Tausche Frauenrechte gegen Hilfsprogramme
DIE Vereinten Nationen, die Europäische Union und die Geberländer, von denen der Wiederaufbau Afghanistans abhängt, haben ihre Hilfe an die Bedingung geknüpft, daß die Menschenrechte respektiert werden, und zwar vor allem die Rechte der Frauen, die unter dem Regime der Taliban besonders zu leiden haben. Diese Isolationspolitik könnte aus dem leidgeprüften Land, das zunächst zwischen die Mahlsteine des Kalten Krieges und der Großmachtinteressen geriet und nun das bornierte Regime der „Koranschüler“ rdulde, schließlich einen Sündenbock machen, ein Symbol für die Ablehnung der Gesamtheit der islamischen Gesellschaften seitens der westlichen Länder. Afghanistan ist in einem Teufelskreis gefangen, aus dem es so bald keinen Ausweg geben wird.
Von CHANTAL AUBRY *
Die Fernstraße nach Osten, von Kabul nach Dschalalabad, war für die Afghanen von jeher eine Lebensader. Zumal weil man auf diesem Wege, über den berühmten Khyber-Paß, weiter bis Peschawar reisen kann – die Stadt auf pakistanischem Gebiet ist heute für die Versorgung des Landes unverzichtbar geworden.1 60000 Afghani – anderthalb Dollar – kostet die Fahrt, das ist eine beträchtliche Summe in einem Land, in dem es nichts mehr gibt: weder Löhne noch Häuser, noch Lebensmittel, noch Straßen. Früher konnte man die 175 Kilometer zwischen den beiden Städten in anderthalb Stunden zurücklegen, heute dauert die Reise sechs Stunden, und die völlig überladenen Kleinbusse brauchen noch länger. Etwas schneller kommen die Taliban voran, die zumeist in ihren geliebten „Pick-ups“ mit Allradantrieb unterwegs sind. Denn diese wunderbare Straße, die hinter Dschalalabad zunächst dem Lauf des Kabul folgt, sich dann am Sarobisee vorbeiwindet, einer blauen Pfütze auf sandgelbem Wüstengrund, um schließlich den spektakulären Tang-i-Gharo-Paß zu überwinden, ist nur noch eine jämmerliche ausgefahrene Piste, auf der die Reisenden sich in ihren alten Fahrzeugen stoisch durchschütteln lassen. Zwanzig Jahre der Bombardierungen haben dieser ehemals modernen Straße den Garaus gemacht.
Hat man auf dem Weg nach Kabul das Städtchen Sarobi passiert, tauchen am Straßenrand immer häufiger die traurigen Gestalten von kleinen Kindern auf, die mit unbrauchbaren Schippen versuchen, die riesigen Schlaglöcher auszubessern. Die meisten sind kaum zehn Jahre alt. Zerlumpt und in abgetragenen Schuhen, werden sie von den Staubwolken eingehüllt, die die vorbeifahrenden Wagen aufwirbeln, und wagen sich doch immer wieder heran, um ein paar Afghani zu erbetteln.
Es drängt sich auf, sie als Inbegriff des heutigen Afghanistan zu sehen: Völlig heruntergekommen, überfordert und unterernährt kratzen sie verzweifelt an einer Straße herum, die selbst von einer ganzen Truppe Bulldozern nicht instandzusetzen wäre. Und die internationale Gemeinschaft zeigt sich völlig gleichgültig. Den Taliban ist es gelungen, die Vertreter der internationalen Medien aus dem Land zu vertreiben, so nachhaltig, daß sich allmählich niemand mehr für das Leid des afghanischen Volkes interessiert – ausgenommen das Unrecht, das die „Koranschüler“ den Frauen zufügen. Und das benutzt man nun auch noch als Alibi.
Die internationale Gemeinschaft, allen voran die Vereinten Nationen, hat das afghanische Volk natürlich nicht umstandslos den heimischen Gewaltherrschern überlassen, sondern schien zunächst zu deutlicher Einflußnahme entschlossen. Aber indem die Hilfe an die Einhaltung der Menschenrechte und vor allem der Frauenrechte gebunden wurde, haben die führenden westlichen Länder eine Blockadesituation herbeigeführt und damit zum weiteren Abbau ebendieser Rechte beigetragen: Die Afghanen wissen im Augenblick kaum, wie sie sich ernähren, geschweige denn in Würde leben sollen. Anfang 1998 fand diese unglückliche Entwicklung ihren Höhepunkt in der Kampagne, die von Emma Bonino, der EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe, gestartet wurde – eine Spätfolge ihres von spektakulären Zwischenfällen begleiteten Aufenthalts in der afghanischen Hauptstadt im Sommer 1997.
