11.12.1998

Das Internet und ich

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Das Internet und ich

■ Mit der Verbreitung von Fax und e- mail ist es jedem, der schreibt, heute möglich, die Zeit zwischen dem Verfassen und dem Erhalt eines Briefes enorm zu verkürzen. Der geistige Austausch könnte um so reger sein. Und ist es teilweise auch. Doch die Beteiligten sind nicht nur fasziniert. Viele beobachten ihr eigenes Tun mit einer gewissen Beunruhigung, denn bislang sind die Spuren, die diese Entwicklung im Geistesleben einzelner Länder und in den jeweiligen Sprachen hinterlassen hat, nicht erforscht.

Von KENZABURO ÔE *

DIE neuen Intellektuellen Japans, allen voran die junge Elite, sind für die neuen Technologien äußerst empfänglich. Wenn sie auf das Thema zu sprechen kommen, zitieren sie gerne meinen Namen als Beispiel dafür, wie lächerlich rückständig manche Menschen gegenüber dem Phänomen der neuen Medien sind, wobei ich in ihren Augen vielleicht noch nicht einmal der schlimmste bin.

Ehe ich vor vier Jahren eine internationale literarische Auszeichnung – den Literaturnobelpreis – erhielt, besaß ich einen sehr altertümlichen Telefonapparat. Er gestattete mir nicht, den zunehmenden Anforderungen von „Erreichbarkeit“ zu genügen (vielleicht ist diese Verwendung des Begriffs „erreichbar“ in der Welt der neuen Medien längst obsolet geworden). Ich legte mir also ein Faxgerät zu. Und war äußerst angetan davon. Vor allem von der Perspektive, mit ausländischen Schriftstellern, die ich seit langem kenne, mit denen ich aber bislang nur auf dem Postwege kommuniziert hatte, Faxbriefe austauschen zu können. Die Möglichkeit, binnen kürzester Zeit eine Vielzahl von Faxen auszutauschen, und die Freiheit, sie zur selbstgewählten Zeit beantworten zu können, verschafften mir ein völlig neues Lebensgefühl.

Ein erstes Beispiel: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wechselte ich an einem einzigen Tag vier oder fünf Faxe mit einem russischen Schriftsteller. Wir hatten einen heftigen Gedankenaustausch über die Kluft zwischen dem kulturellen Umfeld Japans und dem Rußlands, ein Thema, das wir in unseren Briefen niemals angeschnitten hatten; und wenn unser Dialog einen Augenblick lang auch schärfer wurde und in ein kritisches Stadium geriet, so gelang es uns doch, diese Schwierigkeit zu überwinden und sogar gemeinsam konkrete Projekte zu entwickeln. Und das alles per Fax.

Ein zweites Beispiel: Eines Abends befand ich mich gerade in einer persönlich schwierigen Situation – mein Schwager, ein Filmemacher, der lange mein bester Gesprächspartner in intellektuellen und künstlerischen Fragen gewesen war, ein Mensch, der mich und den ich zutiefst verstand, hatte sich das Leben genommen. Da erhielt ich aus New York ein Fax des palästinensischen Schriftstellers Edward W. Said.1 Niemals werde ich das Gefühl jener Nacht vergessen: Ich kam mir vor wie ein Schiffbrüchiger, der plötzlich einen Rettungsring zu fassen bekommen hatte.

Diese Erfahrungen veranlaßten mich, öffentlich zu erklären, daß mir die technische Möglichkeit, sich mit Schriftstellern aus den verschiedensten Teilen der Welt per Fax zu verständigen, als äußerst verheißungsvoll erschien und daß ich mir wünschte, es käme ein internationaler runder Tisch zustande, bei dem Schriftsteller aller Nationalitäten untereinander per Fax kommunizieren. Natürlich wurde ich damit zum Gespött der jungen Intellektuellen. Das Fax sei doch längst veraltet. Wie könne man im Zeitalter von e-mail und Internet nur auf so altmodische Ideen verfallen? Im übrigen sei es typisch für einen Romancier wie mich, veralteten Marotten anzuhängen.

Ich möchte den Spöttern folgendes antworten. Ich habe ausführlich in den Bibliotheken recherchiert, ob es nicht Bücher mit Fax-Korrespondenzen zwischen zwei oder mehreren Personen gibt. Vergeblich. In Japan ist es sehr beliebt, Briefwechsel ausländischer Verfasser zu übersetzen. Aber die Fax-Korrespondenz zweier bekannter Persönlichkeiten ist bislang noch nicht erschienen. Denkbar wäre doch beispielsweise, daß sich – so wie seinerzeit der Historiker und (jüdische) Theologe Gershom Sholem und der Schrifsteller Walter Benjamin in ihren Briefen – zwei jüdische Intellektuelle, von denen einer im Ausland, der andere in Israel lebt, per Fax über die Krise dieses Landes austauschen; ich jedenfalls würde so etwas gerne in Buchform lesen.

