Politische Landkarte mit Rissen
Wird der „Riese Afrikas“ nach fünfzehn Jahren Militärherrschaft endlich eine stabile Zivilregierung bekommen? Der Tod von General Abacha im Juni 1998 brachte das Ende einer Diktatur, die ihre Gegner vernichtet und die Wirtschaft zerstört hat. Abachas Nachfolger General Abubakar scheint entschlossen, die Regierungsgewalt an den Präsidenten abzutreten, der Ende Februar in allgemeinen Wahlen bestimmt werden soll. Doch die Staatsgewalt fällt damit ausgerechnet in einem Moment an eine Zivilregierung zurük, dadie vom Erdölpreis abhängigen finanziellen Ressourcen des Landes einen Tiefststand erreicht haben und die Konflikte zwischen den Ethnien um die Verteilung der Staatsgelder sich weiter verschärfen. Insbesondere das Nigerdelta, wo die Haupterdölvorkommen liegen, wird von heftigen Unruhen erschüttert.
Von unserer Korrespondentin JOÄLLE STOLZ *
WER als Ausländer von Lagos kommend auf dem kleinen Flughafen von Warri im nigerianischen Bundesstaat Delta landet, muß bei der Einreisebehörde den Paß vorzeigen, so als handele es sich um ein anderes Land. „Für welche Firma arbeiten Sie?“ lautet die routinemäßige Frage des Polizeibeamten. Zum Vergnügen kommt niemand nach Warri, eine der beiden Erdölstädte Nigerias. Die kunterbunte Ansammlung von Bruchbuden, Kirchen und Rotlichtbars hatte schon immer die Reputation eines tropischen Wilden Westens: Die Weißen mit ihren Bauarbeiterstiefeln sind dabei die Goldsucher – die es allerdings auf das schwarze Gold abgesehen haben –, die drei rivalisierenden Ethnien sind die Indianer, und ein Militärverwalter übt das wenig beneidenswerte Amt des Sheriffs aus.
Doch jeder hier weiß, daß das Gesetz ebenso wie der Reichtum in den Händen der majors liegt, der großen westlichen Konzerne, die im Auftrag der nigerianischen Bundesregierung die im Nigerdelta konzentrierten Erdölvorkommen ausbeuten.1 Seit 1992 hat die Regierung ihren Sitz in Abuja, 800 Kilometer landeinwärts im Norden. Nur wenige Dorfbewohner aus der Gegend von Warri hatten bisher Gelegenheit, die brandneue Hauptstadt, die mit Hilfe der aus dem Deltaschlamm gepumpten Dollarmilliarden erbaut wurde, wenigstens im Fernsehen zu bewundern. Fünfzig Jahre nach den ersten Bohrungen warten die meisten dieser Fischerdörfer immer noch auf elektrischen Strom. Wer die Gegend bei Einbruch der Dunkelheit überfliegt, sieht in dem Labyrinth aus Wäldern und Mangroven kaum Lichter – nur die rötlichen Flammen, mit denen das Gas aus den Bohrlöchern verbrennt.
Erbitterter Krieg ums Öl
WENN sie Stromgeneratoren, Arbeit für ihre Jugend, Schulen oder Krankenstationen brauchen, wenden sich die Einwohner direkt an die majors. Der englisch-niederländische Energiekonzern Shell, der die Hälfte der gesamten nigerianischen Rohölmengen fördert, hat im letzten Jahr an die 30 Millionen Dollar (circa 52 Millionen Mark) in Entwicklungsprojekte für die Gemeinden der Förderregion gesteckt.2
Diese Zahl nennt jedenfalls der Shell-Repräsentant Christian Nwachukwu in Port Harcourt. Doch diese „freiwilligen“ Zahlungen reichen nicht aus, um den sozialen Frieden zu erkaufen. In den letzten sechs Monaten haben Piraterie und Geiselnahmen zugenommen, und die Aktionen sind offenbar immer besser organisiert. Am 6. Oktober 1998 kaperten Kommandotrupps von jungen Ijaw (die Ijaw sind die größte Ethnie im Delta) zwanzig Förderstationen und hielten sie mehrere Wochen lang besetzt. Die landesweite Rohölförderung – täglich mehr als zwei Millionen Barrel – ging um 15 bis 25 Prozent zurück, als auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen Ijaw und deren Rivalen, den Itsekeri, eine Ausgangssperre über Warri verhängt werden mußte.
Die jungen Aktivisten, die häufig automatische Waffen besitzen und ihre Überfälle mit Schnellbooten ausführen, werden immer kecker. Sie konfiszieren Boote des Flußverkehrs oder sogar Hubschrauber, die sie anschließend gegen Lösegelder von mehreren zehntausend Dollar zurückgeben. Niemand weiß, wieviel die US-amerikanische Firma Texaco für die Auslösung von acht Geiseln (darunter sieben Ausländer) gezahlt hat, die im vergangenen November auf einer Plattform mitten im Ozean, zwanzig Kilometer vor der Küste, gekidnappt worden waren.