„Als Frau Bonino nach Kabul kam“, erinnert sich ein Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes, „bestand sie darauf, sich ohne Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit zu zeigen und zu fotografieren – beides ist nach den Gesetzen der Taliban verboten. Den meisten Ausländern, die hier leben, erschien das als eine unnötige Provokation. Es war abzusehen, daß sie verhaftet werden würde.“ Wie alle aus dem Westen gekommenen Mitarbeiter von internationalen Organisationen und NGOs findet es der Mitarbeiter vom Roten Kreuz empörend, wie in der westlichen Presse über den Afghanistankonflikt berichtet wird. „Hier gelten andere Sitten als bei uns, und wenn man in Afghanistan lebt, respektiert man sie, auch wenn sie einem absurd erscheinen. Daß die Frauen den Tschador tragen und zu Hause bleiben sollen, daß die Ehepartner von den Familien ausgesucht werden – das alles hat es auch früher schon gegeben, das ist keine Erfindung der Taliban. Die haben diese Traditionen lediglich institutionalisiert und völlig überzogen. Warum regt man sich erst jetzt darüber auf?“
In seinem Büro in Peschawar bemüht sich auch Jean-François Cautain, Leiter der französischen NGO Madera, die von der Europäischen Gemeinschaft finanziert wird2 , um eine differenzierte Betrachtungsweise: „Man muß den geschichtlichen Zusammenhang wiederherstellen. Daß die Sowjets in einer äußerst konservativen muslimischen Gesellschaft die Befreiung der Frau durchsetzen wollten, hat eine heftige Gegenreaktion bewirkt. Außerdem haben seit 1979, als der Krieg begann, immer mehr gebildete Frauen das Land verlassen. Unter dem Regime der Mudschaheddin und seit Ende 1996 unter der Herrschaft der Taliban nahm diese Abwanderung noch zu. Überhaupt hat Kabul viele Bewohner verloren. Inzwischen ist die städtische Bevölkerung völlig durchmischt mit Leuten vom Land, die viel stärker den alten Sitten verhaftet sind.“
Der Mann hinter der Tür
BEKANNTLICH ist die Hauptstadt den Taliban verhaßt, sie gilt ihnen als Hochburg der Verwestlichung, und sie haben sich vorgenommen, sie zu „säubern“. Von jahrelangen Luftangriffen verwüstet und der Mehrheit ihrer mittelständischen Bewohner beraubt, ist die Stadt kein angenehmer Aufenthaltsort, schon gar nicht für Frauen. Es fehlt am Nötigsten, und das Leben ist bestimmt von Schikanen und Erniedrigungen.
Dies zeigt sich im „guest house“, in dem der stellvertretende Minister für die Förderung der Tugend und die Unterdrückung des Lasters sich zum Interview eingefunden hat. Er sitzt auf der Terrasse, und weil seine Gesprächspartnerin eine Frau ist, muß sie hinter einer halbgeöffneten Tür in einem Raum Platz nehmen, der einst ein schöner Wintergarten war. Nur aus dieser wunderlichen Position und mit Hilfe eines etwas überforderten Übersetzers kann das sogenannte Interview stattfinden. Die Verschleierung ist den Taliban heilig, und der Trick mit der Tür bewahrt den Mullah Haqani davor, sich dem Anblick einer Journalistin auszusetzen.
Die Positionen dieses Taliban-Politikers, der als Konservativer gilt, bleiben systematisch hinter den jüngsten Erklärungen von Mullah Omar, dem Führer der Bewegung3 , zurück. Das gilt vor allem für die heikle Frage der Witwen, denen es in der Taliban-Gesellschaft besonders schlecht ergeht. Erst seit kurzem sind neue Bestimmungen in Kraft: Witwen sind nun nicht mehr gezwungen, einen Bruder oder ein männliches Mitglied der Familie ihres verstorbenen Gatten zu heiraten. „Eine Frau kann ihren Schwager heiraten, wenn sie es wünscht, sie ist dazu nicht mehr verpflichtet“ räumt Haqani ein. „Aber es bleibt dabei, daß nach dem Koran einer Frau kein Anteil am Erbe zusteht.“ Der einzige Fortschritt: „Vor diesem Gesetz konnte der Bruder sie an einen anderen verkaufen, wenn er sie selbst nicht wollte. Dieses Recht hat er nun nicht mehr.“ Der Mann auf der anderen Seite der Tür scheint das zu bedauern. Was die Einführung des Tschador, der Körperstrafen und der öffentlichen Hinrichtungen angeht, zeigt er sich unnachgiebig. Nichts soll sich ändern, Scharia oblige.
