15.01.1999

Chiles Vergangenheit will nciht vergehen

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Chiles Vergangenheit will nciht vergehen

Die juristische Auseinandersetzung um Augusto Pinochet ist noch nicht zu Ende und wird noch manche komplizierte Wendung nehmen: Nachdem der chilenische Exdiktator und Senator auf Lebenszeit am 16. Oktober in London verhaftet worden war, wurde ihm am 25. November die Immunität, die seine Auslieferung an Spanien verhindert hätte, durch die britischen Lordrichter abgesprochen; doch am 17. Dezember wurde einer der Lordrichter für befangen erklärt und der Richterspruch aufgehoben. Wie die Sache auch immer ausgehen mag, schon jetzt ist klar: Die Straffreiheit, die sich der Diktator 1978 selbst gewährte und die er der chilenischen Gesellschaft als Preis für die „nationale Versöhnung“ abgerungen hat, ist brüchig.

Wie weiter? Soll Pinochet, wie es die chilenische Rechte, die Armee, die Regierung von Eduardo Frei, Margaret Thatcher und – wenn auch eher leise – die US-Regierung fordern, nach Santiago zurückgeschickt werden? Gewiß wäre es zu wünschen, daß der Exdiktator im eigenen Land vor Gericht gestellt würde. Aber ist das Land bereit zu dieser Feuerprobe der Rechtsstaatlichkeit? Während die entschiedensten Gegner des Generals nach wie vor in Gefängnissen einsitzen, sind die politischen und rechtlichen Bedingungen nicht gegeben, um den alten Despoten zur Rechenschaft zu ziehen. Unter dem Schutz einer Verfassung, die von ihm selber stammt, müßte er sich bei einer Rückkehr keine großen Sorgen um seine Freiheit machen.

Die „Affäre Pinochet“ hat die weißen Flecken der „transición“ (des Übergangs zur Demokratie) überdeutlich werden lassen. Von einer wirklichen Demokratie ist Chile heute weiter entfernt, als manche noch vor wenigen Monaten dachten. Die Ereignisse haben außerdem deutlich gemacht, daß es keine Versöhnung ohne Gerechtigkeit gibt, weder in Chile noch anderswo.

Von unserem Korrespondenten JOSÉ MALDAVSKY *

SANTIAGO DE CHILE, fünf Uhr nachmittags. Das Thermometer zeigt dreiunddreißig Grad im Schatten. Die diesjährige Trockenheit hat dem Land einen ungewöhlich heißen Frühling beschert. Heiß sind auch die Diskussionen, zum Beispiel in der Familie Tapia-Courbis. Der achtundfünfzigjährige Arzt Miguel und seine Frau Elisa, Chefin eines Reisebüros, wollen heute zur regelmäßig stattfindenden Demonstration zur Unterstützung von General Augusto Pinochet vor die britische Botschaft. Doch in Chile wie in London ist um fünf Uhr traditionellerweise „tea time“: Zwei Arten also, sich mit dem General zu solidarisieren, der seit über zwei Wochen in der englischen Hauptstadt unter Arrest steht.

Miguel und Elisa waren zur Zeit von Salvador Allende etwas über dreißig. Sie gehören zum Bürgertum, und gerade ihre Generation war es, die vehement gegen die sozialistische Regierung der Unidad Popular opponiert hatte. Beim Putsch 1973 ließen sie die Sektkorken knallen. „In den siebzehn Jahren der Diktatur“, erinnert sich Miguel wehmütig, „herrschte bei uns Ruhe und Ordnung; so konnte sich das Land wirtschaftlich zum Tigerstaat Lateinamerikas entwickeln.“ Elisa wendet sich an die achtzehnjährige Tochter Veronica: „Ja, es stimmt, in den ersten Tagen hat es von seiten des Militärs Ausschreitungen gegeben, aber schließlich ging es um ,Sie oder wir‘. Die Marxisten wollten uns fertigmachen. Also haben wir die Militärs gebeten einzugreifen. Und jetzt wird der Mann, der Chile gerettet hat, in London gedemütigt. Eine Schande ist das.“

Veronica hört ihrer Mutter schweigend zu. Zögernd und etwas ängstlich erzählt die Studentin der Theater- und Literaturwissenschaft, daß sie sich am Vortag in Santiago eine Ausstellung über die Verschwundenen angesehen hat. „Ich hatte immer die Vorstellung, daß es sich bei den Verschwundenen um ermordete Erwachsene handelt, deren Leichen nie gefunden wurden. Aber daß es auch Kinder gab, die gefoltert und ermordet wurden, war für mich ein Schock. Ich habe davon nichts gewußt“, beteuert sie.

