15.01.1999

Im Kongo immer noch kein Frieden

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Im Kongo immer noch kein Frieden

Viele ausländische Mächte, in Afrika ebenso wie in der westlichen Welt, scheinen dem kongolesischen Präsidenten Laurent-Désiré Kabila nach wie vor eine gewisse Glaubwürdigkeit zu attestieren. Doch um eine demokratische Entwicklung im Lande geht es ihnen dabei nicht. Kabila, der einstige Hoffnungsträger, verfolgt eine skrupellose Machtpolitik, und Frieden ist nicht eingekehrt. Auch dem letztjährigen Vorschlag des südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, schenkte Kabila kein Gehör. Vielmehr werden die ethnischen Unterschiede geschürt, überbewertet und für die jeweiligen machtpolitischen Zwecke ausgenutzt. Die Bürger im Lande sehen sich um ihre Hoffnung auf Demokratie betrogen.

Von CATHERINE COQUERY-VIDROVITCH *

DER ehemalige Riese Kongo- Kinshasa ist ins Wanken geraten. Während Journalisten und Beobachter ausführlich über die Motivationen der von dieser Schwäche profitierenden Nachbarstaaten berichten, erfährt man so gut wie nichts über die politischen Bewegungen innerhalb der kongolesischen Gesellschaft. Dabei handelt es sich nicht um „Rebellionen“, sondern um einen Aufstand gegen das Regime Kabilas.

Zumeist wurden in den Analysen die Widersprüche zwischen den „Stämmen“ betont und somit gründlich überschätzt. Das Etikett „Banyamulenge“ wurde zudem häufig falsch eingesetzt.1 Zwischen 1994 und 1996 hatte Mobutu die Bevölkerungsgruppe der Banyamulenge massiv unterdrückt und damit in der Region Kivu einen Bürgerkrieg ausgelöst, an dem sich vielfach solche ruandischen „Hutu- Flüchtlinge“ beteiligten, die bereits in ihrem Land Massaker begangen hatten. Im Anschluß daran verwandte die ruandische Regierung den Terminus „Banyamulenge“ im Namen der „kulturellen Identität der Tutsi“ für ihre eigenen Zwecke. Dieses Konzept der „kulturellen Tutsi- Identität“ ist revisionsbedürftig2 . Es hieß, die heutige „Rebellion“ sei im wesentlichen von den Banyamulenge geschürt, da diese Tutsi seien. Hier liegt der Grund für die ständige Verwechslung von Ethnie und Nation.

Die Banyamulenge-Bauern besitzen zwar eine stark regional geprägte Eigenart, aber sie sind nicht weniger Kongolesen als die Mehrheit der Shaba-Einwohner, die im übrigen nach ihnen (und nicht vor ihnen) Kongolesen wurden. In dem schwach bevölkerten Gebiet Shaba/Katanga nämlich hatte die „Union Minière du Haut-Katanga“ unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg Zehn-, ja sogar Hunderttausende aus Ruanda und Urundi stammende Arbeiter mit ihren Familien angesiedelt, zur Ausbeutung der enormen kongolesischen Kupferreserven. Diese beiden Königreiche dienten der Nachbarkolonie bereits damals als Arbeitskräftereservoir – und das ist auch der wahre Grund, warum Belgien das internationale Mandat über die beiden Länder zugesprochen wurde.3

In Zentralafrika wie anderswo sind Grenzen mindestens ebenso Durchgangs- und Vermittlungsorte wie Barrieren: Menschen, Arbeitsplätze, Ideen und Sprachen verkehren hin und her. Wer hier „ethnische“ Zuordnungen unternimmt, vereinfacht. Es handelt sich um nationale Fragen, die man nicht mit simplistischen Erklärungsmodellen verstehen kann, zum Beispiel durch die Gegenüberstellung von „Bantus“ und „Niloten“ (Sprachengruppe am Oberen Nil). Die jüngsten Ereignisse haben die Verwirrung eher noch verstärkt, aber die Unterscheidung zwischen Bantus und Niloten ist, was die verschiedenen Rassen anbetrifft, unsinnig, denn der Begriff „Bantu“ bezieht sich auf eine große Sprachenfamilie; und die als „Niloten“ bezeichneten Tutsi sprechen dieselben Bantusprachen wie die Hutu – Kinyarwanda und Kirundi. Man könnte allerhöchstens die dominierenden Umgangssprachen im Osten und im Westen des ehemaligen Zaire unterscheiden: Suahiliphone und Lingalaphone.

