15.01.1999

Dritter Weg für den Welthandel

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Dritter Weg für den Welthandel

DAS ultraliberale Globalisierungsmodell gleicht einem Flugzeug, dessen Triebwerke der Reihe nach ausfallen, bis nur noch eines übrig ist. Nach der Krise der Finanzmärkte und dem Scheitern der MAI-Verhandlungen bleibt ihm als letzte Zuflucht nur noch das Dogma vom Freihandel. Der Kreuzzug für weltweiten Freihandel, auf den sich das Programm der Globalisierungs-Fundamentalisten reduziert, könnte dazu führen, daß sich die sozialen Katastrophen in Ostasien, Rußland und Lateinamerika auf die ganze Welt ausbreiten. Doch genau dieser Doktrin haben sich die meisten führenden Politiker bedenkenlos verschrieben.

Von BERNARD CASSEN

„Hände weg vom Freihandel!“ Kaum eine Woche vergeht, ohne daß die angelsächsische Finanzpresse, die dem Ultraliberalismus als einem über jeden Zweifel erhabenen Dogma huldigt, die Alarmglocke läutet. Dabei beteuern doch die meisten Regierungen dieser Welt längst mit der nervtötenden Regelmäßigkeit eines Rituals ihre freihändlerische Gesinnung und singen unaufhörlich ihre Lobeshymnen auf die Welthandelsorganisation (WTO).

Weil ihr unerbittlicher Glaube an den Freihandel fast schon religiöse Züge annimmt, haben die Leitartikler des Wall Street Journal, der Financial Times und des Economist hochempfindliche „Antennen“ entwickelt, mit denen sie schon die kleinsten Glaubenszweifel registrieren, von denen ihre weniger sektiererischen Pressekollegen noch gar nichts mitbekommen. Sie erinnern damit an gewisse Tiere, die ein bevorstehendes Erdbeben schon lange vor den Seismographen wahrnehmen.

Nun gibt es für ihre Beunruhigung durchaus gute Gründe. Die Finanzkrise hat bereits zwei Pfeiler ihrer heiligen Dreieinigkeit erschüttert, weshalb sie auch um den dritten schon fürchten müssen. Die von IWF, OECD, WTO, der Europäischen Kommission und ihren Gesinnungsgenossen betriebene Globalisierung beruht auf drei grenzüberschreitenden „Freiheiten“, die sich jeder demokratischen Regulierung entziehen: Freiheit des Kapitalverkehrs, Freiheit der Investitionen und Freiheit des Güter- und Dienstleistungsverkehrs.

Die Ausbreitung des asiatischen Finanzbebens hat selbst die erbittertsten Verfechter absolut freier Finanzmärkte zu einem radikalen ideologischen Kurswechsel veranlaßt. Daß die internationalen Finanzströme in einen gewissen Regulierungsrahmen eingebettet werden müssen, gilt in diesen Kreisen schon als Minimalposition. Maximal würde man sogar, zumindest in bestimmten Fällen und vorübergehend, eine Devisenkontrolle dulden, was bis vor kurzem noch als absolute Ketzerei gegolten hatte. Jedenfalls herrscht einhellig die Meinung, daß man einen gewissen Preis zahlen muß, um zu verhindern, daß sich das durchgedrehte System selbst zerstört.

Die zweite „Freiheit“, die Freiheit der Investoren, sollte das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) für alle Zeiten festschreiben, das aber dank massiven Widerstands in vielen Ländern zu Fall gebracht werden konnte. Das Signal zum Abbruch der geheimen Verhandlungen gab dabei die französische Regierung, die sich am 20. Oktober 1998 vom runden Tisch der OECD zurückzog, an dem sich 29 Staaten über Jahre an der Beratung des Projekts beteiligt hatten.1 Immerhin hatten der französische Premier Lionel Jospin und sein Wirtschafts- und Finanzminister Dominique Strauss-Kahn achtzehn Monate gebraucht, um offiziell einzugestehen, daß dieses Abkommen „nicht reformierbar“ ist, das sie zunächst – mit einigen einschränkenden Bestimmungen versehen – hatten unterschreiben wollen. Nachdem das Projekt im Rahmen der OECD gestorben ist, wird es zwar gewiß von der WTO erneut auf die Tagesordnung gesetzt werden, aber es wird inzwischen derart mißtrauisch beäugt, daß es nicht unbeschädigt durchkommen wird.

Die Anhänger der dritten „Freiheit“, der des Handels, zerfallen in zwei Lager: die Laizisten und die Fundamentalisten.

