12.02.1999

Afrikanische Traumfabriken

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Afrikanische Traumfabriken

Von EDGAR ROSKIS *

DAS Interieur kann sich sehen lassen. Ein Farbfernseher, ein JVC-Videorekorder, ein Stapel TDK-Kassetten, eine elektrische Uhr, ein schnurloses Telefon, eine Hifi-Stereoanlage, Dreiwegeboxen, hübsche Gläser, einige Flaschen Alkohol, Blumenvasen und das obligatorische Teeservice. Zur Linken steht ein Ventilator auf einem gut gefüllten Kühlschrank: Konservendosen, Bier, Mangos, Eier, Früchte und Gemüse, eine Wassermelone – eine wahre Schatztruhe. Die Dame des Hauses, eine gemütliche Ghanaerin, nimmt sich eine Limonade heraus (in Mali nennt man das eine „Süßigkeit“). Zusammen mit dieser und einer weiteren Flasche (Pepsi-Cola, wie es scheint), die auf dem Boden steht, ist die Frau das einzige lebende und „wirkliche“ Element dieses Bilds, sofern man der Fotografie die Fähigkeit zugesteht, Leben und Wirklichkeit abzubilden.

Alles andere ist nur Dekor, gemalt von Philip Kwame Apgya persönlich, dem ghanaischen Fotografen und Besitzer von „P.K.'s Normal Photo“. Das Studio in Shama, einer im Westen Ghanas gelegenen Fischerstadt, hat ihm sein Vater vermacht, und seit er sich auf die zunehmend gefragte Farbfotografie verlegt hat, floriert das Erbe. So hat er die in Kumasi ansässige Konkurrenz von „Wait & Get Photography“ überflügelt, die sich auf Paßfotografie nach dem sogenannten Expreß- Photo-Verfahren spezialisiert hat: Dort wird innerhalb weniger Minuten ein Porträt geschossen, ein Negativ und ein Abzug erstellt, alles in einer einzigen Holzbox, einer Art Vorläufer der Polaroid, die mittels Klebstoff und Nägeln in mehreren hundert Exemplaren von Hand und exklusiv von dem mittlerweile ergrauten Yaw Nkrabeah angefertigt wurde.

Abkehr von Palmzweig und Freitreppe

APAGYA steht in der Tradition der sogenannten Studiotisten1 , die praktisch überall in Afrika anzutreffen sind, besonders im Westen, aber auch im Süden. Der Reiz, der Witz und die Modernität seiner Arbeit beruhen darauf, daß er die Tradition abwandelt, ihr eine ironische Note verleiht. Die Herstellung seiner Dekors und Kulissen, die er selbst als „primitive Malerei“ bezeichnet (während sie uns eher an Comic-Zeichnungen erinnern), würde er niemand anderem anvertrauen – er macht sie alle selbst. Man hat ihm vorgeschlagen, sie ihm abzukaufen, um sie entweder weiterzuverwenden oder als Gemälde richtig rahmen zu lassen – an Händlern und Spekulanten herrscht in Afrika kein Mangel2 . Bis jetzt hat er alle diese Angebote abgelehnt.

Als die Afrikaner die Fototechnik von den Kolonialherren übernahmen, die diese gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Kontinent eingeführt hatten, geschah dies auch mit dem Ziel, sich das Bild Afrikas und seiner Bewohner wiederanzueignen. Der Stil der Studiotisten und der fliegenden Fotografen – für die Fotoreporter gilt das weniger – war jedoch von gewissen Gewohnheiten nie losgekommen: Panoramakulissen, auf denen Palmzweig und steinerne Freitreppen sich ein Stelldichein gaben; Anzug mit Weste und Lederstiefeln imitierten den Habitus der Herren.3 Beispiele dafür finden sich in den neokolonialen Bildern von Narayandas V. Parekh (Kenia), man könnte aber genausogut auf Berühmtheiten verweisen wie Mama Casset, Cornelius Yao Azaglo Augustt, Francis K. Honny, Félix Diallo, Seydou Keita und viele andere.