„Für die Taliban sind wir keine menschlichen Wesen“, empört sich die fünfzigjährige Rahila. „Wir sollen auf keinen Fall Bildung erhalten. Sie betrachten uns als ihr Eigentum. Und sie zwingen die Witwen, sie zu heiraten, vor allem wenn es schöne Frauen sind.“ Rahila ist im Kabul von einst aufgewachsen, hat das französische Istiqlal-Gymnasium besucht und war Mathematiklehrerin. Sie hat sich der Untergrundorganisation Revolutionary Association of the Women of Afghanistan (Rawa) angeschlossen und ist, wie die meisten Mitglieder dieser Organisation, nach Peschawar geflohen. Mit Tränen in den Augen, voller Empörung spricht sie von den bizarren Vorstellungen der Taliban: daß Frauen den Tschador zu tragen haben, das Haus nicht allein verlassen dürfen, nicht zur Schule gehen, nicht arbeiten dürfen usw. „Das ist doch kein Leben.“
Die Frauenvereinigung Rawa wurde 1977 von Mina Keshwar Kawal gegründet und beteiligte sich ab 1979 am Kampf gegen die sowjetische Besatzung. 1987 wurde Mina in der pakistanischen Stadt Quetta, wo sie lebte, ermordet – angeblich von Mitgliedern der Hisb-i Islami, der Partei von Gulbuddin Hekmatjar. Die Vereinigung machte weiter. Ohne finanzielle Unterstützung versuchte sie, die internationale Öffentlichkeit auf die brutalen Übergriffe der Mudschaheddin und später der Taliban aufmerksam zu machen. Die Frauen, die früher zumeist als Lehrerinnen, Ärztinnen oder im Staatsdienst beschäftigt waren, sind in Peschawar, Quetta und Islamabad aktiv; sie geben die Hoffnung nicht auf. Aber Rahila meint: „Alle Frauen sind gedrückter Stimmung. Wer Lehrerin oder Wissenschaftlerin war, kann sich nicht damit abfinden, zu Hause zu sitzen und Kartoffeln zu schälen. Wenn die Frauen heute keine Übergriffe zu befürchten haben, dann nur, weil sie in einem Gefängnis sitzen.“
„In Kabul ist heutzutage jeder unglücklich, auch die Männer“, klagt Fahima. Die achtundzwanzigjährige Witwe lebt in Kabul, allein mit ihren beiden Söhnen von sechs und sieben Jahren. „Dreißig oder vierzig Jahre lang hatten die Frauen ihre Freiheit. Den Schleier haben die Mudschaheddin eingeführt. Sie waren es auch, die Fernseher zerschlagen und Kassetten verboten haben. Sie haben Leute ins Gefängnis gesteckt, Frauen vergewaltigt und Häuser geplündert. Heute müssen wir so etwas nicht mehr befürchten, aber wir haben Angst vor der Zukunft. Ich habe kein Geld mehr, keinen Beruf gelernt, und darf nicht arbeiten gehen. Was soll aus uns werden, aus meinen Söhnen und mir?“
Ob resigniert oder aufbegehrend, die Frauen leben unter dem Tschador, und es bleibt in der Tat die Frage: Wie soll es weitergehen? Nancy Hatch Dupree, Expertin für die Lage der Frauen in Afghanistan4 , weist auf die gesellschaftlichen Unterschiede hin. Die große Mehrheit der Frauen lebt in den ländlichen Gebieten, besitzt kaum Schulbildung und kümmert sich seit eh und je vor allem um Kinder und Familie. An der Spitze der Gesellschaftspyramide gab es die wenigen Frauen, die ab 1959 Verwestlichung und Emanzipation mitvollzogen haben, die in verantwortlicher Stellung tätig waren und häufig für internationale Organisationen gearbeitet haben. Dazwischen besteht aber noch eine Mittelschicht von Frauen (im Staatsdienst und im medizinischen Bereich, Lehrerinnen usw.), die der muslimischen Kultur verhaftet sind und in deren Vorstellungen sich traditionelle und fortschrittliche Ideen kreuzen – viele von ihnen verließen das Land. Die Verwaltung, wo eine große Anzahl von ihnen arbeitete, ist zusammengebrochen. Das gleiche gilt für das öffentliche Gesundheitswesen – ein äußerst umstrittenes Thema. Daß Frauen nicht mehr in Krankenhäusern arbeiten dürfen und nicht mehr behandelt werden, gab in den vergangenen Monaten häufig Anlaß zur Empörung.
