„Das andere Geschlecht“ wird fünfzig
FÜNFZIG Jahre sind vergangen seit der Erstveröffentlichung von „Le deuxième sexe“. Zunächst als Skandalschrift verschrien, die gegen die sakrosankte Mutterschaft zu Felde zog, fand das Werk bald eine große Schar begeisterter Leserinnen. Offenbar hatte Simone de Beauvoir vielen Frauen aus dem Herzen gesprochen. Die Reaktion war überwältigend, die zahlreichen Briefe der Leserinnen werden heute in der Nationalbibliothek von Paris aufbewahrt. Der Tenor der Debatten hat sich zwar verändert im Laufe der ahre,aber die Trennungslinien zwischen Anhängern und Gegnern von Beauvoir sind die gleichen geblieben. Das Werk und seine Rezeption sind inzwischen Gegenstand wissenschaftlicher Studien. In Deutschland, wo „Das zweite Geschlecht“ 1951 erschien, wurde 1992 eine Neuübersetzung mit dem Titel „Das andere Geschlecht“ herausgegeben.
Von SYLVIE CHAPERON *
Als „Le deuxième sexe“ 1949 veröffentlicht wurde, machte das Werk lautstark von sich reden. Es okkupierte die Literaturseiten der anspruchsvollen Magazine; Artikel und Kommentare füllten die Tageszeitungen. Monatelang stand die Angelegenheit im Mittelpunkt der Debatten. Selten hat ein Buch von einer Frau über Frauen so viele leidenschaftliche Debatten entfacht.
Grund dafür war, daß Simone de Beauvoir sich an einigen unantastbaren Werten der damaligen Zeit vergriffen hatte. Seit den dreißiger Jahren betrieb der französische Staat eine massive Familienförderungspolitik. Kindergeld, Beihilfen für nicht erwerbstätige Frauen, Ehestandsdarlehen, steuerliche Vergünstigungen und eine Unzahl anderer Maßnahmen sollten die nachhaltig gesunkene Geburtenrate wieder anheben. Seit die heftig befehdeten Neomalthusianer von der öffentlichen Bühne abgetreten waren, konzentrierte man sich rechts wie links gleichermaßen auf die Steigerung der Geburtenrate. Auch der massiv einsetzende Babyboom konnte die Furcht vor einem Bevölkerungsrückgang nicht ausräumen und steigerte noch die Idealisierung der Mutterrolle. Und da kam Simone de Beauvoir und zerschlug den schönen Mythos der Mutterschaft.
Das Kapitel über die „Mutterschaft“ beginnt mit einem fünfzehnseitigen Plädoyer für die uneingeschränkte Abtreibung, leugnet die Existenz eines Mutterinstinkts und entwertet am Ende sogar die Mutterschaft selbst, da sie zur Entfremdung der Frau führe. Auch die Kapitel über die „erste sexuelle Erfahrung“ von Frauen und über „lesbische Liebe“ wirkten wie Brandbomben in einer puritanischen Gesellschaft, in der selbst der Gedanke an Sexualaufklärung verpönt war.
Die beanstandeten Textteile, die man vorab in Les Temps modernes lesen konnte, lösten einen Sturm der Entrüstung aus. François Mauriac fragte auf der Titelseite des Figaro, ob eine seriöse literarische und philosophische Zeitschrift der passende Ort für Sexualaufklärung sei. Die Kommunisten standen Mauriac nicht nach: Jean Kanapa, ein Sartre-Schüler und mittlerweile Herausgeber der Nouvelle Critique, beklagte sich über „die ordinäre Darstellung und den ekelerregenden Schweinkram“. Die Autoren machten aus dem „Zweiten Geschlecht“ ein „Handbuch des erotischen Egoismus“, ein „Manifest der sexuellen Selbstsucht“; die Autorin wurde als „Suffragette der Sexualität“ oder als „existentialistische Amazone“ bezeichnet.
Das war dann doch zuviel, und so erhielt Simone de Beauvoir Schützenhilfe. Die Mitarbeiter der Temps modernes schliffen ihre Argumente. Maurice Nadeau warf den Kritikern vor, sie könnten sich wohl „eines gewissen Unbehagens nicht erwehren, sobald eine Frau, und sei es eine Philosophin, offen über ,geschlechtliche Dinge' spricht“.
