15.01.1999

Die wundersame Staatenvermehrung

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Die wundersame Staatenvermehrung

Von PASCAL BONIFACE *

DIE Atomtests in Indien und Pakistan haben das Problem der Atomwaffenproliferation wieder auf die internationale Tagesordnung gesetzt. Doch parallel zu dieser bekannten strategischen Herausforderung entsteht ein neues Problem, das der internationalen Stabilität noch gefährlicher werden könnte: die Staatenproliferation.

Die weltweite staatliche Zersplitterung ist ein Phänomen, das über die Nord-Süd- und Ost-West-Spaltungen hinausgeht.1 Besonders auffällig ist es in ehemaligen Vielvölkerstaaten wie der Sowjetunion oder dem ehemaligen Jugoslawien. Aber eine Zerfallstendenz besteht generell, von Quebec bis Sri Lanka, von China bis Großbritannien, und auch in Afrika, wo das Prinzip, die aus der Kolonialzeit stammenden Grenzen beizubehalten, 1993 mit der Anerkennung Eritreas zum ersten Mal durchbrochen wurde. Angesichts der ethnischen und politischen Spannungen in Somalia, Angola, Kongo, Liberia, Dschibuti und einem Dutzend weiterer Staaten könnte dieses Prinzip noch weit stärker ins Wanken geraten.

Wahrscheinlich wird die Tendenz zur Staatenvermehrung in den kommenden Jahren zunehmen und auch auf Länder übergreifen, die heute noch als unbestrittene Einheit gelten. China, das bevölkerungsreichste Land überhaupt, könnte sich als weniger monolithisch erweisen, als man denkt. Ganz zu schweigen von Tibet, streben seine Randprovinzen seit langem nach Unabhängigkeit, und selbst in den Han-Regionen könnten die Wirtschaftsreformen eine Separationsdynamik in Gang setzen.

Auch Indien steht unter starkem sezessionistischem Druck. An der Grenze zu Pakistan kämpfen die Sikhs für die Gründung eines unabhängigen Khalistan, am Fuß des Himalaya droht die Abspaltung Gurkhas, und in Kaschmir sieht sich die indische Regierung seit Jahrzehnten mit einer islamischen Separatistenbewegung konfrontiert.

Indonesien mit seinen 18000 Inseln und fast 200 Millionen Einwohnern, die 500 verschiedenen ethnischen Gruppen angehören, muß ebenfalls um seine Einheit fürchten; dabei geht es nicht nur um das 1976 annektierte Ost-Timor. Das Land droht in mehrere Staaten auseinanderzubrechen, die sich teilweise erhoffen, zu neuen Singapurs zu werden.

In Brasilien stehen Nord und Süd gegeneinander. Die Einwohner des reichen Südens beklagen sich, einen armen Norden subventionieren zu müssen; einige würden sich gerne der Landesteile nördlich von Rio de Janeiro entledigen. „Der Separatismus“, erklärt der Führer einer Separationsbewegung, „ist für Brasilien die einzige Möglichkeit, seine Rückständigkeit zu überwinden.“

Das gleiche Phänomen gibt es in Mexiko, wo ein armer, stark indianisch geprägter und zunehmend gewaltsamer Süden einen demokratischen, entwickelten und relativ wohlhabenden Norden stört. Aus diesem Gegensatz heraus ist die Revolte in Chiapas entstanden und erhält dauernd Nahrung durch die wirtschaftlich prekäre Situation. Die politischen Parteien in Mexiko sind Ausdruck dieser Kluft: der neoliberale, den Geschäftsleuten nahestehende Partido Acción Nacional (PAN) stützt sich auf den Norden, während der etatistische, auf klientelistische Umverteilung setzende Partido Revolucionario Institucional (PRI) seine besten Wahlergebnise im Süden erzielt.

Während in Tschetschenien ethnische und religiöse Gründe für den Sezessionswunsch ausschlaggebend sind, ist die Lage in den übrigen Regionen der Föderation eine andere. Die Republik Tuwa etwa, an der mongolischen Grenze gelegen, maßt sich das Recht an, ihr Territorium selber zu verteidigen. Die Republiken Tatarstan und Baschkirien haben Freundschafts- und Kooperationsverträge mit Abchasien unterzeichnet, das wiederum eine autonome Region des im Zerfall der UdSSR entstandenen Georgien ist.