Shir Mohammad Habas Stanikasai kennt diese Probleme. Der stellvertretende Gesundheitsminister, ein sechsunddreißigjähriger Ingenieur, der fließend Englisch spricht, gehört dem gemäßigten Flügel der Taliban an; er macht keinen Versuch, den Fragen auszuweichen: „Früher hatten Männer und Frauen gleichermaßen Zugang zu allen Krankenhäusern. Das wird nach und nach auch wieder möglich sein. Und es stimmt nicht, daß Frauen überhaupt nicht in ein Krankenhaus aufgenommen werden. Die Klinik Malalai ist ausschließlich für Frauen eingerichtet, und auch in den beiden Krankenhäusern, die vom Internationalen Roten Kreuz betrieben werden [Wasir Achbar Chan und Karte Seh] gibt es Betten für Frauen. Das Personal in all diesen Einrichtungen besteht seit jeher aus Frauen.“
Was er allerdings nicht anführt, sind die lächerlich geringen Gehälter der Ärzte (150000 Afghani im Monat)5 , die überdies in den letzten Monaten nicht ausgezahlt wurden. Und es ist auch nicht die Rede von den geradezu mittelalterlichen Zuständen, die inzwischen in einigen Krankenhäusern Kabuls herrschen, so etwa im Gumhorjet-Hospital. Es gibt keine Röntgengeräte und keine Medikamente mehr und auch keine Krankentransporte: Die beiden Notärzte berichten, einer der beiden Krankenwagen, über die das Krankenhaus früher verfügte, sei fahruntüchtig, und der Betrieb des anderen so teuer, daß er nur noch im „äußersten Notfall“ eingesetzt wird. „Die internationalen Organisationen sehen sich das an“, meinen die Ärzte voller Bitterkeit, „und dann hört man nie wieder von ihnen.“
Auch der stellvertretende Gesundheitsminister leugnet dies nicht. „Früher gab es in Kabul 29 Krankenhäuser, aber einige sind völlig zerstört worden. Mehr als die Hälfte der Ausstattung wurde gestohlen. Um diese Einrichtungen wieder aufzubauen, sind Millionen Dollar nötig. Ich bemühe mich im Augenblick nach Kräften, die NGOs nach Kabul zurückzuholen. Wir sind noch mitten in den Verhandlungen, aber ich bin zuversichtlich. Acht oder neun Organisationen haben die neue Vereinbarung bereits unterzeichnet.“
Leider sind die Perspektiven im Augenblick nicht gerade ermutigend: Es herrscht Winter, und Brot, Wasser und Strom sind in Kabul so knapp wie nie zuvor. Und die Geberländer arbeiten an einem „Common Programming“, das dazu gedacht ist, stärkeren Einfluß auf die Arbeit der NGOs zu nehmen, die als zu eigenständig gelten und denen man eine zu hohe „Kooperationsbereitschaft“ im Umgang mit den Taliban vorwirft.
Im übrigen ist auch die Entwicklung an der politischen und der militärischen Front reichlich ungewiß. Die Taliban möchten zwar von der UNO anerkannt werden, unternehmen aber kaum Anstrengungen, die Situation zu normalisieren. Das UN-Flüchtlingskommissariat hat, nachdem im letzten Sommer einer seiner Vertreter ermordet wurde, sogar sein Büro in Kabul geschlossen. Da alle UN-Sondermissionen zur Lösung des Konflikts, der als rein ethnische Auseinandersetzung begriffen wird, gescheitert sind, geht es nicht weiter. Derzeit bieten den paschtunischen Taliban nur die tadschikischen Milizen des Generals Massud noch Widerstand. Obwohl die Taliban inzwischen die größten Städte kontrollieren (einschließlich Masar-e Scharif, dessen Rückeroberung ein Blutbad bedeutete), müssen sie dennoch im Norden des Landes, insbesondere im Umkreis der Stadt Kundus, weiterhin kämpfen. Dabei stecken sie immer wieder Niederlagen ein, zumal die amerikanische und pakistanische Unterstützung offenbar eingeschränkt wurde.
Sogar der UN-Generalsekretär hat zugegeben , daß „die Rolle der UNO (...) nur eine Alibifunktion hat; sie dient dazu, die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft zu kaschieren.“6 Wenn also die Amerikaner ihren politischen Kurs ändern, weil die Taliban weiterhin Ussama Bin Laden unterstützen, den die größte Weltmacht zum Staatsfeind Nummer eins erklärt hat7 , dürfte dies erheblichen Einfluß auf die Kräfteverhältnisse haben.
dt. Edgar Peinelt
* Journalistin bei La Croix Paris.