15.01.1999

Den Euro links denken

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Den Euro links denken

DER Euro ist da, der Euro wird gefeiert. Von seinen Begleiterscheinungen jedoch ist kaum die Rede: der ungeteilten Macht der Europäischen Zentralbank, die gewählte Politiker zu Schachfiguren degradiert; der noch restriktiveren Haushaltspolitik; der bitteren Wahl zwischen Marginalisierung und Sozialdumping, die den bereits benachteiligten Regionen als einziges übrigbleibt. Doch allzu lange lassen sich diese Probleme nicht unter den Teppich kehren.

Von LAURENT CARROUÉ *

Am 1. Januar ist der Euro definitiv in elf EU-Ländern zum gesetzlichen Zahlungsmittel geworden.1 Gleichzeitig tritt an die Stelle der nationalen Zentralbanken die neu gegründete Europäische Zentralbank (EZB). Aus diesem Anlaß soll eine breite Werbekampagne mit dem Slogan „Der Euro macht uns stark“ die Öffentlichkeit einstimmen. Sie stellt die technischen Aspekte des Währungswechsels in den Vordergrund. Im Verlauf der letzten Monate hat sich jedoch eine umfassende Kontroverse entzündet, in der es vordergründig zwar nur um das Zinsniveau geht, die in Wirklichkeit aber entscheidende politische und gesellschaftliche Zukunftsfragen thematisiert.

Seitdem in Italien, Großbritannien, Frankreich und neuerdings auch in Deutschland sozialdemokratische Regierungen an der Macht sind, hat sich das politische Kräfteverhältnis innerhalb der EU spürbar verändert: Elf von fünfzehn Regierungen sind linksorientiert. Die Lage für eine eher sozial ausgerichtete Umgestaltung des europäischen Aufbaus war eigentlich noch nie so günstig. Darauf verweist auch die durch die Wähler bezeugte Ablehnung der im letzten Jahrzehnt durchgesetzten Leitlinien des Neoliberalismus und ihrer Auswirkungen in Gestalt von „Sanierung“, Ausgrenzung, mangelnder sozialer Absicherung und Massenarbeitslosigkeit. Ein erster Schritt in diese Richtung war die ausschließlich mit Arbeitsmarktfragen befaßte außerordentliche Sitzung des Europäischen Rats in Luxemburg im November 1997, als sich gerade die durch eine weltweite Finanzkrise hervorgerufenen Einbrüche abzuzeichnen begannen2 .

Die Wochen nach dem Wahlsieg der rot-grünen Koalition in Deutschland schienen diesen Richtungswechsel zu bestätigen. Erstmals wurden auch innerhalb der Führungsgarnitur einige ketzerische Stimmen laut, die mit der ultraliberalen Lehrmeinung brechen. Oskar Lafontaine, der deutsche Finanzminister, sprach sich für eine Reform der internationalen Finanzmärkte aus: Begrenzte Schwankungsbreiten der drei großen Währungen – Dollar, Yen, Euro – würden zu größerer Transparenz und verminderter Volatilität führen und die Macht der Spekulanten beschränken. Der italienische Finanzminister, Carlo Azeglio Ciampi, forderte eine größere Flexibilität des im Juni 1997 in Amsterdam beschlossenen Stabilitätspaktes, während der französische Ministerpräsident Lionel Jospin eine Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Einberufung einer neuen Bretton- Woods-Konferenz3 vorschlug.

Im November 1998 ging der Europäische Rat in Pörtschach (Österreich) gar so weit, eine wachstumsfördernde Zinssenkung zu empfehlen, zumal bei einer Inflationsrate zwischen 0,5 und 0,7 Prozent jährlich die in Deutschland und Frankreich geltenden Zinssätze von real 3,3 Prozent sehr hoch liegen. Solch ungewohnte Töne schienen einige Wochen lang einen neuen politischen Kurs der EU zu verheißen.

Diese offiziellen Verlautbarungen brachten Wim Duisenberg in Rage, den niederländischen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, der verbissen die völlige Unabhängigkeit seiner Institution4 gegen vermeintliche Übergriffe der Politik verteidigt. Duisenberg hatte übrigens schon Anfang Oktober 1998 darauf hingewiesen, sein ausschließliches Ziel bleibe die Preisstabilität, also eine jährliche Inflationsrate von unter 2 Prozent (wohingegen die amerikanische Notenbank für sich die doppelte Aufgabe sieht, auf Preisstabilität wie auch auf Wachstum hinzuwirken). Die Zurechtweisungen durch die EZB und die Zentralbanken Deutschlands und Frankreichs zeigten, im Verein mit vielfachen anderen Pressionen, rasche Wirkung und zwangen die vorlauten Politiker zum Rückzug.

