15.01.1999

Zweierlei Recht im chilenischen Rechtsstaat

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Zweierlei Recht im chilenischen Rechtsstaat

Von GÉRARD DELTEIL *

ZWANZIG Minuten vom Zentrum Santiagos entfernt hat man aus der Hochbahn einen guten Blick auf die säuberlich aufgereihten Baracken des Centro de orientación femenina (COF), die eher an ein Camp erinnern als an eine herkömmliche Strafanstalt. Abgesehen von einigen patrouillierenden Wachleuten sieht das Frauengefängnis auf den ersten Blick nicht aus, als würde es besonders scharf bewacht. Die Schüler, die gutgelaunt in ihrer blauen Uniform aus der nebenan gelegenen Privatschule herausströmen, kümmern sich nicht um das Schicksal ihrer Nachbarinnen, sofern sie überhaupt davon wissen.

Für die „Politischen“ gibt es ein Gefängnis im Gefängnis: eine Fläche von etwa 300 bis 400 Quadratmetern, zehn Meter hoch mit Maschendraht eingezäunt und von einem scheinwerferbewehrten Ausguck überragt, auf dem ein bewaffneter Aufseher Wache hält. Draußen ebenso wie im Innern des Gebäudes, in den Zellen, Sanitäranlagen und im Speisesaal, werden die kleinsten Bewegungen der Häftlinge durch ein System von Kameras und Mikrofonen überwacht. Dennoch scheinen die Haftbedingungen relativ locker. Die gefangenen Frauen gestalten ihr Gemeinschaftsleben selber; sie kochen mit den Lebensmitteln, die sie von der Gefängnisverwaltung oder ihren Familien erhalten; ihre Besucher empfangen sie an weißen Plastiktischen, die an Terrassencafés erinnern. So wirkt das Hochsicherheitsgefängnis in der sommerlichen Sonne mustergültig.

Zweimal wöchentlich für drei Stunden ist Besuchszeit. Um die Einzelheiten des Gefängnisalltags mit der Verwaltung auszuhandeln, haben sich die Häftlinge eine Vertreterin gewählt. Und an den Mauern ihres Gefängnisses prangt in großen Lettern der Slogan: „Wir werden das Feuer entfachen, das die Freiheit gebiert.“ Fürs erste dulden die Aufseher dieses provozierende Wandbild.

„Täuschen Sie sich nicht“, sagt Roxana Cerda, eine Lautaro-Kämpferin1 , die seit sechs Jahren ohne rechtsgültiges Urteil inhaftiert ist; „die Regierung versucht, aus diesem Gefängnis eine Art Aushängeschild der chilenischen Demokratie zu machen, denn sie ist sehr auf ihr Image bedacht und will ständige und allzu offensichtliche Auseinandersetzungen vermeiden. Aber diese Haftbedingungen haben wir nur durch harte Kämpfe erreicht.“ Tatsächlich haben die Gefangenen mehrere Hungerstreiks hinter sich. Der letzte fand im Juli 1997 statt, nachdem etwa sechzig bewaffnete Polizisten das Gefängnis gestürmt hatten, um die Frauen einzuschüchtern und härtere Haftbedingungen durchzusetzen.

Obwohl die Frauen damals heftig Prügel bezogen, haben sie die heutigen Gefängnisbedingungen durchgesetzt, nachdem sie in einem Hungerstreik zwei Jahre zuvor ihre Verlegung hierher erreicht hatten. Vorher waren sie im Männergefängnis San Miguel inhaftiert, wo sie Tag für Tag den unflätigen Beschimpfungen der gewöhnlichen Verbrecher ausgesetzt waren.

Nichts wurde unversucht gelassen, um diese knapp zwei Dutzend linksextremistischen Kämpferinnen einzuschüchtern, die den Behörden als größte Gefahr im Land gelten: Knüppel, Tränengas, einschüchternde Schüsse mit echten Kugeln, sogar vor physischer Gewalt gegen ihre Kinder während der Besuchszeiten schreckten die Wärter nicht zurück.