„Sei nicht naiv“, antwortet ihre Mutter spitz. „Die Linke weiß genau, wie man die Gefühle der Menschen politisch ausschlachtet.“ Und der Vater fährt fort: „Die Verschwundenen wurden doch ins Meer geworfen. Wie will man denn da ihre Körper wiedergefunden haben? Die haben doch längst die Fische gefressen.“

Veronica blickt ungläubig und murmelt: „Solange Pinochet am Leben ist, wird es keinen Frieden im Land geben.“ Auch Alberto, ihr zweiundzwanzigjähriger Bruder, der sich eigentlich mehr für Fußball als für Politik interessiert, ist verärgert über die Äußerungen seines Vaters. Seiner Ansicht nach verfügt das Land zwar nicht über die notwendigen Voraussetzungen, um Pinochet vor Gericht zu stellen, aber im Sinne einer Versöhnung wäre es besser, „wenn er zurückkommen und sich ganz zurückziehen würde“.

Der Streit, der den Frieden der Familie Tapia-Courbis stört, durchzieht die gesamte Gesellschaft. Nachdem im Jahr 1988 Pinochet mit seinem Referendum über die Fortsetzung seiner Diktatur gescheitert war, war ein Prozeß der „nationalen Versöhnung“ in Gang gekommen, der mit der Wahl des Christdemokraten Aylwin am 14. Dezember 1989 bekräftigt wurde; durch die Verhaftung des Exdiktators und Senators auf Lebenszeit steht nun die Versöhnung auf dem Prüfstand.

Unter dem Druck der Armee, die ein – wie es in Santiago heißt – „chilenisches Waterloo“ oder „chilenisches Falkland“ heraufbeschwört, hat Präsident Eduardo Frei sich zum entschiedenen Verteidiger des Generals gemacht. Bereits am 9. April 1998 hatte er Pinochet vor einem „politischen Strafverfahren“ bewahrt, das elf Parlamentarier im Abgeordnetenhaus gegen ihn angestrengt hatten. Den Streitkräften jedoch ist sein Einsatz nicht entschieden genug: Sie halten ihm vor, daß er die diplomatischen Beziehungen zu England und Spanien hätte abbrechen müssen. Immerhin: offiziell dementieren die Armeechefs jegliche Putschabsichten – eine keineswegs überflüssige Klarstellung, nachdem bei einem Treffen von hundertfünfzig pensionierten Offizieren mit Ricardo Izurieta, dem Oberbefehlshaber der Armee, Exgeneral Eugenio Videla erklärt hatte: „Aufgrund der Willkür und Gewalt glauben heute immer mehr Chilenen, daß nur eine Rückkehr zur Militärdiktatur die Ordnung in Chile wiederherstellen kann.“1

Angst vor dem Chaos

DASS sich die Vereinigten Staaten am 1. Dezember 1998 öffentlich für die Rückführung Pinochets nach Chile eingesetzt haben, kommt nicht von ungefähr. Zwar erklärte Außenministerin Madeleine Albright am 3. Dezember, daß die USA in Lateinamerika „fürchterliche Fehler“ begangen hätten, und ließ durchblicken, daß einer dieser Fehler die Unterstützung des Staatsstreichs von General Pinochet gewesen sei2 , doch fürchtet Washington, daß der „englische Patient“, sollte er nach Madrid ausgeliefert werden, ebendort dem Untersuchungsrichter Baltasar Garzón einiges über die „Operation Condor“ erzählen könnte, jenes Bündnis lateinamerikanischer Diktaturen gegen die organisierte Linke, das von den chilenischen Militärs angeführt, aber von Washington koordiniert worden war. Dessenungeachtet unterstützen die USA bislang den Demokratisierungsprozeß in Chile, zumindest solange die gegenwärtige Regierungskoalition den Neoliberalismus des Militärregimes uneingeschränkt fortsetzt und die privatwirtschaftlichen Interessen wahrt.

Die chilenische Rechte ihrerseits kennt keine Skrupel, Ängste in der Bevölkerung zu schüren. So beschwört der konservative Senator Ignacio Walker „die Gefahren, die der Demokratie drohen, wenn der Senator auf Lebenszeit nicht unverzüglich seinen angestammten Platz im Oberhaus wieder einnimmt“. Er wendet sich damit an jene Teile der Bevölkerung, die sich vor Chaos und Anarchie fürchten und dabei das Wirtschaftschaos vor Augen haben, welches die Unternehmer mit Unterstützung der USA gegen Ende der Regierung Allende im Lande organisiert hatten.3 Siebzehn Jahre militärische Herrschaft und die Zugehörigkeit des Exdiktators zum Senat haben die chilenische Gesellschaft wohl für sehr lange Zeit gezeichnet.