Auch Emmanuel Mounier und Jean- Marie Domenach, Herausgeber bzw. Chefredakteur der Zeitschrift Esprit, unterstützten Simone de Beauvoir. „Le deuxième sexe“ war dabei weder das erste noch das einzige Buch, in dem solche Thesen vertreten wurden. Andere Werke jedoch, die zu vergleichbaren Reaktionen hätten Anlaß geben können, waren unbemerkt geblieben und sind heute vergessen.
Simone de Beauvoir konnte sich der Medienpräsenz sicher sein, denn sie war 1949 keine Unbekannte mehr. „Sie kam und blieb“, ihr erster Roman aus dem Jahr 1943, war von der Kritik überwiegend positiv aufgenommen worden. Seither hatten zahlreiche Veröffentlichungen sie immer wieder ins Gespräch gebracht.
Die Öffentlichkeit jedoch kannte sie – nach patriarchalischem Brauch – in erster Linie als Gefährtin Jean-Paul Sartres. Journalisten versahen sie mit Beinamen wie „Notre-Dame-de-Sartre“ oder „La Grande Sartreuse“. Sartre, der damals den Gipfel seines Ruhms erreicht hatte, stand ständig im Rampenlicht. Seine philosophische und intellektuelle Führungsrolle rief Neider und Kritiker auf den Plan. Doch das Geschrei gegen „Le deuxième sexe“ war 1949 lagerübergreifend, und es oblag Sartre und Les Temps Modernes, die keiner Gruppierung angehörten, die Wogen zu glätten. Der Skandal machte das Buch im Handumdrehen zum Erfolg. Binnen einer Woche waren über zwanzigtausend Exemplare verkauft, und die Übersetzungen, die bald darauf erschienen, bescherten ihm Millionen westlicher Leserinnen.
Anfangs deutete jedoch nichts auf diese enorme Anhängerschaft hin. Nur wenige weibliche Stimmen mischten sich in die Kakophonie, die dem Buch zunächst entgegenschlug; die katholischen, feministischen und kommunistischen Frauenorganisationen hielten sich aus der Auseinandersetzung heraus. Diese Zurückhaltung, die auf Verlegenheit, Konvention und sicher auch auf internen Meinungsunterschieden beruhte, zeigt, wie weit Simone de Beauvoir den politisch aktiven Frauen ihrer Zeit voraus war. Zuspruch erhielt sie zunächst von unabhängigen Intellektuellen: Romanschriftstellerinnen, Essayistinnen, Journalistinnen und Hochschullehrerinnen wie Colette Audry, Célia Bertin, Françoise d'Eaubonne oder Geneviève Gennari waren als erste von Beauvoirs Plädoyer überzeugt. Sie bildeten die Vorhut einer riesigen Schar von Leserinnen, die sich vor allem aus den gebildeten Angehörigen der städtischen Mittel- und Oberschichten rekrutierte. Nach dem Abklingen des Kalten Krieges und der Verleihung des Prix Goncourt für ihren Roman „Les Mandarins de Paris“1 im Jahr 1954 hatte Simone de Beauvoir auch wieder eine gute Presse. Ihre autobiographischen Schriften, die nacheinander in den folgenden Jahren erschienen, fanden ein treues Publikum, und diese anhaltende literarische Karriere sicherte „Le deuxième sexe“ eine ständige Aufmerksamkeit.
Viele Leserinnen drücken aus, wie sehr sie die Lektüre bewegt hat. „Ich lese ,Le deuxième sexe' und bin vollkommen begeistert – endlich eine Frau, die begriffen hat, was los ist“, stellt etwa Françoise d'Eaubonne fest. Sie schreibt umgehend an Simone de Beauvoir: „Sie sind ein Genie!“ und will die Autorin unbedingt kennenlernen.2 Tausende solcher anrührender Briefe, die Simone de Beauvoir erhalten hat, sind heute in der Nationalbibliothek archiviert. Für die Mütter des Babybooms, deren Berufspläne auf dem Altar der Mutterschaft geopfert wurden, ist die Begegnung mit dem Buch gelegentlich schmerzhaft. Ménie Grégoire, in vielen Punkten anderer Ansicht als die Philosophin, faßt zusammen: „Simone de Beauvoir bedeutete für die Frauen meiner Generation mehr, als die Historiker je zugeben würden. (...) Sie hat uns, die wir für ein anderes Leben ausgebildet waren als das unserer Mütter, vor eine Entscheidung gestellt.“3
1951 wurde das Buch ins Deutsche übersetzt4 , 1953 ins Englische und Japanische. Und jede dieser neuen Versionen machte ihren eigenen Weg. Der amerikanische Verleger Knopf verlangte einschneidende Kürzungen, den japanischen Lesern wurde großer Einfallsreichtum abverlangt, denn dort erschien der zweite Band mit den Schlußfolgerungen vor dem ersten mit der Einleitung. Die Übersetzer verdrehten häufig den Sinn der Texte, wie etwa in Japan, wo sich das Buch wie eine biologische Abhandlung las.