Der neue Stil dieser Aktionen macht die Investoren aus dem Ausland genauso nervös wie die Regierung. „Früher rückten da ein paar Analphabeten an, manchmal bis zum Anschlag vollgepumpt mit Drogen, die von den Förderanlagen keinen Schimmer hatten“, erzählt ein Franzose, der schon lange in Nigeria lebt. „Jetzt wissen sie, an welchem Rad sie drehen müssen, um die Produktion zu unterbrechen, ohne allzu großen Schaden anzurichten. Man hat sie trainiert, das ist ganz klar.“
Ein britischer Ölingenieur, der die „strukturelle“ Gewalt bereits in Kolumbien kennengelernt hat, befürchtet eine ähnliche Entwicklung für das nigerianische Delta, wo die multinationalen Konzerne bereits jetzt gezwungen sind, mit den angehenden „Kriegsherren“ zu verhandeln. Olisa Akpakoba, ein Anwalt aus Lagos, der sich auf Bürgerrechte spezialisiert hat, behauptet sogar: „Im Grunde hätten die Ölkonzerne gegen eine Sezession des Südostens und des Deltas gar nichts einzuwenden.“ Dann wäre nämlich der Bundesstaat aus dem Spiel, der zwar fette Förderabgaben kassiert, jedoch unfähig ist, sein Territorium effizient zu verwalten.
Bei den Turbulenzen, die die Föderation erschüttern, geht es letztendlich um einen erbitterten Kampf um die Kontrolle des Öls – und um eine Veränderung der Struktur der in Nigeria operierenden Joint-ventures3 . Das jetzige Militärregime will andere Finanzierungsmodelle vorschlagen – eine verstärkte Privatisierung zugunsten der ausländischen Partner, die als Einzige in der Lage sind, den riesigen Bedarf der Ölindustrie zu decken. Dagegen verlangen die jungen Aktivisten, daß mindestens 40 Prozent der Besitzanteile den lokalen Gemeinschaften zugewiesen werden, die damit zu „gleichberechtigten Aktionären des Erdölsektors“ würden.
Die Ijaw sind die treibende Kraft hinter den derzeitigen Unruhen. Die viertgrößte ethnische Gruppe Nigerias umfaßt 6 bis 8 Millionen Menschen, die auf acht Bundesländer im Süden des Landes verteilt leben. Hier versuchen sie sich auch organisatorisch zu artikulieren, etwa über die Föderation der Izon (das heißt Ijaw-)Gemeinden des Nigerdeltas, in der Bewegung für das Überleben der ethnischen Nationalität der Ijaw (Mosiend), oder in der Niger Delta Volunteer Force (NDVF), einer Miliz, die 1966 von einem aufständischen Offizier namens Major Isaac Boro gegründet wurde.
Die Ijaw haben einen alten Konflikt mit der nigerianischen Bundesverwaltung. Als sie 1967 von den Ibos in die Sezession von Biafra hineingezogen wurden, hatten sie sich, wie die anderen ethnischen Minderheiten auch, schnell für ein Bündnis mit dem föderalistischen Lager entschieden und den Truppen aus Lagos mit ihren Ortskenntnissen geholfen. Major Boro, der nach der Ausrufung einer kurzlebigen „Delta- Republik“ nur knapp einem Erschießungskommando entronnen war, wurde mit der Bildung von Amphibieneinheiten beauftragt. Im Gegenzug hatte man ihm die Gründung dreier Bundesstaaten zugesagt, in denen die Ijaw die Bevölkerungsmehrheit stellen würden. Doch gegen Ende des Bürgerkriegs wurde Major Boro unter nebulösen Umständen erschossen. Von den Föderalisten aus dem Weg geräumt? So behaupten es heute jedenfalls die jungen Aktivisten.
Als wieder Frieden eingekehrt war, hat man die Versprechen schnell vergessen. Und wenn die Minderheiten im Delta hofften, als Ersatz für ihre politische Anerkennung wenigstens von dem Geldsegen zu profitieren, den das Erdöl dem Lande in den siebziger Jahren bescherte, so wurden sie auch darin enttäuscht. 1978 übertrug ein Dekret des Staatschefs General Olusegun Obasanjo die Exklusivrechte an allen Ressourcen unter der Erde und im Küstenmeer auf die Zentralregierung – allerdings mit der Maßgabe, daß von diesem Geld das ganze Land profitieren sollte. Zu diesem Zweck wurde ein komplexes Umverteilungssystem beschlossen, das eine der originellsten Eigenheiten des nigerianischen Föderalismus darstellt.4
Doch dieses egalitär ausgerichtete System wurde nie zufriedenstellend in die Praxis umgesetzt. „Es ist, als würde man ein Hemd stehlen und dann dem Besitzer lediglich einen Knopf zurückgeben.“ So formulierte es einer der schärfsten Kritiker, der Ogoni-Schriftsteller Ken Saro- Wiwa.