Wenn solche Bücher schon im Zeitalter des Fax nicht veröffentlicht worden sind, so werden sie es in der Ära von e-mail und Internet sicherlich noch sehr viel weniger werden. Das bringt mich zu dem Gedanken, daß man zunächst einen Präzedenzfall schaffen könnte, der sich relativ leicht realisieren läßt – die Idee, Fax-Korrespondenzen zwischen zwei oder mehreren Intellektuellen in Buchform herauszugeben, bleibt indessen bestehen.

Stellen wir uns vor, ein solches Buch würde publiziert werden. Für diejenigen, die noch an die alten Medien gewöhnt sind, hätte das den Reiz einer nostalgischen Vertrautheit. Doch welche konstruktiven Werte könnten jene, die bereits ins Universum des Internet eingetaucht sind, darin entdecken? Ehe Sie jetzt sagen: „Keine!“ möchte ich Sie bitten, sich einige Vorschläge anzuhören, die ich Ihnen in meiner Eigenschaft – oder besser gesagt: in meiner Verschrobenheit – als Romancier mache.

Im Sinne einer positiven Entwicklung der neuen Medien halte ich es für nützlich, zwischen diesen und den alten Medien eine Art feed-back loop, eine Rückkoppelungsschleife herzustellen. Wäre es kein überzeugendes Unterfangen, einen, wenn auch eingeschränkten, Zusammenhang zwischen der menschlichen Kommunikation im Internet und dem alten Medium Buch herzustellen, e-mail-Botschaften, die über das Internet zustande gekommen sind, in Buchform zu gießen und zu sehen, was dabei herauskommt? Soweit mein erstes Argument.

Dieser Schritt hätte den Vorteil, daß man den Stil des neuen Kommunikationstypus genau analysieren könnte. Hat der Stil (im literarischen Wortsinn) in den neuen Medien überhaupt noch eine grundlegende Bedeutung? Nehmen die neuen Medien bereits den Stil der Menschen im 21. Jahrhundert vorweg?

Aus aktuellen Untersuchungen wissen wir, daß bestimmte, weltweit nur von Minderheiten gesprochene Sprachen im Internet verwendet werden. Das kann man nur begrüßen. Nehmen wir etwa das Koreanische, auch wenn wir uns damit natürlich eindeutig vom Begriff der Minderheitensprache entfernen. Stellen wir uns vor, das Hankul-Alphabet würde im Internet in den beiden Staaten der koreanischen Halbinsel, in Japan, den Vereinigten Staaten und selbst Europa – also auf mehreren Kontinenten – Verbreitung finden. Dies würde sich auf die Entwicklung der internationalen Beziehungen in Ostasien zweifellos äußerst positiv auswirken.

Ein anderes, konkreteres Beispiel: Wenn die Japaner mit dem Rest der Welt über das Internet kommunizieren, bedienen sie sich häufig des Englischen. Was mich nun interessiert, ist der Stil des Englischen, den die Japaner bei der Übermittlung von e-mail-Nachrichten über das Internet verwenden. Im Augenblick ist es vielleicht nur eine simple, direkte Übertragung des Japanischen ins Englische, so als ob man das Japanische einem Übersetzungscomputer anvertrauen würde. Wenn aber die Japaner aufgrund des Internet zu Angehörigen der englischsprachigen Welt werden, und zwar in großer Zahl, bildet sich dann ein von Japanern geprägter englischer Stil heraus? Und wie wird sich dieser Stil im Japanischen der alten Medien niederschlagen? Führt dies möglicherweise dazu, daß sich auch der Stil des Japanischen in den Büchern verändern wird? Das sind die Fragen, die mich als Romancier interessieren. Wäre eine radikale Veränderung des Sprachstils nicht ein eindeutiger Hinweis auf Veränderungen im japanischen Geistesleben?

Mir scheint, in den neueren linguistischen Studien – wobei „neuere“ vielleicht etwas übertrieben ist, da meine einschlägigen Kenntnisse über dieses Thema auf die sechziger Jahre zurückgehen – gibt es kaum wissenschaftliche Untersuchungen zur Frage des Stils. Ebenso wie im Bereich der Literatur herrscht auch hier vielmehr der Eindruck vor, daß man sich auf Monographien über den Stil dieses oder jenes Autors beschränkt und de facto davon Abstand genommen hat, allgemeingültige Regeln zur Stilistik aufzustellen. So gibt es keinen Forscher, der mit Gewißheit sagen könnte, daß sich die stilistischen Besonderheiten englischschreibender Japaner durch diese oder jene notwendige Bedingung hinreichend erklären lassen. Ginge es um phonetische Merkmale des Englischen, so, wie es von meinen Landsleuten gesprochen wird, bräuchte ich nur ein paar Worte auf englisch auszusprechen, und schon würde eine ganze Reihe von Parametern sichtbar.

