Das beredte Schweigen des Finanzkapitals
Von NOAM CHOMSKY *
DIE Liberalisierung der Kapitalbewegungen stellt eine ideale Waffe gegen den Gesellschaftsvertrag dar. Sie läßt sich sehr wirksam einsetzen, um staatliche Ansätze zu fortschrittlichen Maßnahmen zu torpedieren. Will etwa ein Land seine nationale Wirtschaft ankurbeln oder mehr Geld für das Gesundheitswesen ausgeben, setzt als Strafe für dieses Fehlverhalten sofort eine Kapitalflucht ein. Angesichts dieser Mobilität der Gelder wird bereits von einem „virtuellen Oberhaus“ gesprochen, in dem die Wirtschaftsführer sitzen, die allein durch ihre finanziellen Transaktionen über das Schicksal wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen entscheiden. Die Transaktionen auf den Finanzmärkten haben erheblich zugenommen (heute werden pro Tag 1800 bis 2000 Milliarden Dollar umgesetzt), aber auch ihr Charakter hat sich gewandelt: Vor dreißig Jahren hatte der Börsenhandel noch zu 90 Prozent einen Bezug zur Realwirtschaft, heute aber geht es überwiegend um sehr kurzfristige Währungs- und Zinsspekulationsgeschäfte. Die Märkte sind immer flüchtiger und damit unberechenbarer geworden, was entsprechend häufiger Finanzkrisen auslöst.
Anfang der siebziger Jahre hatte der Wirtschaftsnobelpreisträger James Tobin eine Besteuerung der Transaktionen auf den Devisenmärkten vorgeschlagen, um der Spekulation etwas „Sand ins Getriebe“ zu streuen und langfristige produktive Investitionen zu fördern.1 Das waren damals gängige Vorstellungen: Bis in die achtziger Jahre übten die meisten reichen Länder eine gewisse Kontrolle über die Kapitalbewegungen aus. Die Tobin-Steuer wird seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren diskutiert, aber die großen Finanzinstitute wollen davon nichts hören. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn der jetzige Zustand erweist sich für sie als höchst vorteilhaft, ungeachtet der heftigen Krisen und der Abschwächung des realen Wirtschaftswachstums. Auch Gewerbe und Industrie, die den größten Vorteil aus einer solchen Regelung ziehen würden, lehnen die Steuer in der Regel ab, denn zweifellos kommt es ihnen nicht ungelegen, daß die Liberalisierung der Kapitalbewegungen auf die Lohnkosten drückt und sozialpolitische Pläne im Keim erstickt. So überrascht es nicht, daß ein bedeutendes Buch über die Tobin-Steuer2 von der Presse boykottiert wurde, und zwar unter dem Druck von internationalen Organisationen und (vor allem US-amerikanischen) Finanzkreisen.
Das Schweigen über Alternativen zur gegenwärtigen Politik ist um so notwendiger, als die öffentliche Meinung sich häufig eindeutig gegen die Politik des uneingeschränkten Handels und der Liberalisierung der Kapitalmärkte wendet. So scheiterte die Regierung Clinton 1998 mit dem Vorhaben, vom Kongreß ein Eilverfahren (“fast track procedure“) für die Verhandlungen über die kontinentale Freihandelszone (Free Trade Area of the Americas, FTAA) absegnen zu lassen3 , weil die Abgeordneten von der Öffentlichkeit und den Gewerkschaften massiv unter Druck gesetzt wurden.
Es ging damals auch schon darum, den Weg für das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) freizumachen, das seit Mai 1997 in Geheimverhandlungen im Rahmen der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erörtert worden war. Dieses Vorhaben wurde schließlich durch Bürgerbewegungen, vorwiegend in Kanada und Frankreich, zu Fall gebracht: Die Regierung Jospin reagierte auf den Druck von unten und zog sich am 10. Oktober 1998 aus den Verhandlungen zurück. Allerdings ist das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen: Man wird die Gespräche wiederaufnehmen, in irgendeiner Form und so unauffällig wie möglich, nach Möglichkeit im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO). Die Verfechter der Liberalisierung verfolgen dabei die Idee, der Internationale Währungsfonds (IWF) könne ja die Regelungen, die das MAI vorsah, bei den Staaten durchsetzen, die von seiner „Hilfe“ abhängig sind. Eine solche Lösung hätte den Vorteil, daß der IWF keiner Instanz rechenschaftspflichtig ist und seine Arbeit sich den Blicken der Öffentlichkeit entzieht.
(Gespräch mit Normand Baillargeon)
dt. Edgar Peinelt
* Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Boston.