12.02.1999

Frankreichs Geschichte scheibchenweise

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Frankreichs Geschichte scheibchenweise

FRANKREICH läßt sich gar nicht gerne an die dunklen Seiten seiner Geschichte erinnern, die einen Schatten auf die grande nation werfen. So wurde Maurice Papon, der ehemalige Generalsekretär der Polizeipräfektur des Departements Gironde, der wegen seiner Rolle bei der Organisation des Abtransports von Juden aus Vichy-Frankreich angeklagt war, erst im April letzten Jahres zu zehn Jahren Haft verurteilt. Doch auch danach bleiben ganze Bereiche der Geschichte weiter in Vergessenheit. Die Wahrheit über das Massaker, das am 17. Oktober 1961 an Algeriern in Paris verübt wurde, ist nach wie vor unaufgedeckt, weil sich das offizielle Frankreich in Schweigen hüllt, sobald es um den Algerienkrieg geht. Diese gewollte Amnesie macht es Maurice Papon, dem damaligen Polizeipräfekten von Paris, möglich, eine Klage gegen den Historiker Jean-Luc Einaudi anzustrengen, weil dieser sich kritisch über Papons Rolle bei den tragischen Ereignissen geäußert hat. Der Prozeß wird in diesem Monat eröffnet.

Von CLAUDE LIAUU *

Während des Verfahrens gegen Maurice Papon, der 1998 wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde, rief eine Zeugenaussage des Historikers Jean-Luc Einaudi1 in Erinnerung, daß der Angeklagte zur Zeit des Algerienkriegs Polizeipräfekt von Paris war.

Am 17. Oktober 1961 kam es in der Hauptstadt zu einer Protestkundgebung algerischer Einwanderer gegen die Ausgangsverbote, die man gegen sie verhängt hatte und die nach dem Prinzip der „Gesichtskontrolle“ praktiziert wurde. Im Laufe dieser Demonstration wurden mehr als fünfzehntausend Algerier festgenommen, und es kam zu einer Welle brutaler polizeilicher Gewaltanwendung, die von der Presse damals totgeschwiegen wurde. Vier Monate später, am 8. Februar 1962, fanden in der Pariser Métrostation Charonne acht „richtige Franzosen“ den Tod, die an einer Demonstration gegen die Organisation de l'Armée Secrète (OAS)2 , teilgenommen hatten.

Natürlich herrschten 1961 und 1962 in Frankreich nicht die gleichen Zustände wie in der Zeit der Kollaboration unter den Deutschen und dem Vichy-Regime. Die beiden genannten Ereignisse waren auch keineswegs die einzigen Verbrechen in einem schmutzigen Krieg, in dem beide Seiten Schuld auf sich geladen hatten: etwa bei der Schlacht um Algier, bei den Schießereien in der Rue d'Isly im Sommer 1962 in Oran, beim Massaker von Melouza, bei der Liquidierung zahlreicher politischer Gegner durch die nationale Befreiungsfront FLN, usw.

Aber das Massaker vom 17. Oktober 1961 wiegt besonders schwer, weil es mitten in Paris stattfand und weil der französische Staat es immer noch nicht zur Kenntnis nehmen will. Welche absurden Folgen sich daraus ergeben können, zeigt die Verleumdungsklage, die Maurice Papon gegen Jean-Luc Einaudi eingereicht hat, weil dieser in Le Monde vom 20. Mai 1998 geschrieben hatte: „Im Oktober 1961 verübten die Polizeikräfte dort ein Massaker, und dabei befolgten sie die Befehle von Maurice Papon.“

Schon mit der Unterzeichnung der Verträge von Evian war für die meisten Vergehen und Verbrechen, die mit dem Algerienkrieg zusammenhingen, eine Amnestie in Kraft getreten. Bei keinem anderen Ereignis in der Geschichte Frankreichs hat man die Vergangenheit so rasch und so systematisch entsorgt. Das mag sich aus der Notwendigkeit erklären, einen Krieg zu beenden, in dem auch Franzosen gegen Franzosen gestanden hatten. Doch auch ein (wahl-)politisches Kalkül dürfte eine erhebliche Rolle gespielt haben. Diese Amnestie hat allerdings höchst beunruhigende Folgen: Sie macht es einem Folterer möglich, sein Opfer, das ihn anklagt, wegen übler Nachrede verurteilen zu lassen. Die Amnestie geht also einher mit der Pflicht zur Amnesie.

Daß damit auch keine ungehinderte Forschung über den Zeitraum 1954 bis 1962 möglich ist, darf nicht nur Historiker interessieren. Die Wahrheit herauszufinden ist eine Aufgabe, die sich aus der Verpflichtung auf die Grundwerte der Republik ergibt: Nur unter Berufung auf diese Werte kann man dem Rassismus entgegentreten, der eine Erblast der Dekolonisierung ist. Nur so kann man versuchen, eines der Hindernisse abzubauen, die den jungen Nachkommen der Einwanderer die Integration in die Gesellschaft erschweren: daß nämlich ihre Geschichte nicht Teil der Nationalgeschichte ist.