„Diese Frau ist keine Königin, aber ich habe sie zu einer gemacht“, sagt der ghanaische Studiotist Alfred Six aus Kumasi und deutet auf eine schmuckbeladene Schönheit. In Shama verfügt Apagya über ein Panoramadekor, das ein Häuptlingsreich darstellt. Wer sich in diese Kulisse einfügen will, den versorgt er mit den Herrschaftsinsignien und einer Kette aus Gold (zumindest aus vergoldetem Metall, wie er zugibt). Malick Sidibé, einer der Väter der malischen Straßenfotografie, der von den Jüngeren respektvoll „Onkel“ genannt wird und von Françoise Huguier 1991 auf dem ersten der von ihr gegründeten Treffen afrikanischer Fotografie in Bamako wiederentdeckt wurde, erinnerte sich während eines unvergessenen Gesprächs4 mit seinem anglophonen „Neffen“: „Die Leute wollten immer das Beste. Für die Dauer der Studio-Aufnahme steckte ich sie in Anzüge und Krawatten, die sie sich nie hätten leisten können. Einige waren sogar von der Magie meines Studios und dessen möglicher Ausstrahlung so überzeugt, daß sie sich parfümierten.“

Weil er seinen Fotoapparat irgendwann einmal in ein Fischerdorf geschleppt hat, kann er die jüngeren Erfahrungen seines „Neffen aus Shama“ bestätigen: „Wenn der Fang gut war und die Ware sich auf dem Markt gut verkaufen läßt, sind die Fischer beim Geldausgeben nicht zurückhaltend. Ich kannte einen, der alle Welt zum Staunen bringen wollte, indem er sich ein Radio für 25000 CFA [etwa 80 Mark, d. Red.] leistete. Der nächste wollte ein noch tolleres, aber der Verkäufer hatte nur das eine Modell. „Das macht nichts“, meinte er, „du gibst mir das gleiche Gerät und ich bezahle dir 25000 CFA, aber auf die Rechnung schreibst du 40000 CFA, damit ich sie herumzeigen kann.“ Daraufhin zogen die beiden mit großem Trara zum Fotografen. Die Ärmsten posieren kniend vor den offensichtlich künstlichen Stufen von Mekka. Wenn sie auch ihr Lebtag nicht dort gewesen sind, reicht die Aufnahme doch allemal, um böse Zungen zum Schweigen zu bringen. Andere haben, so heißt es, dank der Fotografie, die sie inmitten der prächtigsten Wunschobjekte zeigt, „Schuhe für die Füße“, das heißt eine Frau gefunden.

Ob in der Stadt oder im Busch, das afrikanische Studio ist der Ort, an dem Träume wahr werden. Die normalen Sterblichen können hier in eine ideale Rolle schlüpfen, den Helden spielen, alles besitzen, was sie nicht oder noch nicht haben, etwas darstellen, was sie nicht sind und niemals sein werden, sich zu eigen machen, was für sie wieder unerreichbar sein wird, sobald sie das Studio hinter sich lassen. Augenzwinkernd, denn in Afrika weiß jeder eine Fassade als solche zu erkennen. Wegen seiner schillernden Farben und der Einfachheit seiner Szenerien, oder weil die Händler ihn bereits belagern, könnte man Philip Kwame Apagyas „Studio Normal“ vorhalten, daß seine Bilder nur die Karikatur einer von Konsumgütern angestachelten Sehnsucht darstellen (was sich aus der Perspektive der Besitzenden immer leicht sagen läßt) – Arbeiten, über die man sich amüsieren kann und die im Westen leicht konsumierbar sind. Ein solcher Vorwurf träfe aber nur Nebenaspekte und ginge am Wesentlichen vorbei.

Die Dekors von Kwame Apagya sind das Ergebnis methodisch durchgeführter Befragungen seiner Kunden – oder vielleicht sollte man sagen, seiner Patienten. Was willst du? Ein schönes Haus, eine hübsche Einrichtung, einen gut gefüllten Kühlschrank, alles im Überfluß, was man täglich so braucht, und für besondere Tage eine Reise mit einer Boeing von Ghana Airways. Das „Studio Normal“ ist wie die Vorstellung eines Zauberers, der seine Geheimnisse preisgibt, und verweist somit auf das Eigentliche jeder Fotografie, das fortwährende Spiel von Intentionen und Illusionen – nur daß dieses hier sichtbar gemacht wird. Es vermischt im (Hinter-)Grund die Sehnsucht des Fotografen mit der des Subjekts, das, ohne sich vom Fleck zu bewegen, in ein buntschillerndes, lärmendes Manhattan reisen kann, so wie man bei uns sagt: Neapel sehen und sterben.

Wo wir gerade vom Tod reden: Man muß die besondere Neigung der Ghanaer kennen, ihren Tod wie eine Art Feuerwerk zu gestalten und dem Leben ein letztes Mal eine lange Nase zu drehen – wie immer es auch gewesen sein mag, es muß ein prächtiges Finale finden. In diesem Land, das nur durch Burkina Faso von dem wesentlich schamhafteren Mali getrennt ist, bestellen die Familien für ihre Verstorbenen Särge, die einen Airbus darstellen oder mythische Fische mit aufgerissenen Mäulern, leuchtend grüne Krokodile, knallrosafarbene Phalli, Lastwagen, Hangars, Jack-Daniels-Flaschen und in letzter Zeit auch Duracell-Batterien oder Handys, alles sorgfältig lackiert und auf Hochglanz poliert.5 So schön sie auch sein mögen, ist diesen Kleinodien des lokalen Kunsthandwerks doch eine nur kurze Existenz beschieden, da sie alsbald in einem hermetisch verschlossenen Grab verschwinden. Es bleibt nichts als ein Foto, das wertvolle, weil einzige Vermächtnis an die Nachwelt.