Fast alle diese Frauen gehören der Stadtguerilla-Bewegung Lautaro an, einige wenige der Patriotischen Front Manuel Rodriguez (FPMR)2 . Ihr Durchschnittsalter liegt zwischen 25 und 30 Jahren. Doch manche von ihnen sind schon seit sechs oder sieben Jahren in Haft, wie Magdalena de los Angeles, die am 15. Juli 1991 verhaftet, oder Pilar Peña Ricón, die im Januar 1992 gefaßt wurde. Sie gelten als „Terroristinnen“, und auch wenn sie inzwischen verlegt und von den gewöhnlichen Verbrechern getrennt worden sind, sind sie nicht als politische Gefangene anerkannt. Viele kommen aus der Mittelschicht, sind Studentinnen, Lehrerinnen, Krankenschwestern, Sekretärinnen oder Supermarktangestellte. Ihre Aussichten, in absehbarer Zeit freizukommen, sind sehr gering. Gegen alle laufen zwei verschiedene Verfahren gleichzeitig: eines vor dem Zivil- und eines vor dem Militärgericht; die Strafzumessungen aus beiden summieren sich – teils zu mehreren Jahrzehnten Haft. Tatsächlich ist Chile das einzige Land auf der Welt, in dem ein Militärgericht in Friedenszeiten auch über Zivilisten urteilen darf.

Cécilia Tabilo ist in der población Victoria, einem Vorort Santiagos, geboren; 1973, als sie acht Jahre alt war, wurde ihr Vater, ein Angestellter der Technischen Universität, verhaftet. Monatelang suchte sie in den verschiedenen Gefängnissen des Landes nach ihm. Während der Diktatur erlebte sie in der población viele Repressionsmaßnahmen mit: brutale Verhaftungen, Schießereien, Folterungen und Erschießungen; 1978 wurde sie Mitglied des MIR (Bewegung der revolutionären Linken)3 , 1990 ging sie zur Lautaro. Ein Zivilgericht verurteilte sie wegen Mitgliedschaft in einer illegalen Vereinigung zu drei Jahren und einem Tag, das Militärgericht wegen Waffenbesitzes zu fünf Jahren und einem Tag Gefängnis. Ein dritter Prozeß, wegen Diebstahls von Kriegswaffen, ist derzeit noch vor dem Militärgericht anhängig. Der Militärstaatsanwalt hat 21 Jahre Gefängnis gefordert. Seit zwei Jahren hat Cécilia sich von der Lautaro abgewandt und sieht heute ihre vergangenen Aktivitäten kritisch, auch wenn sie sie moralisch für gerechtfertigt hält: „Wie kann man in einem Land, in dem der ehemalige Diktator zum Senator auf Lebenszeit ernannt wird und maßgeblichen Einfluß auf die Armee behält, von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie reden?“

Für Militante keine Amnestie

ALLE, die nach der Wahl Patricio Aylwins im März 1990 die Waffen nicht niedergelegt haben, stellen sich diese Frage: „Was für eine Demokratie? Was für eine Freiheit? Die Mörder und Foltererer werden amnestiert, und die, die gegen sie gekämpft haben, sitzen weiter im Gefängnis – nennen Sie das einen Rechtsstaat?“ empörte sich 1991 Victor González, der als einer der historischen Anführer der Lautaro-Bewegung gilt (er verbüßt heute eine hundertjährige Haftstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis). In der Tat ließen die neuen Machthaber unter dem Druck der Militärs nur Häftlinge frei, die kein „Blut an den Händen“ hatten, womit automatisch alle ausgeschlossen waren, die mit Waffen gegen die Diktatur gekämpft hatten. Etwa hundert Militante, in der Mehrzahl Mitglieder der Lautaro, der FPMR oder, seltener, der MIR, blieben in Haft, unter ihnen die Organisatoren des Attentatversuchs gegen General Pinochet im Jahre 1986.

Als die Untergrundorganisationen 1990 diskutierten, ob der bewaffnete Kampf fortgesetzt werden sollte, spielte die Regierungsentscheidung, nur diejenigen freizulassen, die keinen bewaffneten Kampf geführt hatten, eine wichtige Rolle. Die Lautaro und eine Fraktion der FPMR weigerten sich, die Waffen niederzulegen. Sie verteilten „zurückeroberte“ Lebensmittel an die Einwohner der armen poblaciones, verhalfen inhaftierten Genossen zur Flucht und brachten einige der berüchtigtsten Folterer um, etwa Hauptmann Montero, der im Sommer 1990 vor dem Moneda-Palast getötet wurde. Vor nicht allzu langer Zeit, am 31. Dezember 1996, organisierten Mitglieder der FPMR den spektakulären Hubschrauber-Ausbruch von vier ihrer Genossen.4

Nachdem die Lautaro und die FPMR mittlerweile durch die Repression zerschlagen sind, gibt es keine landesweite Organisation mehr, die den bewaffneten Kampf propagiert; nur wenn ehemalige Mitglieder dieser Organisationen, die immer noch von der Polizei gejagt werden, verhaftet werden, kommt es hin und wieder zu blutigen Auseinandersetzungen und Erschießungen.