Die internationalen Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Begeisterung in der Schweiz, wo die Frauen immer noch nicht wählen durften, Zurückhaltung im damals sehr katholischen Quebec. In den USA der McCarthy-Ära warnten vernichtende Kritiken die Leser und Leserinnen, in Spanien unter Franco zirkulierte ab 1962 im Untergrund eine aus Argentinien eingeschmuggelte Übersetzung. Und in Rußland oder Ostdeutschland mußten erst die kommunistischen Regime stürzen, bevor das Buch übersetzt werden konnte.
In den sechziger Jahren gehörte das Werk für alle, die sich mit der „Frauenfrage“ beschäftigten, zur Grundlagenliteratur. Andrée Michel, Evelyne Sullerot, Geneviève Texier in Frankreich, Betty Friedan in den Vereinigten Staaten, Maria Aurélia Capmany in Spanien – alle schöpften sie aus diesem umfangreichen Essay. Individualismus und Liberalismus beherrschten das Denken, berufliche Karriere galt als Voraussetzung für weibliche Emanzipation. Auch für die nachfolgende Generation war „Le deuxième sexe“ wichtig, aber nun flankiert von zahllosen, radikaleren Neuerscheinungen. Viele der jungen feministischen Theoretikerinnen der siebziger Jahre beriefen sich auf Simone de Beauvoir. Und sie selbst engagierte sich in der neuen feministischen Bewegung.
Zuvor hatte sie zwar verschiedene Anliegen, wie etwa die Familienplanung, unterstützt, sich aber von den verschiedenen Vereinigungen und Gruppen nicht angezogen gefühlt – sie waren ihr immer zu ängstlich. Aber mit der kämpferischen Frauenbefreiungsbewegung MLF änderte sich das. Die MLF wurde für Simone de Beauvoir ein wahrer Jungbrunnen. Sie ging an der Spitze der Demonstrationszüge mit, unterzeichnete das Manifest der „343 Schlampen“, die öffentlich erklärten, abgetrieben zu haben, sie trat als Zeugin im Abtreibungsprozeß von Bobigny auf und richtete in Les Temps modernes eine Kolumne über den „ganz alltäglichen Sexismus“ ein. Außerdem nahm sie an der Gründung zahlreicher Vereinigungen und Zeitschriften teil, wie „Choisir“, einer Bewegung für die Legalisierung der Abtreibung, der Liga für das Recht der Frauen oder der Zeitschrift Questions féministes. Die ständige Auseinandersetzung mit der Frauenbewegung veranlaßte Simone de Beauvoir, ihre früheren Positionen zu überdenken. „Le deuxième sexe“ erschien ihr inzwischen als zu idealistisch und zu individualistisch. Gegen die Unterdrückung der Frauen könne nur eine organisierte Frauenbewegung ankommen.
Von Beginn an sorgte „Le deuxième sexe“ für unüberwindliche Spaltungen. Über Generationen hinweg streiten sich Anhänger und Gegner – mehr oder weniger – über die gleichen Punkte. Für die Anhänger von Beauvoir rühren die Unterschiede zwischen den Geschlechtern von der Unterdrückung der Frauen her, die Gegenseite verteidigt die andere Natur der Frauen, an der die männlich dominierte Gesellschaft genesen könnte. In den fünfziger Jahren standen Laien gegen Katholiken, in den Jahren danach Verteidigerinnen der Gleichberechtigung gegen Verfechterinnen der Differenz, und neuerdings stehen Feministinnen gegen Postmodernistinnen – die Debatte geht weiter, im Rhythmus der Gezeiten gesellschaftlicher Bewegungen.