Die Studiofotografie befindet sich in Afrika wie fast überall sonst auf dem Rückzug. Aus Senegal und Elfenbeinküste beispielsweise ist sie nahezu verschwunden. Die Afrikaner – man sollte es nicht glauben – besitzen mittlerweile auch ihre Autofokus-, Sofortbild- und Pocketkameras, oder zumindest doch, wenn sie wie die Jungs in den Straßen von Bamako wirklich mittellos sind, einfache Konservendosen, die sie zu vorzüglichen Lochkameras umfunktionieren6 . Die Studiofotografie ist keinesfalls repräsentativ für die afrikanische Fotografie insgesamt, die seit der Zeit der Unabhängigkeit (Ghana 1957, Mali 1960, um nur diese beiden Länder zu nennen) über die AMAP (Malische Presseagentur) oder den Daily Graphic (eine hervorragende ghanaische Tageszeitung) eine Generation von Fotoreportern hervorgebracht hat, die den Vergleich mit Kollegen aus aller Welt nicht zu scheuen brauchen.

Die Tradition des Fotojournalismus wird von einer Vielzahl junger Leute fortgeführt, unter denen man Amadou Traoré hervorheben könnte, der in seiner Arbeit unter allen Fotografen zweifellos am radikalsten, unerbittlichsten und unverblümtesten vorgeht. Er ist der einzige, der Zugang zur Unterwelt und Bordellszene von Bamako hat, von wo er Leichen, zwielichtige Korridore und schmutzige Hinterhöfe zutage fördert. Auch Emmanuel Daou wäre erwähnenswert, der sich mit klassischeren Mitteln, aber durchaus talentiert in der Kultur der „Masken und Symbole“ umschaut.

Das afrikanische Studio aber ist und bleibt die perfekte Traumfabrik. „Mal ganz ehrlich“, spöttelt Philip Kwame Apagya und bricht in schallendes Gelächter aus, „wer möchte den Seinen denn schon als Handy in Erinnerung bleiben?“

dt. Christian Hansen

* Journalist, Dozent am Institut für Kommunikation an der Universität Paris X (Nanterre).

Fußnoten: 1 Vgl. das vorzügliche und einzige weitgehend vollständige Buch über die Geschichte der sogenannten „afrikanischen“ Fotografie, hg. von La Revue Noire, „Anthologie de la photographie africaine“, Paris, Oktober 1998; speziell zu diesem Thema Tobias Wendl, „Portraits et décors au Ghana“, S. 104. 2 So hat man seinerzeit Seydou Keita, einem der Väter der malischen Studiofotografie, ein Negativ für einen Spottpreis abgekauft, von dem später unzählige Abzüge gemacht wurden. Auf der Verkaufsausstellung „Paris-photo“ November 1998 im Caroussel des Louvre wurde eine riesige Vergrößerung des Bildes zum unglaublichen Preis von 38000 Franc angeboten. 3 Vgl. die phantastische Sammlung von Porträts einer vergessenen schwarzen Mittelschicht, die der südafrikanische Fotograf und Universitätsdozent Santu Mofokeng ausgegraben und zusammengestellt hat; sie wurde im November und Dezember 1998 in Bamako gezeigt und wird vom 16. März bis 24. April unter dem Titel „The Black Photo Album, Johannesburg 1890- 1950“ im Fnac Montparnasse zu sehen sein. Kommentierte Auszüge wurden in die „Anthologie de la photographie africaine“, a. a. O., S. 69-75, übernommen. 4 Es fand während des Dritten Treffens der afrikanischen Fotografie in Bamako am 9. und 10. Dezember 1998 statt, im Rahmen einer Debatte unter der Schirmherrschaft von Le Monde diplomatique. 5 Vgl. den Dokumentarfilm von Tobias Wendl und Nancy du Plessis, „Future Remembrance“, der in Kürze auf dem deutsch-französischen Kultursender Arte ausgestrahlt wird. 6 Die Ergebnisse wurden mit einem Kommentar von Edouard Waintrop in der Libération vom 17. Dezember 1998 veröffentlicht. Dieses Experiment, das so großartig ist wie seine Mittel kümmerlich, wird seit drei Jahren in Mali von der Gesellschaft Oscura durchgeführt.

Le Monde diplomatique vom 12.02.1999, von EDGAR ROSKIS