Gehälter statt Tribalismus

DIE internationalen Beobachter haben vorschnell die Bedeutung der Diktatur Mobutus ausgeklammert, obwohl sie eine Generation lang andauerte. Ein entscheidender Faktor ist, daß Mobutu die intellektuellen Eliten dezimiert hat: Sie wurden entweder beseitigt oder zur Auswanderung gezwungen. Deshalb wollten die Oppositionellen der verschiedenen Richtungen die Diktatur um jeden Preis beenden, und sei es unter Zuhilfenahme der Figur Laurent-Désiré Kabila. Aber nach den kurzen Wochen der Euphorie, die im Mai 1997 auf den Sturz des verhaßten Mobutu folgten, hat sich im Kongo niemand mehr Illusionen über seinen Nachfolger Kabila gemacht.

Der neue Herr – genau wie der alte – korrumpiert die Schwachen und beseitigt die übrigen Gegner. Die kleinen Leute werden terrorisiert und unterwerfen sich. Man könnte zwar daran erinnern, daß das Benzin nicht teurer geworden ist, daß eine Busfahrt in Kinshasa ein Jahr lang konstant 60000 Zaire gekostet hat und daß die Korruption heute weniger unverschämt daherkommt als früher. Politisch jedoch gelten Mobutu und Kabila als Gleichgesinnte, und Etienne Tshisekedi, der längst nicht so beliebt ist, wie es sein Ruf im Ausland glauben machen möchte, ist ein Mann der alten Generation. Er ist schon zu lange im Geschäft und zu sehr an seine Privilegien als alter Politkämpe gewöhnt, um sich für demokratische Formen stark zu machen.

„Kabila, das ist der Tribalismus, die Diktatur. Wir wollen keinen Tribalismus. Wir wollen eine vereinte nationale Armee, und wir wollen unsere Gehälter“, so ein junger Kongolese.4 Die ehemaligen Zairer fordern einen Rechtsstaat, Schulen, Gesundheitsversorgung und Arbeit. Aber sie sind auch mißtrauisch und abwartend, und so ergriff in den ersten Wochen der Rebellion niemand gegen die aufständische Bewegung Partei – abgesehen von ein paar Minderjährigen, die nicht einmal eine zerschlagene Armee hergaben. Viele Kongolesen wollten zunächst sichergehen, daß diese Bewegung „realer“ sein würde als die vorige.

Das „Rassemblement Congolais pour la Démocratie“ (RCD) war von Anfang an eine politische Bewegung. Am 12. August 1998 trafen sich einige Mitglieder der ursprünglich von Kabila gegründeten „Alliance des Forces Démocratiques pour la Libération du Congo“ (AFDL) in Goma im Osten des Kongo und gründeten aus Enttäuschung über Kabilas Hinwendung zum Mobutismus das RCD. Dessen Ziel ist es, eine soziale Veränderung zu bewirken.

Einer von ihnen ist Arthur Zahidi Ngoma, ein in Frankreich ausgebildeter Jurist und ehemaliger Unesco-Mitarbeiter, der aus Maniema stammt und 1992 für die Nationalkonferenz5 nach Zaire zurückgekehrt war. Am Anfang hatte er an Kabila geglaubt und war sogar bereit, Premierminister zu werden. Doch trotz offiziellem Verbot hatte er den Mut, am 25. November 1997 eine Versammlung der von ihm geführten Bewegung „Forces du Futur“ einzuberufen und dort Kabila zu beschuldigen, er mache mit ausländischen Kräften gemeinsame Sache.

Der gewählte Präsident des RCD, Ernest Wamba dia Wamba, stammt aus dem Bas-Congo. Er ist ein demokratischer Intellektueller, ebenso wie der Generalsekretär des RCD, Jacques Delpechin. Der marxistisch orientierte Akademiker Delpechin stammt aus einer Mischehe, und wie Wamba war auch er im politischen Exil. Er hat in den Vereinigten Staaten gelehrt, wo er einen beachtenswerten Essay6 zur Geschichte seines Landes veröffentlicht hat. Wamba war schon in den sechziger Jahren aus dem Kongo geflüchtet und studierte an US-amerikanischen Universitäten; seine Ehefrau ist Amerikanerin. Er wurde 1981 von Mobutu inhaftiert und erst nach einer internationalen Kampagne wieder freigelassen.

Die übrigen Oppositionellen gehören nicht zu einer bestimmten Gruppe. Kommandant Jean-Pierre Ondekane stammt aus der Provinz Equateur, Kommandant Sylvain Buki aus Shaba. Kommandant Emile Michial wiederum zählt zu jenen, die gegen die Überschätzung des Tribalismus eintreten: „Man könnte mich zum Beispiel als Angolaner bezeichnen, denn ich habe zu Mobutus Zeiten dort 23 Jahre im Exil verbracht. 1997 bin ich mit Kabila nach Hause zurückgekehrt. Wir waren gekommen, um die Befreiung unseres Landes zu vollbringen, doch Kabila hat uns mit seiner tribalistischen Politik enttäuscht.“ Es ist hingegen nicht auszuschließen, daß der Außenminister der „Rebellion“, Bizima Karaha, und der ehemalige Vorsitzende der ADFL, Deogratias Bugera – ursprünglich beide Banyamulenge aus Kivu – diffusere Gründe für ihre Feindschaft gegen das neue Regime haben.