Roxana Cerda (die Ehefrau von Victor González), seit 1984 im bewaffneten Kampf, wurde wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppierung zu 21 Jahren Gefängnis verurteilt, ohne daß ihr konkrete Taten vorgeworfen werden konnten. Zwei der gefangenen Frauen liegen im Krankenhaus: Marcela Rodriguez, genannt Mujer metralleta (Maschinengewehr-Frau), ist im November 1990 bei einer Befreiungsaktion für einen militanten Lautaro, der nach grausamen Folterungen ins Krankenhaus eingeliefert worden war, schwer verletzt worden und hat sich seither nicht erholt; Maria Christina San Juan ist heute als Folge polizeilicher Folterungen teilweise gelähmt.

Alle Häftlinge sind in den Tagen nach ihrer Verhaftung physisch und psychisch gefoltert worden. Verschiedene humanitäre Organisationen, denen kaum Kumpanei mit der Lautaro unterstellt werden kann, haben die Regierung Präsident Aylwins beschuldigt, weiterhin Methoden aus der Zeit der Militärdiktatur anzuwenden.5

Bei den achtzig männlichen Häftlingen des Hochsicherheitsgefängnisses (CAS) in der Pedro-Montt-de-Santiago-Straße ist die Lage deutlich härter. Das Gefängnis wurde von der demokratischen Regierung für jene errichtet, die sich nicht vom gewaltsamen Kampf losgesagt haben, und gilt als „brutale Verschärfung des chilenischen Strafvollzugs“6 . Um dem Vorwurf der Streitkräfte und der Rechten entgegenzutreten, der Strafvollzug sei zu locker und nachlässig, herrschen hier äußerst repressive Verhältnisse. Die Gefängnisleitung stützt sich auf die Erfahrungen von Experten aus vielen Ländern, unter anderem auf die Planer der deutschen Hochsicherheitstrakte. Es gibt mehr Wärter als Häftlinge, und nur direkten Familienangehörigen der Gefangenen sind – seltene – Besuche erlaubt. Nach dem spektakulären Ausbruch im Dezember 1996 wurden die Bedingungen weiter verschärft.

Wie soll man diese Härte nicht mit der Vorzugsbehandlung von Admiral Manuel Contreras vergleichen, dem einzigen engen Mitarbeiter General Pinochets, der nicht amnestiert worden ist? Admiral Contreras, erster Chef der Dina, der Geheimpolizei unter der Diktatur, wurde für den Mord an Orlando Letelier (Minister im Kabinett Allende) und dessen Sekretärin (einer amerikanischen Staatsangehörigen), den er 1976 auf US-amerikanischem Territorium organisiert hatte, zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Er ist in einem eigens für ihn erbauten Vier-Sterne- Gefängnis untergebracht und wird von Getreuen aus der Armee bewacht; es ist das Ende einer Tragikomödie, die es ihm erlaubte, seine sanfte Haft bis zum letzten Moment hinauszuschieben. Da er mit Enthüllungen droht, die seinem Meister Pinochet peinlich werden könnten, steht er bereits auf der Liste der Gefangenen, die demnächst für eine bedingte Freilassung in Frage kommen.7

Nur wenige Häftlinge in den Spezialgefängnissen halten am bewaffneten Kampf fest. Niemand kann glaubhaft machen, daß diese Männer und Frauen tatsächlich heute noch eine Gefahr darstellen. Daß ihnen die Amnestie verweigert wird, ist nur mit dem unversöhnlichen Rachewunsch der Hardliner in den Streitkräften zu erklären.8 Die einzige Lösung, die sich den Gefangenen momentan bietet, ist eine Art „Pentiti“-Gesetz: Strafminderung oder bedingte Freilassung im Austausch gegen Informationen über Genossen, die in der Illegalität geblieben sind ...

