11.12.1998

Das türkische Militär schlägt den Takt

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Das türkische Militär schlägt den Takt

NACH seiner Ankunft in Rom im November hat der Chef der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, erneut seine Bereitschaft geäußert, innerhalb des türkischen Staats eine friedliche Lösung für das Kurdenproblem zu suchen. Die türkische Regierung ignoriert diese Angebote jedoch, fordert seine Auslieferung und droht Italien mit Sanktionen. Die Weigerung der türkischen Militärs, die kurdische Identität anzuerkennen, treibt sie dazu, immer im Ausland nach Lösungen für einen Krieg zu suchen, der bereits fünfzehn Jahre andauert. In diesem Zusammenhang ist auch die Krise mit Syrien zu sehen, die im vergangenen Oktober ausgebrochen ist.

Von XXX *

Rückhaltlos unterstützt vom Parlament und der Mehrheit der Öffentlichkeit hat die türkische Regierung im September und Oktober 1998 die Konfrontation mit Syrien gesucht. Staatspräsident Demirel warf dem Nachbarland vor, „den separatistischen Terrorismus zu unterstützen“, indem es „den Banditen logistische Unterstützung bietet“ und „dem Chef der Banditen Unterschlupf in Damaskus gewährt“.1 Auch von Ministerpräsident Yilmaz waren ungewohnt kämpferische Drohungen zu vernehmen: „Syrien muß unsere Forderungen erfüllen, sonst wird die Welt ihm auf den Kopf fallen. Syrien sollte sich vorsehen, sonst werden wir ihm die Augen ausstechen.“2

Die Führung in Damaskus hat stets bestritten, daß die Kurdische Arbeiterpartei militärische Unterstützung aus Syrien erhält und daß sich PKK-Führer Öcalan im Land aufgehalten hat. Letzteres ist jedoch bewiesen: Eine Reihe Politiker aus Deutschland, Griechenland und Armenien sowie türkische und kurdische, vor allem aber ausländische Journalisten sind mit Öcalan in Damaskus und in der von Syrien kontrollierten libanesischen Bekaa-Ebene zusammengetroffen.

Dennoch sind die Behauptungen über den Ursprung und die Art der Spannungen mit Syrien, die das türkische Regime aufstellte und die von den Medien aufgenommen und weiterverbreitet wurden3 , äußerst fragwürdig. Die Machthaber setzen auf eine militärische Lösung des Kurdenproblems und haben alle Wege zu einer friedlichen Beilegung blockiert. Sowohl die prokurdische „Arbeiterpartei des Volkes“ (HEP) als auch ihre Nachfolgeorganisation, die Demokratische Partei (DEP) – die für die Anerkennung einer kurdischen Identität in der Türkei eintraten –, sind 1989 vom Verfassungsrat verboten worden. Vier kurdische Abgeordnete, unter ihnen Leyla Zana, die lediglich ihre Meinung zur Kurdenfrage in der Öffentlichkeit vertreten hatten, wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt, und eine Reihe von kurdischen politischen oder kulturellen Stiftungen und Vereinigungen mußten aufgrund polizeilicher oder gerichtlicher Verfügungen schließen. Auch die kurdischen Publikationsorgane sehen sich immer wieder hart bedrängt.

Seit 1925 haben alle türkischen Regierungen den Kurden das Existenzrecht abgesprochen, immer nach der Formel: „Es gibt kein Kurdenproblem, weil es keine Kurden gibt.“ Nach den geltenden Gesetzen (Art. 312 des Strafgesetzbuchs und Art. 6, 7 und 8 des Antiterrorismusgesetzes) gilt es bereits als „separatistisch- terroristische Propaganda“, wenn man das Wort „Kurdistan“ schriftlich oder mündlich gebraucht.

Vor diesem Hintergrund ist die jüngste Auseinandersetzung mit Syrien zu begreifen, und man muß dabei wenigstens drei Ebenen unterscheiden: den bilateralen Aspekt, das Verhältnis von Kurden und Türken und schließlich die internen Probleme der Machthaber in Ankara.

„Schon im Ersten Weltkrieg und während des Unabhängigkeitskriegs [1919- 1923] sind uns die Araber in den Rücken gefallen“; „die Araber sind schmutzig“; „Syrien war im Osmanischen Reich nur eine unbedeutende Provinz“; „die islamistischen Strömungen in der Türkei finden bei den Arabern Rückhalt und Unterstützung“ – diese und ähnliche Überzeugungen wurden von der kemalistischen Führung vertreten und bleiben in der kollektiven Erinnerung verankert. Die Türkei kann sich mit der Unabhängigkeit Syriens nur schwer abfinden und ist überzeugt, daß Damaskus die türkische Wirtschaft zu ruinieren versuche und die Nation daran hindern wolle, die ihr gebührende Rolle als Regionalmacht zu spielen.