Ende der achtziger Jahre setzte unübersehbar eine Art Backlash gegen „Le deuxième sexe“ und dessen Autorin ein. Wo früher Lob und Bewunderung vorherrschten, sind nun kritische, ja bittere Stimmen zu vernehmen. In ihrer umfangreichen Biographie über Simone de Beauvoir etwa attestiert Deirdre Bair5 – mit einer parteiischen Interpretation der französischen Zustände – dem berühmten Philosophenpaar eine ambivalente Haltung während der Besatzung. Auch die Veröffentlichung der von Sylvie Le Bon de Beauvoir postum herausgegebenen Briefe und Notizbücher Simone de Beauvoirs6 rief zahllose ablehnende Kommentare hervor. In ihren „Erinnerungen“ schilderte Bianca Bienenfeld (Louise Védrine in den Briefen) ihre durch die Verbindung mit dem berühmten Paar verkorkste Jugend.7
Abwechselnd wirft man Simone de Beauvoir politische Indifferenz während des Zweiten Weltkriegs vor, die feministisch zweifelhafte Verbindung mit Sartre und die „kontingenten“, von ihr dominierten Beziehungen zu mehreren jungen Frauen. Das Monument, das Simone de Beauvoir nie hat sein wollen, stürzt vom Sockel. Dennoch ist es dieser Frau und ihrem Werk gelungen, die Träume und Wünsche mehrerer Generationen zu verkörpern – ein seltenes Verdienst unter Schriftstellern.
Das ist auch der Grund, warum das Werk und seine Autorin heute zunehmend zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen werden. Über „Le deuxième sexe“ wurde von Anfang an viel geschrieben. Doch zunächst handelte es sich überwiegend um Meinungsäußerungen, um mehr oder weniger anekdotische Lebensbeschreibungen sowie streithafte Aufsätze. Seit den achtziger Jahren jedoch setzen sich wissenschaftliche Studien, die von Instituten wie etwa der Simone-de- Beauvoir-Society8 veröffentlicht werden, mit den intellektuellen Ursprüngen von „Le deuxième sexe“ auseinander. An vorderster Stelle ist hier eine Studie der französischen Philosophin Michèle Le Duff über die besondere Stellung von Frauen in der Philosophie zu nennen.9
Zahlreiche wissenschaftliche Studien folgen nun diesem Ansatz, der eine Neuinterpretation der Texte erfordert. So wird Sartres Beitrag zur Philosophie des Existentialismus relativiert, da er in einigen Aspekten wohl auf Simone de Beauvoir zurückgeht. Kolloquien, Sonderausgaben von Zeitschriften und Bücher zeugen von der Vielfalt der Beauvoir-Studien. Philosophinnen, Literaturwissenschaftlerinnen und Linguistinnen sind zahlreicher vertreten als Historikerinnen und Soziologinnen, und die US-amerikanischen und nordeuropäischen Wissenschaftlerinnen dominieren diesen expandierenden Forschungsbereich, während ihre französischen Kolleginnen durch Abwesenheit glänzen.
Dieses Paradoxon ist zum einen darauf zurückzuführen, daß die Institutionalisierung der Frauenstudien in Frankreich äußerst schwierig ist, zum anderen aber auch auf die übergroße Nähe vieler französischer Feministinnen zu ihrer „Heldin“, ihrer „symbolischen Mutter“ Simone de Beauvoir.
Die Dominanz der angloamerikanischen Geisteswissenschaften bringt die Beauvoir manchmal in Zusammenhänge, die sie selbst abgelehnt hätte, beispielsweise in das Gewirr eines postmodernen Dekonstruktivismus á la Jacques Derrida und Luce Irigaray. So fasziniert und spaltet Simone de Beauvoir bis heute. In Deutschland sind 1992, in Japan 1997, in Rußland 1998 neue Übersetzungen erschienen, die sich enger an das Original halten. In den universitären Frauenstudien der ganzen Welt ist das Werk Pflichtlektüre, immer noch wird darüber debattiert. Das fünfzigjährige Jubiläum seiner Veröffentlichung, das in diesem Monat beginnt, wird es wahrscheinlich erneut beweisen.
dt. Brigitte Grosse
* Historikerin, Dozentin an der Universität Toulouse- Le-Mirail, Herausgeberin einer Sonderausgabe von Les temps modernes mit dem Titel „Questions actuelles au féminisme“, April/Mai 1997. Auf deutsch lieferbar ist „Das Zeitalter der Aufklärung“, aus d. Franz. v. Ferdinand Müller, Fellbach (Union) 1992.