Wenn der von den Japanern verwendete Stil des Englischen aufgrund der Internet-Mode vielfältiger würde, dann glaube ich allerdings, daß sich auch in den Texten literarischer Autoren eine stilistische Einwirkung ergeben müßte. Die japanische Literatur hat mit der Vereinheitlichung von gesprochener und geschriebener Sprache zu Beginn der Neuzeit ja bereits erhebliche Veränderungen erfahren. Ich kann mir vorstellen, daß eventuelle Entdeckungen der spezifischen englischen Stilistik im Internet durchaus zu stilistischen Veränderungen des japanischen Schrifttums beitragen werden, ob man es will oder nicht.

Nachdem es bei der Internet-Sprache in erster Linie auf die schnelle Übermittlung von Information ankommt, bestehen zwischen der Sprache der elektronischen Information und derjenigen von Romanciers notwendigerweise große Unterschiede. Vielleicht wird man genau dieses Argument meinem laienhaften Standpunkt entgegenhalten.

Ich selber habe in der Vergangenheit ja immer wieder auf die Unterschiede des sprachlichen Ausdrucks in Literatur und Alltagssprache hingewiesen. Dabei bezog ich mich auf die sprachwissenschaftlichen Thesen des russischen Formalismus. Nebenbei bemerkt: Auch wenn die Sowjetunion untergegangen ist, haben einige brillante intellektuelle Bewegungen, die sie in den zwanziger und dreißiger Jahren hervorgebracht hat, nichts von ihrer Relevanz eingebüßt und gehören auch heute noch zum Grundbestand der Kultur des 20. Jahrhunderts. Dies gilt auch für den russischen Formalismus.

Vereinfachend läßt sich sagen, daß die Worte der literarischen Sprache durch ein Verfahren, das die russischen Formalisten als ostranenje (Verfremdung) bezeichneten, die Übermittlung des Inhalts verzögern und diese Übermittlung in die Länge ziehen. Durch dieses Verfahren erhalten die Worte jene Widerständigkeit, welche die Gegenstände beim Anfassen aufweisen. Natürlich ist es nicht wünschenswert, daß die Worte im Internet diese Art von Funktion besitzen, das heißt, daß sie die Übermittlung des Inhalts und die Information verzögern oder komplizieren. Allerdings muß ich gestehen, daß meine Auffassung des Romans bzw. der Literatur im allgemeinen sich auf die Theorie der ostranenje stützt und daß ich die Übermittlung des Inhalts absichtlich kompliziere. Aus diesem Grund sind viele junge Intellektuelle vermutlich auch der Ansicht, daß ich der erste Romancier sein werde, den die neue Internet-Generation ins Reich des Vergessens verbannt.

Aber als Repräsentant der alten Medien kann ich mir nicht die Behauptung versagen, daß natürlich auch diejenigen Worte, die auf elektronischem Wege übermittelt werden, einen gewissen Stil besitzen, ebenso wie die literarischen Ausdrucksweisen. Der französische Historiker Yves- Marie Bercé – der im selben Jahr geboren ist wie ich – gehört zu denjenigen Personen, mit denen ich gerne kommunizieren würde, hätte ich Zugang zum Internet. In seinem Buch „Le Chaudron et la Lancette“2 schildert er, wie sich die von dem englischen Arzt Edward Jenner entdeckte Behandlung der Pocken ab dem Sommer 1798 in ganz Europa ausbreitete.

Eine sechzig Jahre währende Reise

ICH zitiere aus der japanischen Ausgabe, die unter dem Titel „Nabe to ransetto“ bei Shinhyôron erschienen ist: „Die Nachricht breitete sich in Europa wie ein Lauffeuer aus. Dabei befand sich der Kontinent damals mitten im Krieg, die Meere waren in den Händen von Piraten, die Straßen von Truppen abgeschnitten. Allen diesen Hindernissen zum Trotz ließ sich die Verbreitung des Impfstoffs gegen die Pocken nicht aufhalten. Innerhalb weniger Jahre waren in allen Ländern nicht nur die Wissenschaftler der Universitäten über die Entdeckung auf dem laufenden; selbst die Ärzte, die nur in kleinem privatem Rahmen praktizierten und keinen Zugang zu intellektuellen Kreisen besaßen, waren in der Lage, den Impfstoff einzusetzen, und zwar besser als die anderen.“