Eine zusätzliche Komplikation bedeutet das Bündnis zwischen der Türkei und Israel. Uri Bar-Ner, der israelische Botschafter in der Türkei, erklärt dazu: „Mit Hilfe der USA haben die Türkei und Israel ein bedeutendes Bündnis der Kräfte geschlossen.“4

Die siebenundzwanzigste Rebellion

ZWEI weitere Konfliktfelder kommen hinzu. Zum einen unterstellt die Türkei, daß Syrien Antiochia (türk. Antakya, Hauptstadt der Provinz Hatay) zurückgewinnen möchte, das 1939 von Frankreich an Ankara abgetreten wurde. Auf syrischen Landkarten erscheint das einstige Alexandrette, das überwiegend von Arabern bewohnt ist, als integraler Bestandteil des Staates Syrien. Zum anderen vertritt das baathistische Regime in Damaskus die Position, daß Syrien die Kontrolle über die Nutzung des Wassers der Flüsse Euphrat und Tigris zustehe – und diese Haltung wird vom Irak unterstützt. Nach der internationalen Konvention über transnationale Flußläufe, die am 21. Mai 1997 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde, sind Damaskus und Bagdad damit im Recht.5

Aber auch die Verbissenheit der Türkei in der Kurdenfrage spielt in der aktuellen Krise ein Rolle. Staatspräsident Süleyman Demirel hat dazu erklärt, die Türkei sei bereits mit sechsundzwanzig separatistischen Aufständen fertiggeworden, und sie sei in der Lage, auch den siebenundzwanzigsten – die seit 1984 andauernde Rebellion unter der Führung der PKK – niederzuschlagen. Seit dem ersten Kurdenaufstand unter Scheich Said im Jahre 1925 ist Syrien allerdings das Land, in dem kurdische Flüchtlinge, Intellektuelle und unterlegene Oppositionelle Aufnahme finden.6

Was die Kurden den „kleinen Süden“ nennen (im Gegensatz zum eigentlichen Süden Kurdistans, dem Nordirak), ist ein Gebietsstreifen von etwa 600 Kilometer Länge und 30 bis 40 Kilometer Breite. In diesem „syrischen Kurdistan“ leben ungefähr eine Million Kurden, die jedoch von Damaskus keineswegs als ethnische Minderheit anerkannt sind – die meisten besitzen nicht einmal einen Personalausweis. Aber sie sind im Parlament (das nur formale Aufgaben wahrnimmt) vertreten, die kurdische Sprache ist nicht verboten, und im Alltag leben die Kurden friedlich mit den Arabern zusammen.7

Am 18. September 1998 hat Massud Barsani, Führer der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK), die große Teile des Nordirak kontrolliert, einen Friedensvertrag mit der von Dschallal Talabani geführten Patriotischen Union Kurdistans (PUK) geschlossen, die die Herrschaft über ein kleines Gebiet im Süden des Nordirak innehat und vom Iran unterstützt wird. Obwohl dieses Abkommen, das durch Vermittlung der USA zustande kam, immerhin auch die Vertreibung der PKK aus dem Nordirak vorsieht, stößt es in Ankara auf Skepsis – man fürchtet die Gründung eines unabhängigen Kurdenstaates im Nordirak.

Die PKK, 1978 von zwölf Studenten gegründet, hat 1984 mit zweihundert Kämpfern, die in den Lagern der Palästinenserführer Georges Habasch und Nayef Hawatmeh ausgebildet worden waren, den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat aufgenommen – diese Auseinandersetzung mit dem „türkischen Kolonisatoren“ steht seither im Mittelpunkt ihrer Politik. Ihr Hauptziel ist die Einrichtung eines türkisch-kurdischen Bundesstaats innerhalb der bestehenden Grenzen. Noch bis 1992 bezeichnete die türkische Armeeführung die PKK als „eine Handvoll Banditen“ – mit denen sie jedoch nicht fertig wurde, weil es den „zweitstärksten Streitkräften der Nato“ an Erfahrung im Antiguerillakampf mangelte. Die Methoden, die von der Zentralmacht angewendet wurden (Entvölkerung von Dörfern, Mordanschläge, Folter, Verbot friedlicher Demonstrationen etc.) stärkten die PKK: 1992 räumte das türkische Innenministerium ein, die PKK verfüge über 15000 Kämpfer und mehr als 100000 Milizionäre.