Doch nicht nur die großen Länder müssen sich mit dem Sezessionismus herumschlagen. Im Pazifik kämpft Neuguinea gegen den möglichen Verlust des gewaltigen Kupfergebirges der Insel Bougainville. Abgesehen von nationalistischen Gefühlen liegt einer der Hauptgründe für die separatistische Agitation im Widerstreben der Einwohner, den Reichtum der Insel mit den – weniger wohlhabenden – Neuguineern zu teilen. Auch der Wunsch des Südsudan, sich von Khartum zu emanzipieren, beruht vermutlich nicht nur auf Motiven ethnischer (Afrikaner gegen Araber) oder religiöser (Christen und Animisten gegen Muslime) Zugehörigkeit, sondern auch auf der Tatsache, daß die reichen Erdölvorkommen des Landes im Süden liegen. Und doch greift man wieder einmal auf die nationalen und ethnischen Unterschiede zurück, um ein Phänomen zu erklären, dessen Ursache in erster Linie der Wunsch nach größerem Wohlstand ist.

Selbst in Westeuropa – das geradezu als Symbol für militärische Sicherheit, Wirtschaftswachstum und Unverletztlichkeit des Territoriums galt – scheint eine Sezessionsbewegung in Gang zu kommen. Die Zahlen sprechen für sich: im Jahr 1923 zählte Europa 23 Staaten mit Grenzen von insgesamt 18000 Kilometer Länge; 1998 sind es 50 Staaten mit Grenzen von 40000 Kilometer Länge. Wie wird es wohl in zehn Jahren aussehen?

Viele Staaten sind im Gefolge von Kriegen entstanden. In Europa verringerte sich die Zahl der politischen Einheiten von rund 500 im Jahr 1500 auf einige Dutzend zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei die meisten von ihnen von größeren Staatsgebilden gewaltsam vereinnahmt wurden. Heute hat sich das Phänomen umgekehrt. Kriege entstehen nicht mehr um die Vereinnahmung von Staaten, sondern um ihre Abspaltung – nicht durch den Willen, große Imperien zu schaffen, sondern durch die Balkanisierung der Welt. Der Sezessionismus stellt eine schwerwiegende Bedrohung des Friedens dar.

Die Abspaltungen haben nichts mit Kriegen für die Unabhängigkeit gemein. Zwar geht es beiden um eine oft verweigerte Identität im Rahmen eines großen Staatszusammenhangs. Doch das eigentliche Motiv ist nicht die Verteidigung einer bedrohten Identität, sondern vielmehr die Absicht, sich von den „anderen“ zu trennen und allein von den Reichtümern des Landes zu profitieren, die man bis dahin „ungerechterweise teilen mußte“. In den meisten Fällen wurzeln die sezessionistischen Bestrebungen nicht in einem unbändigen Freiheitsverlangen, sondern in der Überzeugung, daß in diesen harten Zeiten Wohlstand eher im Rahmen einer kleinen Einheit zu erreichen ist als in der Unermeßlichkeit eines größeren Zusammenhangs. Das hat die Slowenen dazu veranlaßt, die Jugoslawische Föderation zu verlassen. Der Zerfall der UdSSR erklärt sich zum großen Teil aus dem Bestreben der Slawen, nicht mehr die Last der Republiken Zentralasiens tragen zu müssen.

Es scheint sich um eine allgemeine Tendenz zu handeln, die alle Kontinente erfaßt hat: ein Streben nach kleinen Einheiten in der Hoffnung, so durch das Nadelöhr zum wirtschaftlichen Wohlstand zu passen. Überall wünscht man, daß der Staat sich unnützer Lasten, das heißt derjenigen Regionen entledigt, die das Bruttoinlandsprodukt drücken.

Die wohlhabenderen Tschechen haben sich nationalistischer Parolen bedient, um die Slowakei loszuwerden. Früher hätte man die slowakischen Forderungen bestenfalls ignoriert, schlimmstenfalls unterdrückt. Der Wunsch nach Teilung wäre als Anschlag auf die tschechischen Interessen und als schädlich für die Einheit und die Macht des Staates aufgefaßt worden. Während die geographische Größe vorher als Unterpfand einer großen internationalen Wertschätzung galt, wurde sie in diesem Fall vor allem als Hindernis für den Wohlstand betrachtet.