Schon Mitte November war die Idee, Bandbreiten für die internationalen Wechselkurse zu fixieren oder wachstumsfördernde Maßnahmen zu ergreifen, wieder vom Tisch. Die Finanzminister der elf sozialdemokratischen Regierungen verabschiedeten bei ihrem Treffen am 22. November eine höchst liberal gehaltene5 gemeinsame Erklärung mit dem Titel „Der neue Europäische Weg“: Darin wird „die Freizügigkeit der weltweiten Kapitalbewegungen weitgehend positiv“ eingeschätzt und die Notwendigkeit bekräftigt, den Stabilitätspakt einzuhalten.

Angesichts solcher Aussagen fragt man sich, ob die Minister mit plötzlicher Blindheit geschlagen oder in absoluten Autismus versackt sind. Oder handelt es sich um eine späte Bekehrung, die freilich zur Unzeit erfolgt, weil sich ausgerechnet jetzt die verheerenden Folgen der Finanzkrise ganz offen abzeichnen? Die betroffenen Regierungen stecken offensichtlich in der Zwickmühle ihrer inneren Widersprüche6 : einerseits die schönen Erklärungen zum Arbeitsmarkt und zu einem sozialen Europa, andererseits über Jahre schon die Zustimmung zur monetaristischen Logik und zur Unterordnung unter die Mechanismen der Finanzmärkte. So setzte Massimo d'Alema, der Sekretär der exkommunistischen Demokratischen Partei der Linken (PDS) als italienischer Ministerpräsident7 – und wie immer unter Berufung auf Europa – einen rigorosen Sparhaushalt durch, der sich von denen seiner beiden Amtsvorgänger kaum unterscheidet.

In diesem Kontext verkündeten am 4. Dezember gleichzeitig alle Präsidenten der elf „Euroland“-Zentralbanken eine koordinierte Senkung des Zinssatzes auf 3 Prozent (3,5 Prozent für Italien). Medien und Märkte reagierten begeistert auf dieses Einstandsgeschenk für den Euro. Manche Kommentatoren konnten es sich aber nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, daß diese Zinssenkung erst zustande kam, nachdem durchweg alle europäischen Regierungen die Fortsetzung ihrer Haushaltskonsolidierung bestätigt hatten. Dies bedeutet in Wirklichkeit eine ideologische und politische Kapitulation, die vollständige Abdankung des politischen Souveräns gegenüber einer supranationalen Institution, die nicht gewählt wurde und somit den Bürgern keine Rechenschaft schuldig ist.

Noch bevor die EZB ihre Tätigkeit aufgenommen hatte, erfuhr sie damit die nachdrückliche Bestätigung ihres Vetorechts gegenüber der Haushalts-, Steuer-, Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik der EU-Mitglieder – allen Protesten zum Trotz, auch wenn sie von höchster Stelle kommen. So gesehen hat der 4. Dezember einen schlechten Tausch gebracht. Seitdem macht ein eng verzahnter Mechanismus von Institutionen jede Gestaltungsalternative für sozioökonomische und Währungsangelegenheiten in Europa unmöglich. Diese Logik ist nicht etwa als Zeichen einer „neuen, geteilen Souveränität“ zu werten, sondern im Gegenteil als Indiz für einen besorgniserregenden Demokratieschwund.

Die gemeinsame Senkung der Leitzinsen bezeugt den Ernst der wirtschaflichen und finanziellen Lage der EU. Denn entgegen den euphorischen Erklärungen einiger Regierungen, die autosuggestiv sich selbst und auch der übrigen Welt dieses Westeuropa als Zufluchtsort der Stabilität verkaufen wollen, wird unser Kontinent zunehmend von den internationalen Finanz- und Wirtschaftsturbulenzen erfaßt. Nach Angaben der Weltbank sinkt das weltweite Wirtschaftswachstum von 3,2 Prozent im Jahre 1997 auf 1,8 Prozent im Jahre 1998. Die Domino-Rezession, die zuerst Südostasien, dann Japan, dann Rußland und Lateinamerika erfaßt hat, beginnt sich auf Großbritannien, Italien und Deutschland auszuwirken. Seit dem ersten Halbjahr 1998 gehen die europäischen Exporte in Drittländer spürbar zurück, auch wenn sie nur knapp 10 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU beitragen.

Die nur sehr relative Lockerung der Geldpolitik war jedoch immer von einer ausgesprochen strengen Haushaltspolitik begleitet. Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen solcher Sparbudgets auf die Gesamtwirtschaft verstärken freilich die Gefahr einer Deflation (gleichzeitiges Sinken der Preise, der Produktion und der Beschäftigung) und schweren Rezession infolge einer verminderten Nachfrage. Demgegenüber könnten entscheidende Impulse gerade von einem Anstieg des Binnenkonsums und der Binneninvestitionen ausgehen. Die enormen Anstrengungen Italiens, die Euro-Kriterien zu erreichen, sind der Grund dafür, daß dieses Land seit drei Jahren das schwächste Wirtschaftswachstum aller EU-Länder aufweist (1,5 Prozent in 1998). Die offizielle Arbeitslosenrate hält sich zwar bei etwa 12,5 Prozent, doch hinter dieser Zahl verbergen sich tiefe soziale Klüfte. Im Norden beläuft sich die Arbeitslosigkeit auf 6, im Süden hingegen auf 22,3 Prozent. Und neue Arbeitsplätze im Mezziogiorno resultieren hauptsächlich aus der regulären Anmeldung von Schwarzarbeit.