Die Laizisten plappern nur noch nach, was sie seit Jahrzehnten, ja seit David Ricardos (1772-1823) Zeiten in immergleichen akademischen Lehrbüchern über komparative Kostenvorteile gelernt haben, ohne je über die wirklichen Fragen nachzudenken. Sie sind spontan für den Freihandel, so wie jeder spontan für Wachstum und gegen den Hagel ist. Zu dieser Gruppe dürfte die Mehrheit der Politiker gehören, auf der Linken wie auf der Rechten. Das beweist schon ihr seit nunmehr fünfzig Jahren praktiziertes Verständnis von europäischer Einigung.

Bereits Artikel 110 der Römischen Verträge von 1957 zeigt, daß die Handelspolitik der Gemeinschaft schon immer darauf zielt, am Ende in einem weltweiten Freihandelssystem aufzugehen. Vergeblich würde man heute bei Regierungsparteien nach führenden Köpfen suchen, die sich darüber im klaren sind, daß die Handelsbeziehungen zwischen vergleichbaren Ländern – etwa zwischen den Niederlanden und Deutschland oder zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten – radikal anderer Natur sind als die Handelsbeziehungen zwischen ungleichen Wirtschaftseinheiten, also etwa der Schweiz und Honduras oder der Europäischen Union und Mali. Auf keinem anderen Gebiet des ökonomischen Denkens herrscht ein derart unbeschränkter Konformismus.

Entsprechend gleichgültig wurde etwa der Beschluß abgenickt, die tarifäre Vorzugsbehandlung der AKP-Staaten2 durch die EU im Rahmen der Gatt-Verhandlungen von 1993 abzubauen. Das Freihandelsprinzip gilt grundsätzlich als gut, denkbar sind bestenfalls ein paar Ausnahmen von der Regel. So fordert Frankreich etwa Sonderregelungen für die Landwirtschaft und die Kulturindustrie, und auch Kanada und seit kurzem Süd-Korea äußern in diesem Bereich durchaus abweichende Meinungen. Die einzige konsequente Infragestellung des Freihandels entspringt nicht wirtschaftsinternen Überlegungen, sondern sachfremden Rücksichten, die vor allem die öffentliche Meinung an die Wirtschaft heranträgt: Künftig seien Handelsabkommen durch Sozial- und Umweltklauseln zu ergänzen.3

Im Gegensatz zu den laizistischen Freihandelsbefürwortern, die das Dogma aufgrund pragmatischer oder wahltaktischer Überlegungen schon einmal verletzen, ohne sich als Sünder zu fühlen, halten die Fundamentalisten an der reinen Lehre fest. In ihren Augen hängen die drei „Freiheiten“ unauflösbar zusammen. Und selbst wenn es mit den beiden ersten Freiheiten vorübergehend schwierig wird, bestehen sie um so hartnäckiger darauf, die dritte Freiheit unangetastet zu erhalten. Denn diese hat für die beiden anderen Freiheiten die Funktion eines Schutzschildes bzw. eines Abfederungsprinzips. Mit anderen Worten, um die heilige Dreieinigkeit zu bewahren, muß der Handel die Schockwellen absorbieren, die von den monetären Funktionsstörungen und der irrationalen geographischen Investitionsallokation ausgehen. In dieser Hinsicht haben die derzeitigen Vorgänge in Ostasien Lehrbuchcharakter. Sämtliche Länder der Region verfolgten in der Vergangenheit eine exportorientierte Wachstumsstrategie, weshalb sie jetzt, da der intraregionale Handel unter der Rezession zusammenbricht, vor einer immensen industriellen Überproduktion stehen (Automobile, Elektronikwaren usw.). Also müssen sie neue Märkte finden, wofür nur zwei Gebiete in Frage kommen: die Vereinigten Staaten und Europa. Diese Märkte können die ostasiatischen Länder nach der massiven Abwertung ihrer Währungen jetzt um 25 bis 40 Prozent billiger beliefern als noch vor zwei Jahren, wodurch wiederum europäische und amerikanische Unternehmen Schwierigkeiten bekommen oder sogar Bankrott gehen.