Ich möchte nun die letzte Zeile des Textes von Yves-Marie Bercé zusammenbringen mit einem Bericht aus den japanischen Annalen über die Eröffnung einer Pockenklinik in Otamagaike durch einen Arzt aus Edo, der Methoden der westlichen Medizin anwandte. Als Datum wird das 5. Jahr der Ansei-Periode genannt, also 1858 – es sei angemerkt, daß kurz vor und nach diesem Zeitpunkt verschiedene Fälle von Pockenerkrankung erwähnt wurden. Die Nachricht über die Entdeckung des Pockenimpfstoffs benötigte also sechzig Jahre, um aus dem kriegszerrütteten Europa in das von der Außenwelt abgeschnittene Japan zu gelangen. Welcher menschlichen Anstrengungen bedurfte es dazu? Betrachtet man das Phänomen in seiner Gesamtheit, so erkennt man eindeutig, daß auch die Information im Grunde eine Ausdrucksform ist. Es kommt darin ein Stil zum Ausdruck. Und genau darin besteht die Arbeit des Historikers Yves- Marie Bercé. Was ich als Stil bezeichne, kann man anhand mehrerer Fragen definieren: Was ist der Mensch? Worin besteht seine Tätigkeit? Was verrät sie uns über ihn?

Ich appelliere hier an die Wissenschaftler, die die neuen Medien erforschen: Ich möchte, daß sie diejenigen Personen befragen, die dank der neuen Medien, dank Internet und e-mail neue Vernetzungen der Solidarität geschaffen haben, um damit eine Antwort auf die realen Tragödien der Menschheit – die Kriege – zu finden. Welchen Stil etwa hatten jene Informationen, die während der Kampagne gegen die Landminen per Internet übermittelt wurden? Angesichts des durchschlagenden Erfolgs, den diese Kampagne gezeitigt hat, ist es meiner Meinung nach durchaus angebracht, wenn man diese Art der Informationsübermittlung (die in nicht einmal einer Sekunde sämtliche Teile der Erde erreichte) mit jener Art der Übermittlung vergleicht, die sechzig Jahre benötigte, um nach Japan zu gelangen. Das ist die Botschaft, die ich als Romancier vermitteln möchte.

Maruyama Masao hat den Romancier einmal als jemanden beschrieben, der von wenig ausgeht, um sehr viel zu sagen. Deshalb möchte ich den Kern meines Beitrags kurz zusammenfassen.

Was erwarte ich vom Internet? In einer Zeit, in der die Staaten, die internationalen Beziehungen, ja, der ganze Planet von der Sprache einer einzigen Großmacht erdrückt werden, kann das Internet für das Individuum zu einem Medium des Widerstands werden. Doch sehr häufig übernehmen die einzelnen ihre Worte von der herrschenden Gruppe; sie vermitteln aber nicht nur den Inhalt dieser Herrschaft, sondern auch ihre Akzeptanz. Ich muß hier wieder an George Orwell denken, den Autor von „1984“, der bereits eine Vorahnung der totalitären Sprache hatte. Aufgrund seiner Erfahrung beim britischen Rundfunk interessierte er sich in besonderem Maße für die Möglichkeit, sich mit Hilfe eines elementaren Englisch auszudrücken. Und deshalb interessiere auch ich mich für den Stil des Englischen, den die Japaner im Internet verwenden, denn meine Landsleute benutzen häufig Wendungen, die dem rudimentären Englisch sehr ähnlich sind. Gelänge es ihnen, ihrem Englisch individuelle Züge zu verleihen, es zu japanisieren, würden sie damit einen anderen Stil durchsetzen. Und der neuen Herrschaft widerstehen.

(Dieser Text gibt in gekürzter Form einen Redebeitrag wieder, den der Verfasser auf dem von der Zeitung Asahi Shimbun anläßlich ihres 120jährigen Bestehens am 12. und 13. Oktober in Tokio veranstalteten Symposium über das Thema „Der Journalismus im multimedialen Zeitalter“ vorgetragen hat.)

dt. Matthias Wolf

* Japanischer Schriftsteller, 1935 geboren; 1994 Nobelpreis für Literatur; auf deutsch u. a. lieferbar: “Eine persönliche Erfahrung“, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1994, „Stolz der Toten“, Frankfurt a.M. (Fischer TB) 1994, „Der stumme Schrei“, Frankfurt a.M. (Fischer TB) 1994, „Reißt die Knospen ab“, Frankfurt a.M. (S. Fischer) 1997.

Fußnoten: 1 Siehe etwa Edward W. Said, „Der dritte Weg führt weiter. An die arabischen Unterstützer von Roger Garaudy“, Le Monde diplomatique, August 1998. 2 Yves-Marie Bercé, „Le Chaudron et la Lancette. Croyances populaires et médecine préventive, 1798-1830“, Paris (Presses de la Renaissance) 1984.

Le Monde diplomatique vom 11.12.1998, von KENZABURO ÔE