Die extreme Zentralisierung eines Staates, der alles auf die Stärkung der Ölindustrie setzt, aus der er heute über 80 Prozent seiner Einnahmen bezieht, und sowohl die Landwirtschaft wie andere Industriezweige benachteiligt, hat den Kampf der verschiedenen Gruppen um die Macht noch verschärft. So verwundert es kaum, daß diese Macht in Nigeria so oft die Form des Militärregimes, also der zentralisiertesten aller Regierungsformen, angenommen hat. Und es wird verständlich, daß eine Karriere in einer so putschfreudigen Armee den zahlreichen Minderheiten des Landes oft als der schnellste Weg zur Kontrolle der Bodenschätze erschienen ist.5
Neue Rolle für die Militärs
WÄHREND des langsamen Niedergangs der nigerianischen Wirtschaft – das Durchschnittseinkommen ist im Lauf der achtziger Jahre von über 1000 Dollar auf unter 300 Dollar pro Kopf gesunken – hat sich im Delta die allgemeine Frustration gefährlich aufgestaut. Dort fühlt sich die Bevölkerung vom „fernen und herrschsüchtigen Norden“ ausgeplündert. Als besonders schreiendes Unrecht empfindet man in den Erdölregionen die Benzinknappheit, die Nigeria seit nunmehr zwei Jahren beinahe lahmlegt und die auf die Gleichgültigkeit der öffentlichen Verwaltung, vor allem aber auf die grenzenlose Raffgier einer kleinen Clique von Profiteuren zurückzuführen ist. Diese Benzinknappheit ist auch die indirekte Ursache für die schreckliche Katastrophe vom 17. Oktober 1998, die in Jesse, unweit von Warri, über tausend Todesopfer forderte: Eine Ölpipeline flog in die Luft, als Dorfbewohner versuchten, aus ihr Benzin abzuzapfen, das ins 900 Kilometer nördlich gelegene Kaduna gepumpt wurde.
Zwar ist das Straßennetz im Norden erheblich besser, doch die Schlangen vor den Tankstellen sind dort genauso lang wie im Süden. Die Krankenhäuser haben genausowenig Geld, und in den Lehmhäusern der Haussa nahe der Grenze zu Niger sterben genauso viele Frauen im Kindbett wie in den Schilfhütten des Deltas. Weil sie sich der Regierungspfründe sicher war, hat die Haussa-Fulani-Elite weder in die Industrie noch in das Bildungswesen wirklich investiert – womit den radikalen Islamisten, die sich gern als Sprachrohr der unterdrückten Massen sehen, zunehmend das Feld geräumt wurde. „Wir haben verstanden, daß Schweigen eben nicht Gold ist: Es mußte gehandelt werden, denn der Norden lief Gefahr, sich selbst zu zerstören“, sagt Usman Bugaje, ein gemäßigter Islamist, der in der regierungsunabhängigen Organisation „Network for Justice“ (“Netzwerk für den Frieden“) in Kaduna aktiv ist. Er hat im Frühjahr 1998 eine Petition verfaßt, um den damals regierenden Diktator Sani Abacha davon abzubringen, seine eigene Nachfolge anzutreten – nunmehr als „ziviler Präsident“.
Hinter diesem Text, den zunächst achtzehn Politiker aus dem Norden unterzeichnet hatten, sammelte sich schnell ein Bündnis von reichen Notablen aus dem ganzen Land – die Gruppe der 34 – die eine Öffnung des politischen Systems anstrebten, das durch die Ambitionen des Staatschefs auf die Präsidentschaft völlig blockiert war. Der Tod von Exgeneral Musa Yar'Adua, dem wichtigsten Oppositionellen des Nordens, der unter verdächtigen Umständen im Gefängnis starb, wo er seit 1995 wegen „Verschwörung“ einsaß, war der letzte Anstoß für diese Fronde der konservativen Kräfte, die sich mit den lauteren Stimmen der Opposition aus dem Südosten vereinte.