Auf diese Weise wächst sich die Finanzkrise Schritt für Schritt zu einem Handelskrieg aus, im dem die Opfer und Täter zwar nicht mehr dieselben sind, der aber durch dieselben beiden Instabilitätsfaktoren gekennzeichnet ist: durch Verwerfungen, die jetzt nicht mehr durch vagabundierendes Kapital, sondern durch um den Globus wandernde Waren verursacht werden; und durch Spannungen und Konflikte, die sich allerdings vom Börsen- auf das diplomatische Parkett verlagern. Die drastischen Verschiebungen im Handelsgefüge werden bereits an wenigen Zahlen deutlich. Innerhalb eines Jahres ist das Ausfuhrvolumen (nicht zu verwechseln mit dem Ausfuhrwert) von Süd- Korea um 30 Prozent, das von Thailand um 15 Prozent gestiegen. Die japanisch- amerikanische Handelsbilanz gerät zunehmend aus dem Gleichgewicht und schloß im Oktober 1998 mit einem um 32 Prozent höheren Überschuß zugunsten Japans ab. Die fünf von der Krise am härtesten betroffenen Länder Asiens importieren für 100 Milliarden Dollar weniger Waren als noch vor Jahresfrist, und die Stahleinfuhren der Vereinigten Staaten sind innerhalb von acht Monaten um 24 Prozent, die der EU um 77 Prozent gestiegen, so daß die Union vom Nettoexporteur zum Nettoimporteur geworden ist. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser gigantischen Verlagerung der Warenströme sind noch kaum absehbar.

In Anlehnung an die auf den IWF gemünzte Rede vom „lender of last resort“ werden neuerdings die USA als „importer of last resort“ bezeichnet. Das US-Handelsbilanzdefizit wird sich 1998 mit über 225 Milliarden Dollar gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppeln und 1999 auf die 300-Milliarden-Dollar-Marke zusteuern. Diese Zahlen lassen Washington gegenüber Europa seit kurzem schärfere Töne anschlagen: „Wir können nicht sämtliche asiatischen Exporte alleine aufnehmen. Wir haben nicht die Absicht, die Müllkippe aller in Turbulenzen geratenen Volkswirtschaften zu werden. Wenn Europa keine größeren Anstrengungen unternimmt, könnte der Protest unserer Öffentlichkeit zu einem Wiedererstarken des Protektionismus führen“, erklärte US- Handelsminister William Daley am 6. November 1998.4

Mit dem Rücken zur Wand stehend, lassen die US-Politiker immer deutlicher die Muskeln spielen. Ein Beispiel ist das Seilziehen mit der EU in dem eher symbolischen als realwirtschaftlich relevanten Bananenstreit5 , den auch die euro-amerikanischen Gipfelgespräche zwischen Bill Clinton, dem Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Santer und dem amtierenden EU-Ratspräsidenten Viktor Klima im Dezember 1998 nicht beilegen konnten. Wenn in letzter Minute nicht doch noch eine Lösung gefunden wird, werden die USA ihre Einfuhrzölle auf bestimmte Waren aus der Europäischen Union unter klarer Verletzung der WTO-Regeln einseitig um 100 Prozent erhöhen.

Indes führt die Exportwut mancher Länder nicht nur im transatlantischen Handel zu politischen Spannungen. Das Gipfeltreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Apec)6 im November 1998 in Kuala Lumpur endete im Streit, weil vor allem Japan sich weigert, seine Märkte für Forst- und Fischereierzeugnisse zu öffnen, und weil die Philippinen ihre Zölle auf Spielzeug, Chemieprodukte, medizinische Geräte, Forst- und Fischereierzeugnisse und vieles mehr nicht abschaffen wollen. Daß innerhalb der Apec die reicheren Länder ihre Importzölle bis 2010, die ärmeren bis 2020 abschaffen werden, ist schon Schnee von gestern. Das gilt auch für das bescheidenere Projekt einer Freihandelszone der aktuellen neuen Asean-Staaten.

Diese Situation müßte eigentlich weltweit Anlaß geben, die derzeitigen internationalen Handelsbeziehungen, ihre Vorteile, aber auch Gefahren zu überdenken, sprich: im Grunde ein stärker autozentriertes Entwicklungsmodell ins Auge zu fassen. Doch die Fundamentalisten des Freihandels treten im Gegenteil die Flucht nach vorne an: Da der regulierte Güter- und Dienstleistungsverkehr Ungleichgewichte und Reibungsverluste schaffe, seien alle noch verbleibenden Handelsbeschränkungen aufzuheben.