Dieser Krieg kommt das Land teuer zu stehen. Genaue Angaben über die Kosten können Wirtschaftsexperten nicht machen (weil es „Fonds“ gibt, die nicht offiziell ausgewiesen sind und nicht der Kontrolle des Parlaments unterliegen), aber es sind mehr als drei Fünftel des Haushalts, die der Krieg verschlingt.8 Und so liegt die jährliche Inflationsrate seit 1991 bei über 80 Prozent, was die wirtschaftliche und soziale Krise noch weiter verschärft.

Vor allem nach 1992 hat die PKK allmählich an Boden verloren. Zum einen weil die türkische Armee ihre Taktik verbesserte, zum anderen weil die PKK, die ihre Anhänger unter den Kleinbauern rekrutierte, mit marxistischen und nationalistischen Parolen auftrat und es nicht verstand, ihre militärischen Erfolge auf der sozialen und politischen Ebene glaubhaft umzusetzen. Daß sie bis Ende 1992 häufig brutale Mittel einsetzte (Überfälle auf die Dörfer regierungstreuer „Dorfwächter“, Massaker an Frauen und Kindern, Bombenanschläge in den Großstädten) hat sie in der Bevölkerung viel Sympathien gekostet. Dagegen bereiten ihre diplomatischen Vorstöße, ihre wiederholten Aufrufe zum Waffenstillstand und zu Verhandlungen, der politischen und militärischen Führung in Ankara schweres Kopfzerbrechen.

Daß der südafrikanische Präsident Mandela im Mai 1992 den Atatürk-Friedenspreis ablehnte, geht auf den Einfluß der PKK zurück. Mandela protestierte überdies gegen die vorjährige Verleihung dieses Preises an General Kenan Evren, den führenden Kopf des Staatsstreichs vom 12. September 1980, der von 1980 bis 1983 an der Spitze der Militärjunta stand und von 1980 bis 1989 Staatspräsident war. In mehr als vierzig Staaten auf fünf Kontinenten (in Washington wie in Sydney, in Ottawa wie in Johannesburg, in Havanna wie in Almaty, in Paris wie in Jerewan) unterhält die PKK Informationsbüros, die Einfluß auf Parlamentarier und Regierungen zu nehmen suchen. Das kurdische Exilparlament, mit Sitz in Brüssel, hat seit 1995 in mehreren Ländern (Belgien, Österreich, Niederlande, Rußland, Italien) Tagungen in den Räumlichkeiten staatlicher Einrichtungen abgehalten. Tatsächlich trugen diese Kampagnen dazu bei, die ohnehin deutliche diplomatische Isolierung der Türkei zu verstärken – so wurde etwa der türkische Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union beim europäischen Gipfel in Luxemburg, im Dezember 1997, nicht verhandelt.

Mit Blick auf die Entwicklungen in Nordirland, Palästina und jüngst in Kolumbien hat die PKK am 1. September 1998 zum zweiten Mal einen einseitigen Waffenstillstand erklärt. Ankara wollte davon nichts wissen: Ein bedeutender Teil der Armee widersetzt sich jeder politischen Lösung, weil eine Fortsetzung des Konflikts den Einfluß der Militärs auf die Gesellschaft stärkt. Der Krieg hat eine Reihe neuer sozialer Gruppen hervorgebracht: Armeeführer und Waffenhändler, Angehörige von Gendarmerie und Polizei im Südosten des Landes, Drogenhändler im Staatsapparat und in den Mafiakreisen, regierungstreue Milizen und Verwaltungsbeamte, die in den Gebieten eingesetzt werden, die unter Ausnahmerecht stehen, usw. Mit jedem Sarg eines Soldaten oder Polizisten, der aus den Kurdenregionen kommt, erhalten die Ultranationalisten mehr Auftrieb.

Zunehmender Islamismus

EIN weiteres Problem der Armee besteht im zunehmenden Einfluß des politischen Islam. Die Machthaber haben nichts unversucht gelassen, um diese Entwicklung zu unterdrücken: Die Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) wurde vom Verfassungsrat verboten, ihre Führer vor Gericht gestellt, die islamistischen Bürgermeister von Istanbul und Kayseri wurden zu Haftstrafen verurteilt, die Sendungen islamistischer Fernsehstationen zensiert, es sind Ermittlungsverfahren gegen Geschäftsleute eröffnet worden usw. Und dennoch haben bei den letzten Parlamentswahlen die Islamisten mit 21,7 Prozent der Stimmen ihre Position als bedeutendste politische Kraft noch ausgebaut.