Pluralismus und Demokratie

DIE politische Grundsatzerklärung des RCD ruft das kongolesische Volk dazu auf, „gegen jeglichen Versuch von tribalistischer Spaltung, gegen Intoleranz, Gewalt und andere Mordaufrufe vehement Widerstand zu leisten“. Die Erklärung fordert „die Einführung eines demokratischen, durch das Volk legitimierten Regimes“. Kabila selbst hat, wie vor ihm Mobutu, den Widerstand gegen sein Regime tribalistisch interpretiert. Er redet von der „Bedrohung der Bantu-Zivilisation“; und im Vorschlag zum Bündnis der Staaten der Region der Großen Seen sah er eine Gefahr für die bestehende Gemeinschaft der Staaten des südlichen Afrika (South African Development Community, SADC). Die westliche Welt bezieht ihre Informationen über den Kongo größtenteils von der dortigen Regierung. Daher erliegt sie der gleichen Art von Täuschung wie einige Jahre zuvor, als die Extremisten der ruandischen Regierung die politischen Konflikte des Landes auf den Tribalismus schoben.

Kabila und seine Anhänger waren es, die in Kinshasa zur Hexenjagd gegen Tutsi aufriefen, und sie waren es auch, die deren Lynchmorde organisierten. Der selbsternannte Präsident betrügt das kongolesische Volk, das schon soviel gelitten hat, und behindert die Demokratisierungsbestrebungen in gravierender Weise, indem er Übergriffe seitens der verzweifelten und ausgehungerten Bevölkerung und auch seitens der Nachbaarstaaten zuläßt.

Die tribale Begriffsverwirrung ist um so schwerwiegender, als 1994 zwischen 500000 und 1000000 Ruander in einem Genozid umkamen, inszeniert von einer extremistischen Regierung, die zuvor den Haß auf die Tutsi geschürt hatte. Die Referenz „Tutsi“ ist in Ruanda und im Kongo (aber nicht in Burundi, wo die „Tutsi“ an der Macht sich nicht auf ein ähnliches Martyrium berufen können) zu einer Art Mythos des „erwählten Volkes“ geworden, das berufen ist, der demokratischen Modernisierung zum Sieg zu verhelfen. Dies entspricht in gewisser Weise der Realität, denn die alte Tutsi-Aristokratie wurde früher von den belgischen Kolonialherren stark gefördert und hat entscheidend zur Genese der intellektuellen Kreise in der Region der Großen Seen beigetragen.

Diese Aura wird auf die Banyamulenge aus dem Kivu übertragen, die mal in naivem, mal in reißerischem Ton als Speerspitze des Kampfs gegen die Diktatur bezeichnet werden: zuerst gegen Mobutu, dann gegen Kabila – so daß in erster Linie nicht etwa hängenbleibt, daß einige von ihnen beständig gegen die Diktatur kämpfen, sondern vielmehr, daß es sich um „Tutsi“ handelt (obwohl man höchstens sagen könnte, daß sie „der Tutsi-Kultur angehören“).

Die Grundlage des Staates ist die Nation, und nicht umgekehrt. Es ist sinnlos, an einen starken Staat als Vorbedingung zu glauben oder glauben zu wollen. Ein starker Staat ohne Nation kann nur eine Diktatur hervorbringen. Die kongolesische Nation (oder vielleicht besser Zivilgesellschaft) entsteht gerade erst, und sie wird die Machtstruktur definieren, die sie repräsentiert. Der Weg dahin ist lang, und manche Kongolesen, die die Exzesse eines mörderischen und populistischen Caudillismus leid sind, würden vielleicht lieber in kleineren politischen Einheiten leben. Hier und dort gibt es Banden, die an die Tradition der Warlords am Ende des 19. Jahrhunderts erinnern. Doch ein starker Regionalismus ist, sofern er von einer ausgeglichenen demokratischen Regierung gezügelt wird, keineswegs zu verwerfen; auch unter den großen westlichen Demokratien finden sich einige Föderalstaaten.