Die Wahrscheinlichkeit eines Staatsstreichs dürfte indes gering sein; ernst genommen werden dagegen Gerüchte über terroristische Attentatsdrohungen gegen sozialistische Persönlichkeiten von seiten rechtsextremer Gruppierungen, die zur Zeit von Allendes Unidad Popular entstanden sind und – wie etwa die faschistische Bewegung „Freiheit und Vaterland“ – traurige Berühmtheit erlangt haben. Das ist es, was die Öffentlichkeit tatsächlich beunruhigt. Als bevorzugte Ziele der Extremisten gelten der Präsident der Sozialistischen Partei, Ricardo Nuñez, der sozialistische Senator Carlos Ominami und der sozialistische Exsenator Carlos Altamirano. Doch soll die Obrigkeit die Presse angewiesen haben, die Öffentlichkeit nicht in Panik zu versetzen.

Als Reaktion auf die Meinungsumfragen, denen zufolge 70 Prozent der Bevölkerung es befürworten würden, Pinochet in Chile oder im Ausland vor Gericht zu stellen, haben die in der Regierungskoalition Concertación4 vertretenen Sozialisten betont, daß für einen Prozeß gegen den Exdiktator in Santiago „keine Garantie“ gegeben werden könne; sie taten dies in einem Brief an den britischen Innenminister Jack Straw im Vorfeld von dessen Entscheidung über die Auslieferung Pinochets an Spanien (die am 9. Dezember positiv ausfiel). Damit gingen die Sozialisten offen auf Konfrontationskurs gegen Präsident Frei, der Pinochets Rückkehr nach Chile verlangt, und gefährdeten den Bestand der Concertación, erwiesen allerdings dem Andenken ihres Gründervaters Salvador Allende die Treue.

„Dies ist eine Verletzung der Souveränität unseres Vaterlandes. Wir brauchen eine Regierung der nationalen Rettung, das heißt der nationalen Einheit unter Einbeziehung der Militärs“, ereiferte sich der konservative Vizepräsident des Senats, Mario Rios, als die britische Entscheidung bekannt wurde.

Die Chancen der Rechten, mit einem ihrer Kandidaten die Präsidentschaftswahlen im Dezember 1999 zu gewinnen, sind äußerst gering. Darum machen sie sich die Affäre Pinochet geschickt zunutze, um sich für eine Koalition mit den Christdemokraten anzubieten und die Linke in die Opposition zu drängen, deren Spitzenkandidat, Ricardo Lagos, gerade jetzt die besten Aussichten hat, Präsident Frei im Amt abzulösen.

Ricardo Lagos aber ist klug genug zu wissen, daß er bei der nächsten Wahl nicht nur auf die Stimmen der 4 Millionen Armen angewiesen ist, die fast ein Drittel der chilenischen Bevölkerung ausmachen (Chile hat 14,5 Millionen Einwohner) und von der Asienkrise am stärksten betroffen sind. Wenn er gewinnen will, ist für ihn auch die Unterstützung der eher gemäßigten Mittelschicht unverzichtbar, die bereit wäre, die Verbrechen der Diktatur zu vergessen, um ihre wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen.

Zusammen mit der Kommunistischen Partei (die zwar 7 Prozent der Stimmen erhielt, aber nicht im Parlament vertreten ist) kontrollieren die Sozialisten die meisten Arbeiterbezirke des Landes. Ihre gewählten Vertreter sind zunehmend beunruhigt über die ständig steigende Arbeitslosigkeit, die nach offiziellen Angaben bei 6,5 Prozent, privaten Meinungsforschungsinstituten zufolge bei 11 Prozent liegt. „Der Tiger unter den lateinamerikanischen Volkswirtschaften, der mit seinem schon über zehn Jahre währenden Wachstum von jährlich 7,5 Prozent als Musterbeispiel des Neoliberalismus gehandelt wird, hat seinen Biß verloren. In diesem Jahr ist mit einem Wachstum von nicht über 4 Prozent zu rechnen“, sagt Gaston Muñoz, stellvertretender Bürgermeister von La Pintana, einem betroffenen Stadtbezirk im Süden Santiagos.