Daß dieses polizeistaatliche Vorgehen der Armee gegen die Islamisten wenig fruchtet, liegt auch an den zahlreichen Skandalen, von denen die politische Klasse und die Militärkreise erschüttert wurden. Das Paradebeispiel ist der Susurluk-Skandal9 : Durch einen Autounfall am 4. Dezember 1996 kam ans Licht, daß enge Beziehungen zwischen hochgestellten Regierungsvertretern (darunter auch Minister und Polizeifunktionäre) und dem organisierten Verbrechen bestanden – so hatte der Staat zum Beispiel bezahlte Killer eingesetzt, um armenische und kurdische Aktivisten umbringen zu lassen.

Den Sturz der Refah-Regierung unter Necmettin Erbakan, im Juni 1997, kann man als eine Art verdeckten Militärputsch betrachten. Die danach regierende Minderheitskoalition aus zwei Parteien der traditionellen Rechten und einer kleinen Partei der nationalistischen Linken hatte weder genug inneren Zusammenhalt noch die schlüssige politische Strategie, um das Land zu führen, und mußte nach einem Mißtrauensantrag Ende November zurücktreten. Angesichts der verfahrenen politischen Situation hat das Parlament vorgezogene Wahlen für den 18. April 1999 beschlossen. Aber auch bei diesem Urnengang kann die neue Tugendpartei, die Nachfolgeorganisation der Wohlfahrtspartei, mit einer sicheren Stimmenmehrheit rechnen. Am 11. Oktober 1989 brachte sie trotz aller Gegenmaßnahmen der Armee und der meisten Massenmedien in 25 Städten des Landes über zwei Millionen Menschen auf die Straße, die sich zu einer „Menschenkette der Freiheit“ formierten, um gegen das Schleierverbot zu protestieren. Mit der Propagandakampagne gegen Syrien hoffte das Militär, einen Wahlsieg der Islamisten zu vermeiden.

Die Krise zwischen Syrien und der Türkei scheint beigelegt, nachdem die beiden Länder im Oktober ein Abkommen geschlossen haben. Aber auch wenn Damaskus bereit ist, die Unterstützung für die PKK einzustellen – auf die inneren Auseinandersetzungen in der Türkei wird dies wenig Einfluß haben. Die Krise, die um das Auslieferungsbegehren bezüglich Öcalans zwischen der Türkei und Italien entstanden ist, macht deutlich, daß die Armee noch immer nicht begreift, daß die Ursprünge des Kurdendramas in der Machtstruktur des eigenen Landes liegen.

dt. Edgar Peinelt

* Der Autor ist ein türkischer Intellektueller, der angesichts der Repression in seinem Land anonym bleiben möchte.

Fußnoten: 1 Ansprache von Präsident Demirel bei der Eröffnungssitzung des türkischen Parlaments am 1. Oktober 1998 in Ankara. 2 zit. n. Hürriyet, Istanbul, 7. und 8. Oktober 1998. 3 Die Schlagzeilen auf den Titelseiten der Zeitungen vom 2. bis 6. Oktober erwecken den Eindruck, daß die türkischen Medien in der Berichterstattung über die beginnende Krise mit Syrien jedes Augenmaß verloren haben: „Der Kopf der Giftschlange“ (neben einem Foto von Präsident Assad, in Sabah, einem rechtsliberalen Massenblatt); „Wir schaffen euch alle!“ (an die Adresse Syriens, Griechenlands und der arabischen Welt, in Aksam, einer Zeitung der rechten Nationalisten); „Gebt uns Apo!“ (Forderung an Damaskus – Apo ist der Beiname von Abdullah Öcalan – in der liberalen Zeitung Yeni Yüzyil); „Wir greifen im Norden an und marschieren durch bis in den Süden“ (militärische Drohung gegen Syrien in dem nationalistischen Massenblatt Hürriyet). 4 Cumhuriyet, Istanbul, 29. Juni 1998. 5 Siehe Alain Gresh, „Vom Golf bis Kurdistan: Neue Bruchlinien im Nahen Osten“, Le Monde diplomatique, Dezember 1997. 6 In den Schriften und Lebenserinnerungen kurdischer Intellektueller wie Musa Anter, Celalet Bedirhan, Nurettin Zaza und Cigerhun ist das vielfach beschrieben worden. 7 Der Autor dieses Artikels hat sich im März 1994 zehn Tage in Syrien aufgehalten, um für eine Reportage über das Kurdenproblem zu recherchieren. 8 Taylan Dogan, „Savas Ekonomisi“ (“Kriegswirtschaft“), Istanbul (Avesta) 1988. 9 Siehe dazu Martin A. Lee, „Der lange Atem der Grauen Wölfe“, Le Monde diplomatique, März 1997, und Kendal Nezan, „Verbrecher mit Diplomatenpaß“, Le Monde diplomatique, Juli 1998.

Le Monde diplomatique vom 11.12.1998, von XXX