Diese Ansicht ventilieren mit Blick auf die nächste WTO-Konferenz Ende 1999 nicht nur die Vertreter der Welthandelsorganisation, dieselbe Ansicht vertritt auch Sir Leon Brittan für die Europäische Kommission, die rund um den Globus ständig neue Freihandelszonen aushandelt – mit den Mercosur-Staaten, den südlichen Mittelmeeranrainern und Mexiko, aber auch im Rahmen der Transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft (TWP) und auf anderen Foren. Offensichtlich spekuliert die EU-Kommission auf die mangelnde Bildung und geistige Unfähigkeit der Repräsentanten der fünfzehn Mitgliedstaaten. Sonst könnte sie kaum mit Blick auf den dritten Pfeiler der Globalisierung einer Ideologie das Wort reden, die bei den ersten beiden Pfeilern bereits gescheitert ist und zu den bekannten sozialen Katastrophen geführt hat. In dieser Hinsicht formulieren die USA das Problem letzten Endes weitaus rationaler: Entweder trägt Europa einen Teil der Last und der Kosten des ungezügelten weltweiten Freihandels, oder wir werden im Alleingang protektionistische Maßnahmen einführen.

Da keine der beiden Alternativen tragbar ist, scheint sich hier ausnahmsweise einmal ein „dritter Weg“ anzubieten: Wir brauchen die Einrichtung relativ homogener regionaler Wirtschaftseinheiten, die in ihrem Inneren den Handel über diversifizierte Handelsabkommen regulieren, die nach geopolitischen Gesichtspunkten funktionieren; und wir brauchen eine neue Form internationaler Handelsbeziehungen, die gewisse übergeordnete Sozial- und Umweltklauseln anerkennen.

Als wichtigster Fürsprecher solcher Klauseln profiliert sich derzeit niemand anderer als Bill Clinton – wobei diese Klauseln sicher etwas Besseres verdient haben. Um die Gewerkschaften und Umweltschützer glücklich zu machen, die bei den letzten Kongreßwahlen die demokratischen Kandidaten unterstützt haben, sprach der amerikanische Präsident von seinem Wunsch nach einer Globalisierung mit „menschlichem Antlitz“ und forderte, künftige Handelsabkommen durch „einschneidende Schutzbestimmungen“ für Arbeitnehmer und Umwelt zu ergänzen.

Leider ist der Glaubwürdigkeitsverlust von Bill Clinton schon so weit fortgeschritten, daß seine guten Absichten nur noch als reine Heuchelei ankommen, wie ein ultraliberaler Wirtschaftsleitartikel der International Herald Tribune zu Recht vermerkt: „Clinton weiß genau, daß weder die amerikanischen Geschäftskreise noch die republikanische Mehrheit im Kongreß die Art von Sozial- und Umweltklauseln akzeptieren werden, die seiner Rhetorik entspricht, und auch er selbst ist sich keineswegs sicher, ob er sie wirklich wünscht.“7 Die Fackel muß also in andere Hände übergehen, und wenn Europa wirklich existiert, würde sich ihm hier die Chance bieten, einen Beitrag zu einer zivilisierteren Welt zu leisten.

dt. Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Dazu Christian de Brie, „Wie das MAI zu Fall gebracht wurde“, Le Monde diplomatique, Dezember 1998. 2 Die Gruppe umfaßt 71 Staaten Afrikas, der Karibik und der Pazifikregion. 3 Dazu Jacques Decornoy, „Eine Menschheit ohne festen Wohnsitz“; Bernard Cassen, „Für eine verbesserte ,Sozialklausel‘“; Paul Sindic, „Für ein neues Handelssystem“, Le Monde diplomatique, Februar 1996; sowie Bernard Cassen, „Globalisierung geht auf Kosten der Demokratie“, Le Monde diplomatique, Juni 1997. 4 Financial Times, 6./7. November 1998. 5 Nachdem die WTO auf Betreiben der USA die Vorzugsbehandlung von Bananenimporten aus den assoziierten AKP-Staaten als Verstoß gegen den Grundsatz des Freihandels eingestuft hatte, kündigte die Europäische Kommission eine entsprechende Abänderung der EU-Marktordnung an. Washington betrachtet diese Änderungen als unzureichend und stellte am 20. Dezember Strafzölle auf Waren im Exportwert von 500 Millionen Euro in Aussicht. 6 Zur Apec gehören derzeit achtzehn Länder beiderseits des Pazifik, darunter China und die Vereinigten Staaten. Peru, Rußland und Vietnam werden dem Forum in Kürze beitreten. 7 International Herald Tribune, 1. Dezember 1998.

Le Monde diplomatique vom 15.01.1999, von BERNARD CASSEN