Allgemeiner gesprochen produziert die Tatsache, daß die Bundesbank der gesamten EU mittels der EZB ihren Kult der D-Mark und des starken Euro aufzwingen kann (was die Euro-Zone in eine intensivierte und geographisch erweiterte D-Mark-Zone umfunktionieren dürfte) die Gefahr immer stärkerer regionaler Spannungen, die sich aus der strukturellen Unausgewogenheit unterschiedlicher nationaler und regionaler Produktionssysteme ergeben.

Die jetzige Situation resultiert aus Optionen, die sich vor einigen Jahren im Text des Maastrichter Vertrages niedergeschlagen haben, insbesondere in seinen Bestimmungen über die Einheitswährung und ihre Handhabung. Die in Maastricht fixierte politische und institutionelle Konstruktion ist darauf angelegt, jeden Versuch eines Ausbruchs aus dem Ultraliberalismus von vornherein zu verhindern. Sie erweist sich jetzt bei ihrem ersten Test als ausgesprochen effizient. Die Regierungen, die sich zur Sozialdemokratie bekennen, müßten daran interessiert sein, diesen Riegel zu sprengen, in erster Linie durch eine Neuverhandlung des Stabilitätspaktes.

Im Gegensatz zu den im Maastrichter Vertrag festgeschriebenen EZB-Statuten, die nur durch einen neuen Vertrag modifiziert werden können, handelt es sich bei dem Stabilitätspakt lediglich um ein Regierungsabkommen. Der Beschluß des Europäischen Rats vom Juni 1997 in Amsterdam kann also durch einen weiteren Europäischen Rat ohne weiteres wieder aufgehoben werden. Was eine Mehrheit von liberalen und konservativen politischen Kräften aufgebaut hat, kann eine veränderte Mehrheit wieder ändern. Die neuen Regierungen würden auf diese Weise nur den Auftrag erfüllen, den ihnen die Bürger erteilt haben, nämlich Wachstum und Beschäftigung zu stärken.

Überdies müßten Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Zentralbank neu definiert werden, um sie zum Instrument der Förderung eines echten Pakts für Wachstum und Beschäftigung in Europa zu machen. Damit könnte man die finanz- und währungstheoretischen Denkgewohnheiten durchbrechen. Dabei erscheint es unumgänglich, die Unabhängigkeit der EZB gegenüber demokratisch gewählten politischen Gremien zu überdenken.

Schließlich empfiehlt es sich, die demnächst anfallenden Aufgabenbereiche, die sich zwingend aus der Einführung des Euro ergeben, auf andere Weise anzupacken. Das betrifft etwa die Koordinierung der Lohnpolitik auf regionaler, nationaler und gemeinschaftlicher Ebene, das Angehen einer Steuerharmonisierung und ganz allgemein einer auf EU-Ebene konzertierten Wirtschaftspolitik. Die Besteuerung von Sparguthaben und Unternehmensgewinnen, von Kapital und Arbeitseinkommen wirft für die Zukunft der EU höchst brisante Fragen auf: Soll die Gemeinschaft zu einer regulierten Produktions- und Kooperationszone werden oder zu einem Freiraum für Steuer- und Sozialdumping? Wie viele Hürden hier noch zu überwinden sind, beweist die Tatsache, daß Luxemburg und Großbritannien sich bereits heftig gegen die – wenngleich noch zaghaften – Vorschläge wehren, die es auf Steuerparadiese wie Luxemburg, Monaco, Lichtenstein, die Kanalinseln und die Isle of Man abgesehen haben.

dt. Margrethe Schmeer

* Professor an der Universität Paris-VIII, Verfasser von „L‘Union Européenne“, Paris (Armand Colin, coll. „Prépas“) 1998.

Fußnoten: 1 Die 15 EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks, Griechenlands, Großbritanniens und Schwedens. 2 Dazu Manière de voir, „Anatomie de la crise financière“, Nr. 42, November/Dezember 1998. 3 Das am 22. Juli 1944 von 44 Ländern unterzeichnete Abkommen von Bretton Woods entwarf die Grundzüge der internationalen Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit und schuf den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank. 4 Dazu Laurent Carroué, „Der Euro kommt, der Bürger geht“, Le Monde diplomatique, Mai 1998. 5 Die International Herald Tribune vom 24. November 1998 kommentiert: „Da ist kaum noch etwas Linkes dran.“ 6 Zu Frankreich s. Daniel Baudru und Bernard Maris, „Social-libéralisme à la française“, Manière de voir, Nr. 42, a. a. O. 7 Siehe auch Rossana Rossanda, „Ausnahmefall Italien“, Le Monde diplomatique, Dezember 1998. 8 Im Jahre 1998 lag die durchschnittliche Inflationsrate in der Eurozone unter 2 Prozent.

Le Monde diplomatique vom 15.01.1999, von LAURENT CARROUÉ