Bestätigt wird diese Tendenz auch durch das Beispiel Ungarn, obwohl sich hier im Vergleich zur Tschechoslowakei die umgekehrte Situation darbietet. Wenn Ungarn jeden Irredentismus2 aufgegeben hat, dann hauptsächlich aus ökonomischen Gründen. Die Ungarn träumen vom Anschluß an die Europäische Union – doch der ist mit der ökonomischen Bürde, die die Aufnahme der ungarischen Minoritäten aus den ärmeren Ländern Rumänien und Slowakei mit sich bringen würde, nicht vereinbar. Die Suche nach ökonomischer Effizienz hat die Vision eines Großungarn verdrängt, auch wenn die nationalistische Propaganda noch nicht ganz verschwunden ist. Das gleiche Phänomen zeigt sich überall auf der Welt. Angesichts des Präzedenzfalls der deutschen Wiedervereinigung, deren ungeheure Kosten nicht vergessen sind, haben die Südkoreaner auf eine rasche Wiedervereinigung der Halbinsel verzichtet, obwohl diese offiziell noch immer zu den Prioritäten zählt. Die Begründung ist unwiderlegbar: Wenn das reiche West- Deutschland schon so große Schwierigkeiten hat, seine Osthälfte zu verkraften, wie soll dann Süd-Korea, das der BRD ökonomisch kaum das Wasser reichen kann, eine Vereinigung mit Nord-Korea überstehen können, das zudem noch erstarrter ist, als die DDR es war?

In Norditalien ist die Lega Nord damit populär geworden, daß sie die Möglichkeit einer Trennung von dem so teuren und unproduktiven Süden des Landes vorgaukelte. Im 19. Jahrhundert hingegen wurde die Einigung Italiens, die den leidvollen Zwistigkeiten auf der Halbinsel ein Ende setzte, als treibende Kraft der Entwicklung gesehen und als Möglichkeit, auf der internationalen Bühne einen höheren Status zu erlangen.

In Spanien ist der regionale Nationalismus in den wohlhabenden und hochindustrialisierten Regionen (Katalonien und Baskenland) am stärksten. Die katalanischen und baskischen Forderungen richten sich weniger an Madrid als an die armen Regionen wie Andalusien, Estremadura oder Asturien, in denen die nationalistischen Betrebungen nur schwach ausgeprägt sind.

„Die Hölle, das sind die anderen“, scheinen sich die Sezessionisten aller Länder auf ihr Banner geschrieben zu haben, um sich um diejenigen Regionen ihrer Länder zu erleichtern, deren Armut das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt herunterdrückt. In einigen Fällen versucht eine Mehrheit, sich von einer als unproduktiv betrachteten Minderheit zu trennen; in anderen versucht eine Minderheit, ihre Zukunft durch die Loslösung von einer bedürftigen Mehrheit zu verbessern. In beiden Fällen sucht man die Lösung im „Abwerfen“ der Unerwünschten und hofft auf ein Leben in größerem Wohlstand, wenn erst einmal das Zusammenleben beendet ist.

Der allgemein zu beobachtende Verlust des gesellschaftlichen Bandes zwischen den Menschen (die Reichen sind immer weniger mit den Armen solidarisch) betrifft auch die Völker. Die Profitgier, das Streben nach Wohlstand und der hemmungslose Konsumismus scheinen zum neuen Motor der Geschichte geworden zu sein. Ruhm, Nationalstolz, Gemeinwohl, öffentliches Interesse und der Wille zur Machtausübung überlassen materiellen Beweggründen das Feld. Wenn hier und da eine Bewegung doch einmal die Fahne hochzuhalten scheint, ist es nur ein Trugbild.

Oftmals werden Nationalgefühl und kulturelle Verbundenheit nur dazu verwandt, das kurzfristige ökonomische Interesse besser zu kaschieren. Die Welt befindet sich heute im Zeitalter der Staatenvermehrung; sie scheint vom Sturm des Sezessionismus ergriffen, doch offenkundig handelt es sich in erster Linie um ein strategisches cocooning.

dt. Sigrid Vagt

* Leiter des Instituts für internationale und strategische Studien (Institut de relations internationales et stratégiques, IRIS), Paris.

Fußnoten: 1 Vgl. Ignacio Ramonet, „Die neuen Herren der Welt. Internationale Politik an der Jahrtausendwende“, aus dem Franz. v. Gabriela Zehnder, Zürich (Rotpunkt) 1998. 2 Der Irredentismus ist eine nationalistische Doktrin, die die Annexion benachbarter grenznaher Territorien befürwortet, indem sie sich auf sprachliche, religiöse oder ethnische Übereinstimmung beruft.

Le Monde diplomatique vom 15.01.1999, von PASCAL BONIFACE