Interventionen von außen können nur eine enorme Stärkung des Nationalbewußtseins hervorrufen. Ausgerechnet Kabila könnte dies weiter stärken, denn nichts schmiedet eine Nation so sehr zusammen wie ein Bürgerkrieg; zahlreiche historische Beispiele belegen dies, von den USA bis Nigeria. Im letzten halben Jahrhundert haben die Kongolesen mindestens zwei solcher Kriege durchgemacht: 1963-1965 den mulelistischen Aufstand im Osten Kongos und die Sezession Katangas unter Moise Tshombe, die 1977/78 wieder aufflammte; nicht mitgezählt das Ende der Mobutu-Diktatur. Noch etwas kommt hinzu. Patrice Lumumba gilt als der demokratische Held der Nation, er verkörpert den wiederauflebenden Mythos der nationalen Einheit, die vormals von der Kolonialmacht aufgezwungen war. Später machte sich der Diktator Mobutu diesen Mythos zunutze, er veränderte und mißbrauchte ihn für die Erfindung der zairischen „Authentizität“.

Vielleicht erreichen die Nachbarregierungen ihr Ziel einer De-facto-Aufteilung des Kongo, oder wenigstens die Schaffung offizieller Einflußzonen. Eine andere Möglichkeit wäre, daß Kabila, oder vielmehr die angolanische Armee das gesamte Land in ihre Gewalt bekommt. In beiden Fällen, Einheit oder Teilung, liegt die Entscheidung weitgehend in ausländischer Hand.

Auch wenn ein starker Scheinstaat wiederhergestellt wird, werden die Kongolesen sich nicht mehr mit dieser Lösung zufriedengeben. Allein das Aufkommen einer Zivilgesellschaft kann das Land wieder aufrichten – in einem langwierigen und komplizierten Prozeß. Die Zivilgesellschaft ist schon lange im Entstehen: die arbeitsbedingte Migration hat dem Land seit Anfang des Jahrhunderts neue Kräfte zugetragen, sowohl in den Minen als auch in den Städten und Häfen, am Fluß, an den Seen wie am Meer. Seit 1956 wird an der Universität Lovanium, lange Zeit eine der besten Afrikas, eine intellektuelle Elite ausgebildet. Unter der Diktatur konnte die politische Arbeit dank einiger Auslandskontakte fortgesetzt werden, nicht zuletzt ist sie auch den hervorragenden kongolesischen Wissenschaftlern zu verdanken, die einer nach dem anderen vor der gleichen Wahl standen: Kompromiß oder Exil.

Im gesamten Land ist die Vermischung der Bevölkerungsgruppen – in der Stadt wie auf dem Land – und der Kulturen viel älter und tiefer, als es eine tribalistische Pseudo-Analyse glauben machen will. Dabei ist bezeichnend, daß, mit Ausnahme der kleinen Ethnie der Banyamulenge und der Benennung Kabilas als Luba, keine einzige Analyse sich auf „ethnische“ Namen bezieht, sondern auf die Sprachengruppe der Bantu, die fast dreiviertel Schwarzafrikas umfaßt: Die Menschen sind aus Kivu, Katanga, Kasai oder Bas-Congo, das heißt sie werden nicht als „Stämme“ erfaßt, sondern als geographischen Regionen oder staatlichen Provinzen zugehörig.

Im Kongo entstehen und entwickeln sich die politischen Umwälzungen mit rasanter Geschwindigkeit. Und zwar vor den Augen einiger mit Blindheit geschlagener Beobachter aus der westlichen Welt, die sich nicht vorstellen können, daß eine Demokratie auch in Afrika entstehen kann und daß sich die Afrikaner selbst darum kümmern.

dt. Christiane Kayser

* Professorin an der Universität Paris VII - Denis Diderot.

Fußnoten: 1 Tutsi ruandischer Abstammung, die seit der belgischen Kolonialherrschaft im Osten Zaires leben, insbesondere in der Region um Uvira. 2 Siehe Gérard Prunier „Der Krieg im Kivu, den keiner sehen will“, Le Monde diplomatique, Juli 1998. 3 John Higginson, „A Working Class in the Making: Belgian Colonial Labor Policy, Private Enterprise and the African Mineworker 1907-1951“, Madison (University of Wisconsin Press) 1989. 4 Le Monde, 23./24. August 1998. 5 Die Nationalkonferenz versammelte 2800 Teilnehmer und war ein friedlicher Versuch, Mobutu abzusetzen und die Grundlagen für die Dritte Republik zu bereiten. Siehe dazu Colette Braeckman, „L'impossible mutation du président Mobutu“, Le Monde diplomatique, März 1993. 6 Jacques Delpechin, „De l'Etat indépendant du Congo au Zaire contemporain“, Dakar (éditions du Codesria) 1992 (zu beziehen über Karthala, Paris).

Le Monde diplomatique vom 15.01.1999, von CATHERINE COQUERY-VIDROVITCH