Auf jeden Fall dürfte der Entscheid, mit der Waffe in der Hand gegen die Amnestie für Folterer des Pinochet-Regimes protestiert zu haben, die Militanten teuer zu stehen kommen. Kaum jemand protestiert gegen ihre Behandlung – abgesehen von den Angehörigen-Vereinigungen, der Kommunistischen Partei Chiles, einigen linksextremen Grüppchen und relativ marginalen Publikationen wie Punto Final.9 „Diese Lücke im kollektiven Gedächtnis erklärt sich aus der völligen Merkantilisierung der chilenischen Gesellschaft“, schreibt der Soziologe Thomas Moulian. „Die Stabilität ist durch Schweigen erkauft. Obwohl es auch in den neuen Eliten ehemalige MIR-Genossen und Opfer des Pinochet-Terrors gibt, rechtfertigen sie ihre Kapitulation mit der allgemeinen Angst vor einer Wiederkehr der Diktatur. In diesem Kontext halbabsichtlichen Vergessens sind die politischen Häftlinge Teil der verdrängten Vergangenheit.“10

Tatsächlich scheint das chilenische „Wirtschaftswunder“ weite Teile der Gesellschaft versteinert zu haben, einschließlich der bekehrten ehemaligen Guerilleros. Den Menschen, auf deren Kosten dieses Wunder geht, läßt der alltägliche Kampf ums Überleben kaum Zeit, sich um die Kämpfer einer anderen Epoche Gedanken zu machen. Und die Jugend der ärmsten poblaciones, einst Teil der sozialen Basis von Lautaro und FPMR, wendet sich der Droge und der Kriminalität zu: jener weltweiten sozialen Devianz, die die politische Kaste weit weniger stört ...

dt. Barbara Heber-Schärer

* Journalist und Schriftsteller. Autor von „Chili con carne“, Paris (Gallimard, collection Folio) 1995.

Fußnoten: 1 Lautaro war der Name eines Indianers, der gegen die Spanier kämpfte. Die Bewegung der Lautaro entstand während der Diktatur General Pinochets als Abspaltung von der Mapu (einer christlichen Linkspartei). Sie propagierte den bewaffneten Kampf und setzte ihn auch nach dem Ende der Militärdiktatur im März 1990 fort. 2 Auch die FPMR, die während der Diktatur von der Chilenischen Kommunistischen Partei gegründet wurde und später unabhängig wurde, hat den bewaffneten Kampf nach der Wahl Präsident Aylwins im März 1990 fortgesetzt. 3 Partei der radikalen Linken, die bewaffnet gegen die Diktatur kämpfte und durch die Repression aufgerieben wurde. 4 Dieser Ausbruch war ein landesweiter Skandal, der Polizeichef mußte zurücktreten. Das Buch „El gran rescate“ („Der große Ausbruch“) von Ricardo Palma Salamanca, einem der Ausbrecher, ist in Chile ein Bestseller (Editions Punto Final, 1997). 5 Am 19. Juni 1997 gab die chilenische Sektion von amnesty international für 1996 zwanzig Fälle von Folterungen durch die Polizei an. 6 Für die Zeit seit 1991 zählte die Kommission zur Verteidigung der Rechte des Volkes (Codepu) 140 Fälle von Folterungen (Codepu, April 1994). 55 der zwischen 1990 und 1992 beobachteten Fälle sind vor die Vereinten Nationen gebracht worden (El Mercurio, 2. Mai 1992). 7 La Epoca, Santiago, 27. Februar 1995. 8 Von diesem Wunsch nach Rache zeugt auch, daß der Militärstaatsanwalt Sergio Cea für vier Lautaro- Militante in einem erstinstanzlichen Prozeß wegen Taten aus dem Jahr 1990 die Todesstrafe forderte. Siehe den Prozeßbericht in La Tercera vom 5. Mai 1998. 9 Zu erwähnen wäre hier auch Thomas Moulian, Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Arcis in Santiago de Chile, der sich etwa bereits zur Zeit des Baus des CAS deutlich gegen die unmenschlichen Haftbedingungen geäußert hatte. Siehe: „Alta seguridad y derechos humanos“ (Hochsicherheit und Menschenrechte), La Epoca, 17. März 1994). 10 Sein Buch „Chile Actual: Anatomia de un mito“, 1997 erschienen (Ediciones LOM/Universidad Arcis), war mit seinen bis heute 25000 verkauften Exemplaren ungewöhnlich erfolgreich.

Le Monde diplomatique vom 15.01.1999, von GÉRARD DELTEIL