Ab da wurde die Situation in Nigeria allmählich unkontrollierbar.6 General Sani Abacha lebte verschanzt in seinem Präsidentenbunker von Aso Rock, einer untertunnelten und elektronisch gesicherten Villa, plünderte hemmungslos die Staatskassen aus und hörte nurmehr auf seine Höflinge und die féticheurs7 , die behaupteten, ihn gegen seine Feinde zu beschützen. Selbst sein plötzlicher Tod in der Nacht vom 8. Juni 1998 war ein spektakulärer Abgang: Ob er nun von seinen Rivalen vergiftet wurde, wie es die Gerüchteküche behauptet, oder an sexueller Überanstrengung starb, wie die offizielle Version lautet – der General mit der schwarzen Brille verschied in der Gesellschaft von drei Prostituierten, und zwar am Abend vor der offiziellen Verkündung seiner Kandidatur. Dieser wenig ehrenvolle Abgang ließ die Zurückhaltung von Abachas Nachfolger General Abdulsalam Abubakar in einem um so positiveren Licht erscheinen. Dieser Berufsoffizier, verheiratet mit einer angesehenen Juristin, entwarf umgehend ein Programm zur politischen Liberalisierung, worin ihn die USA und die Europäische Union nachhaltig unterstützten. Die beiden Großmächte sahen in diesem Wechsel an der Regierungsspitze eine unerwartete Chance, erneut einen „Übergang zur Demokratie“ auf den Weg zu bringen, der in den letzten zehn Jahren so oft gescheitert war.
Nun muß im Rahmen der in Nigeria herrschenden überaus „pragmatischen“ Verhältnisse noch eine institutionelle Rolle für die Armee gefunden werden, die ihr – ähnlich wie in Chile oder Indonesien – die Möglichkeit gibt, eine gewisse Kontrolle über die Staatsgeschäfte und vor allem über ihre eigene Neustrukturierung zu behalten. In dieser Hinsicht stellt die Forderung einiger Politiker nach einer „Regionalisierung“ der Armee eine Provokation für die nigerianischen Militärs dar, die sich stets als Garanten der Einheit des Landes dargestellt haben.
Die Gefahr einer sozialen Explosion
SCHLIESSLICH muß noch die schwierige Frage nach einem Kandidaten für die Präsidentschaftswahl in diesem Februar gelöst werden. Der neue Präsident sollte einerseits die Armee wie das Establishment aus dem Norden beruhigen können, andererseits aber auch den Affront wiedergutmachen, der dem yorubadominierten Südwesten mit der Annullierung der Präsidentschaftswahlen nach dem Sieg des Milliardärs Moshood Abiola im Juni 1993 widerfahren war. Abiola, der zur Symbolfigur der Opposition avanciert war, saß ohne Gerichtsurteil über vier Jahren im Gefängnis, wo er am 7. Juni 1998 an Herzversagen starb, kurz bevor ihm die Lockerungsmaßnahmen des neuen Regimes für politische Gefangene zugute gekommen wären. Sein Tod – in Anwesenheit zweier Abgesandter der US-Regierung8 – beseitigte genau zum richtigen Zeitpunkt das Hindernis, das einer „Konsenslösung“ des Problems im Wege gestanden hätte. Die von internationalen Experten durchgeführte Autopsie konnte den Verdacht auf eine Vergiftung nicht restlos ausräumen.
Nun scheint der Weg offen für den General a. D. Olusegun Obasanjo, den aussichtsreichsten Kandidaten der Demokratischen Volkspartei (PDP). Obasanjo wird unterderhand vom General a. D. und ehemaligen Staatschef Ibrahim Babangida finanziert und hat bereits die Mehrheit der Sitze bei den Lokal- und Regionalwahlen im Dezember und Januar erobert. Sein Hauptverdienst besteht darin, daß er 1979 der einzige militärische Staatschef in der bewegten Geschichte Nigerias war, der die Macht zum vorgesehenen Datum an eine Zivilregierung übergeben hat. Doch dieser joviale und harmlose Yoruba ist im Norden beliebter als in seiner Herkunftsregion, wo die Allianz für Demokratie (AD), die vor allem ehemalige Gegner des Abacha-Regimes vereint, ihm eine vernichtende Niederlage beigebracht hat.
Die zivilen politischen Eliten konzentrieren sich wie besessen auf die Aufgabe, die staatlichen Ehrenämter auf sechs große Regionen zu verteilen, die angeblich die ethnische Aufteilung widerspiegeln, sind jedoch auf den Kampf gegen die katastrophale ökonomische Situation schlecht vorbereitet. Die Öleinkünfte liegen um ein Drittel niedriger als 1997, die Infrastruktur ist praktisch zerstört, und das Land hat über 30 Milliarden Dollar Schulden. Die internationale Gemeinschaft befürchtet eine soziale Explosion und hat bereits Kredite in Aussicht gestellt, um dem „Riesen Afrikas“ zu helfen. Doch fünfzehn Jahre Militärherrschaft haben tiefe Risse hinterlassen. Um Nigeria von allen seinen Dämonen zu befreien, wird es mehr als nur ein Wunder brauchen.
dt. Miriam Lang
* Journalistin