In einer der kleinen, staubigen Straßen spielt eine Gruppe von Kindern vor der Tür eines armseligen Holzhauses mit den plattgetretenen Kronkorken von Colaflaschen. Die nackten Oberkörper verraten ihre schlechte Ernährung. Die Wände im Innern der Behausung sind mit Pappkartons verkleidet, um Schutz gegen die winterliche Kälte zu bieten. Der Vater Luis Morales, ein arbeitsloser Zimmermann, kocht gerade Nudeln für seine sechs zwischen zwei und dreizehn Jahre alten Kinder. Seine Frau hat ihn verlassen, weil sie das Elend nicht mehr ertragen konnte, und „Kramer“, wie ihn seine Nachbarn nennen, kümmert sich allein um seine Familie.

Mit seiner Grundschulausbildung hat Morales keine Chance, eine Anstellung in der Verwaltung, in einem Supermarkt oder einer Fabrik zu finden. Zu seinem Unglück steckt der Bausektor in einer tiefen Rezession, und eine Arbeitslosenversicherung gibt es nicht. Er lebt von den rund 8 Dollar, die er jeden Monat von der Familienhilfe überwiesen bekommt – das entspricht einem Fünftel des Mindestlohns. „Mit diesem Geld kann ich meine Kinder nicht ernähren. Bald ist Weihnachten, und ich habe nicht einmal das Geld, um Schuhe oder ein Spielzeug zu kaufen“, sagt er und bricht in Tränen aus. Für Morales und 30 Prozent der Chilenen, die wie er im Elend leben, gibt es wichtigere Sorgen als das Schicksal von General Pinochet. Dabei ist die Erinnerung an die Diktatur so wach, daß er neun Jahre nach ihrem Ende immer noch Angst hat, offen darüber zu sprechen. „Wenn ich Ihnen sage, was ich über die Affäre Pinochet denke, kann es sein, daß sie herkommen, mir die Kinder wegnehmen und mich ins Gefängnis stecken. Besuchen Sie die Leute von der Pinochet-Stiftung. Die können Ihnen darüber Auskunft geben.“

In der Pinochet-Stiftung gießt der Gärtner die Pflanzen, während neben ihm eine Gruppe von Frauen damit beschäftigt ist, einen Charterflug nach London zu organisieren, um den General vor Ort zu unterstützen. Elisa Courbis ist über ihr Touristenbüro damit beauftragt, die Reise zu organisieren. Unterstützt wird sie von der Frau von Cristián Labbé, Oberst im Ruhestand und amtierender Bürgermeister des Nobelviertels Providencia. „Seit el tata [Papa Pinochet] in London in Haft sitzt, hat mein Mann Befehl gegeben, den Müll der englischen und der spanischen Botschaft nicht mehr zu entsorgen“, brüstet sich Barbara Labbé.

Noch 1988 hatte General Pinochet verkündet, „in Chile würde kein Blatt vom Baum fallen, ohne daß er darüber informiert sei. Heute weiß er plötzlich von nichts“, sagt Estela Ortiz, deren Mann 1985 zusammen mit zwei anderen Kommunisten von der Polizei ermordet wurde (der Vater, Fernando Ortiz, ist seit 1976 vermißt gemeldet). Um den Aufruhr in der Bevölkerung zu beschwichtigen, wurde der Polizeigeneral César Mendoza damals von Pinochet geopfert und kaltgestellt. Dank der Hartnäckigkeit eines Richters, Milton Juica, wurden die drei Polizisten, die jene Morde verübt hatten, 1995 vom Obersten Gerichtshof zu lebenslanger Haft verurteilt.

Milton Juica, der einzige Staatsbeamte, dem es gelungen ist, ehemalige Folterer ins Gefängnis zu bringen, hat seine Kühnheit teuer bezahlt. „Meine Frau erhält immer noch Telefonanrufe, in denen man droht, meinen Sohn zu ermorden. Als die gegenwärtige Regierung meine Kandidatur für einen Richterstuhl am Obersten Gerichtshof einreichte, haben Pinochet und die von den Streitkräften ernannten Senatoren geschlossen meine Ernennung verhindert.6 (...) Aber obwohl ich die Idee zur Schaffung eines Internationalen Gerichtshofes sehr begrüße, bin ich der Meinung, daß Pinochet nach Chile zurückkehren muß. Die nationale Versöhnung hängt davon ab.“

Wenngleich die Regierung Aylwin 1990 für die Einleitung des Demokratisierungsprozesses den Militärs Zugeständnisse machen und eine von und für Pinochet maßgeschneiderte Verfassung absegnen mußte, ist jene „nationale Versöhnung“ allein offensichtlich nicht mehr in der Lage, die Wunden zu heilen. Um die Tür zur Zukunft aufzustoßen, muß sich Chile seiner Vergangenheit stellen.

