrument bleibt damit praktisch nur die Zinspolitik, unter der Voraussetzung, daß die politischen Entscheidungsträger sich gegen die monetaristische Orthodoxie der Zentralbanker durchsetzen. In diesem Falle, und wenn die Krise sich nicht allzu rasch zu einer Depression entwickelt, müßte die EU ein durch Euro-Anleihen finanziertes Investitionsprogramm auflegen, sie dürfte den Euro im Vergleich zum Dollar nicht allzu stark werden lassen, um die Exporte nicht zu gefährden, und sie sollte begrenzte und konzertierte Kapitalverkehrskontrollen einführen. Auf diese Weise ließe sich der Schock eine Weile abfedern. Aber so notwendig diese Maßnahmen auch wären, für eine deutliche Senkung der Arbeitslosigkeit reichen sie nicht aus.
Eine wirkliche Reformpolitik erfordert eine umfassende Steuerreform, eine ernsthafte Besteuerung zu Spekulationszwecken verwendeter Vermögen, eine drastische Senkung der Mehrwertsteuer und eine progressive Kapitalertragssteuer, um den produzierten Reichtum umzuverteilen, ohne die Nachfrage abzuwürgen. Nötig wären eine europäisch abgestimmte Besteuerung spekulativer Kapitalbewegungen, die Aufhebung des Bankgeheimnisses und die Abschaffung der Steueroasen. Nötig wären desweiteren eine Ausweitung (statt eines Abbaus) der sozialen Sicherungssysteme, eine aktive Infrastrukturpolitik und der Ausbau der öffentlichen Versorgungsbetriebe und Dienstleistungen, verbunden mit einer europaweiten gesellschaftlichen Aneignung von Gemeinschaftsleistungen wie Wasser- und Energieversorgung, Transport und Verkehr. Unabdingbar wäre schließlich auch das Verbot von Massenentlassungen in Großunternehmen, die Erhöhung der sozialen Mindestsicherung und der Niedriglöhne sowie abgestimmte und zwingende Maßnahmen zur schrittweisen Arbeitszeitreduzierung auf 32 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich.
Dabei handelt es sich nicht primär um wirtschaftspolitische Maßnahmen, sondern um politische Entscheidungen. Man mag einwenden, dies würde zu Kapitalflucht führen, die Banken würden die Wirtschaft erdrosseln und die Finanzmärkte aufs heftigste reagieren. Doch wie soll man den Erpressungsmanövern der Arbeitgeber und social killers begegnen? Wer eine ehrgeizige Beschäftigungs- und Sozialpolitik betreiben will, muß es wagen, die Bevölkerung gegen die Arbeitgeber zu mobilisieren, Stärke mit Stärke zu beantworten, die Bürger gegen die Märkte zu aktivieren.
Zu allererst aber müßte man den Mut aufbringen, die Zwangsjacke der Konvergenzkriterien und des Stabilitätspakts zu zerreißen. Die Gelegenheit ist da, „um die Amsterdamer Sackgasse zu verlassen“, schrieb vor kurzem Jack Lang.15 Nur zu! Sogar der französische Staatssekretär für Europaangelegenheiten Pierre Moscovici meint: „Dieser Vertrag ist nicht unser Vertrag.“16 Wenn nachverhandeln, dann jetzt. Wozu sollten die Linke und die von ihr geführten europäischen Regierungen denn sonst da sein? Aber Moscovici hat die Frage für sich bereits beantwortet: „Die Infragestellung des Stabilitätspakts steht nicht zur Diskussion.“ Aus eigenem Antrieb würden die Mitte-links-Regierungen also keine radikalere Politik wagen; nur unter dem Druck der sozialen Bewegung und neuer Kräfteverhältnisse könnten sie sich, wie schon so oft in der Geschichte, eventuell dazu durchringen.
Jenseits seiner nationalen Besonderheiten und Nuancen bedeutet der „dritte Weg“ der „neuen Mitte“ eine Abwendung von der klassischen sozialdemokratischen Politik. Auf die Frage, was er von einer Spekulationssteuer halte, meinte Tony Blair: „Ich würde sagen, das ist eine schlechte Sache, weil die Leute die Möglichkeit brauchen, ihr Geld schnell, sehr schnell zirkulieren zu lassen. (...) Ich bin der Auffassung, daß der globale Markt für uns letztendlich eine gute Sache ist.“17 Fragt sich nur, wer mit „wir“ gemeint ist. Und was Lionel Jospin betrifft: Seine Kühnheit erschöpft sich darin, ja zur Marktwirtschaft, aber nein zur „totalen Kommerzialisierung einer Gesellschaft“ zu sagen, die er auch als Marktgesellschaft qualifiziert. Als würde das eine mit dem anderen nicht logisch zusammenhängen!
dt. Bodo Schulze
* Dozent für Philosophie an der Universität Paris- VIII, Autor von „Lionel, qu‘as-tu fait de notre victoire?“, Paris (Albin Michel) 1998; D. Bensaid/Christoph Aguiton, „Le retour de la question sociale. Le renouveau des mouvements sociaux en France“, Lausanne (Page Deux) 1997.