Der chilenische Schriftsteller Marco Antonio de la Parra schrieb in einem offenen Brief an Pinochet: „Sie haben viele von uns zu Feiglingen und Verrätern an den eigenen Prinzipien gemacht. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt eigene Prinzipien entwickelt habe (...).“7 Die Opfer der Unterdrückung haben das Gefühl, daß die Verhaftung Pinochets ihnen ihre „verlorene Würde“ wiedergegeben hat, bestätigt Estela Ortiz. „Bleibt die Frage“, betont José Miguel Varas, Chefredakteur der chilenischen Kulturzeitung Rocinante, „ob die chilenische Gesellschaft heute imstande ist, zu einer echten Demokratie zurückzufinden; ob es ihr gelingt, die Kontrolle durch ein Militär abzuschütteln, das der ,englische Patient‘ vom Senat aus dirigiert. Seine Verhaftung ist ein Akt der Gerechtigkeit, der unerläßlich ist, wenn die Spaltung der Gesellschaft überwunden werden soll.“

Obwohl die Mehrheit der Chilenen die terroristischen Drohungen der extremen Rechten verurteilt, steckt die Demokratie immer noch in den Kinderschuhen. „Wenn ein Land eine Diktatur wie die unsere erlebt hat“, so das Fazit von Estela Ortiz, „ist es die Aufgabe der nachfolgenden Generationen, dauerhaft die Demokratie durchzusetzen.“

Paradox der Geschichte: Ausgerechnet Pinochet, der den blutigen Sturz Salvador Allendes zu verantworten hat und von sich sagt, er trage „absolut keine Schuld an den Verbrechen und Taten“, die ihm „irrationalerweise“ angelastet würden8 – ausgerechnet seine Person bringt heute in der Gesellschaft einen Prozeß der Reinigung in Gang, egal wie die Sache für ihn selber ausgehen wird. Noch sind die Wunden zu frisch und eine reale Versöhnung nicht absehbar. Doch vielleicht finden die Chilenen nunmehr zu einem friedlichen Zusammenleben, ja: zu einer neuen Einheit, wenn es gelingt, die Verbrechen der Vergangenheit vor Gericht zu bringen.

dt. Christian Hansen

* Journalist, Paris.

Fußnoten: 1 La Tercera, Santiago de Chile, 9. Dezember 1998. 2 Le Monde, 5. Dezember 1998. Siehe dazu auch „Quand Nixon voulait étrangler le Chili“, Le Monde, 11. Dezember 1998. 3 Peter Kornbluh hat in der Monatszeitung The Consortium for Independent Journalism (Washington, 16. Oktober 1998) einen Artikel veröffentlicht, der sich anhand von Dokumenten der George Washington University mit dem „Staatsstreich in Chile“ und mit Edward Korry beschäftigt, der 1973 Botschafter der Vereinigten Staaten in Santiago war. 4 Die Concertación ist ein Zusammenschluß von Christdemokraten, Radikalen und Sozialisten. 5 In Chile sind gegen Pinochet achtzehn Klagen anhängig, mit deren Untersuchung der Richter Juan Guzman betraut ist. Das Berufungsgericht in Santiago hat darüber zu entscheiden, ob einer Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Angeklagten zuzustimmen ist oder ob die ihm angelasteten Taten unter das Amnestiegesetz fallen. Sollte seine Immunität aufgehoben werden, kann ein Militärrichter beim Obersten Gerichtshof (zu deren Mitgliedern auch der Generalkontrolleur der Armee gehört) die Unzuständigkeit der zivilen Gerichte beantragen. 6 Dank der maßgeblich von Pinochet gestalteten Verfassung sitzen im Senat neben den 38 vom Volk gewählten Vertretern neun „ernannte“ Senatoren, eine Art Sperrminorität, deren Veto jede Reform der Verfassung unterbinden kann. 7 „Catra abierta a Pinochet: monólogo de la clase media chilena con su padre“, Santiago de Chile (Planeta) 1998 („Offener Brief an Pinochet: Monolog der chilenischen Mittelklasse mit ihrem Vater“). 8 Augusto Pinochet, „Brief an das chilenische Volk“, 11. Dezember 1998.

Le Monde diplomatique vom 15.01.1999, von JOSÉ MALDAVSKY