Der Zugang zu den sogenannten Nationalarchiven, die im Prinzip allen Bürgern gehören, bleibt nur allzu oft versperrt. Für die Akten zum Algerienkrieg muß man befürchten, daß sie mindestens bis 2020 oder noch länger geschlossen bleiben, je nachdem, wie eng man das Gesetz vom 3. Januar 1979 auslegt, das diese Frage regelt.3 Vorausgesetzt, die Dokumente sind überhaupt noch vorhanden! Eine Untersuchung des Staatsrates Dieudonné Mandelkern im Auftrag des Innenministers hat ergeben, daß ganze Aktenbestände, die zur Aufklärung der Ereignisse vom 17. Oktober von entscheidender Bedeutung gewesen wären, aus der Polizeipräfektur verschwunden sind.4 Einige Beispiele: Die Akten des Zentrums für die Erfassung der Personaldaten von Algeriern in Vincennes; die Anordnungen von Hausarrest oder Verbannung; die über vier Jahre hinweg gesammelten Unterlagen über die Geheimdienst- und Kampfgruppen, die den FLN zu bekämpfen hatten. Sogar der Bericht über den 17. Oktober, den der Polizeipräfekt an die Regierung und den Präsidenten geschickt hatte, bleibt unauffindbar.

Auffällig ist dabei, daß genau die Dokumente verschwunden sind, die es ermöglicht hätten, die Verantwortlichen für die Ereignisse und die genaue Zahl der Opfer zu ermitteln. Daraus ergibt sich zweierlei: Zum einen müssen die Umstände dieses Aktenschwunds untersucht werden, dessen Ausmaß darauf hindeutet, daß er systematisch organisiert wurde, um die Aufdeckung der Wahrheit zu verhindern. Zum anderen dürfen die Archive der Polizeipräfektur nicht länger einen Sonderstatus genießen, sondern müssen den allgemeinen Regelungen für die nationalen Archive unterworfen werden.

Das Problem sind nicht nur diese verschwundenen Akten: Die Regeln, nach denen Historiker Zugang zu den Dokumenten erhalten, sind insgesamt undurchsichtig. Daß die Ereignisse vom 17. Oktober 1961 das Interesse der Medien gefunden haben, führte immerhin dazu, daß man bestimmten Wissenschaftlern beschränkte Einsicht gewährte. Anderen bleibt der Zugang jedoch verwehrt. Allerdings hat der Premierminister in einem Rundschreiben vom 12. November 1997 strikte Gleichbehandlung in dieser Frage gefordert und sich gegen Diskriminierungen gewandt, die einer politischen Zensur gleichkämen.

Demnach ist es unverständlich, daß Jean-Luc Einaudi, dem die bislang gründlichste Studie zu verdanken ist5 , weiterhin keine Einsicht in Dokumente erhält, die er nicht nur für seine Arbeit braucht, sondern auch, um seine Verteidigung in dem anstehenden Verleumdungsprozeß vorzubereiten.

Dennoch könnte der Prozeß gegen Einaudi unter den Wissenschaftlern zu einem Minimalkonsens über einige grundlegende Fragen führen. Das wäre in erster Linie die Frage nach dem Ausmaß der Gewalttaten. Um Zahlen geht es in allen großen politischen Auseinandersetzungen; das gilt nicht nur für den Algerienkonflikt, sondern ebenso für 1917, für die Résistance, für die Völkermorde ... Dreißig Jahre nach den Ereignissen mußte Maurice Papon die (nach wie vor offizielle) Zahl von zwei oder drei Toten korrigieren: Heute spricht er von etwa fünfzehn. Seriösere Schätzungen sprechen von mehreren Dutzend (Mandelkern) bis zu zweihundert oder mehr (Einaudi).

Vergangenheit, die nicht vergeht

DOKUMENTE des Justizministeriums weisen aus, daß Ermittlungsverfahren zu sechzig bis achtzig Todesfällen eingeleitet wurden. Die Archive dieses Ministeriums müßten transparent und zugänglich gemacht werden. Viele Leichen wurden nie aufgefunden. Aber wie viele waren es? Nach Auskunft des Mandelkern-Berichts wurden „vor einigen Jahren“ (!) „alte Archive“ der Wasserpolizei vernichtet, so daß sich nicht mehr genau feststellen läßt, auf welche Weise einige Demonstranten ertrunken sind.

Auch die Zahl der verschwundenen Personen ist nicht mehr zu ermitteln, weil es zum Abgleichen keine Liste der Verhafteten und Ausgewiesenen gibt. Aber selbst die niedrigsten Schätzungen machen deutlich, daß ein Massaker stattgefunden hat.

Letztendlich geht es auch um eine ganze andere Frage: Durch welche Faktoren wurde dieses Pogrom ausgelöst? Zweifellos hatte die – auch innerhalb der Organisation umstrittene – Entscheidung des FLN, gegen die Polizeikräfte Anschläge zu organisieren, ein Rachebedürfnis geweckt. Und diese Stimmung wurde vom Polizeipräfekten geschürt, der seinen Männern angeblich „Rückendeckung“ zugesichert hat. Die vom FLN organisierte friedliche Demonstration gegen die Ausgangssperre war ein Versuch, Sympathien in der notorisch falsch informierten französischen Öffentlichkeit zu gewinnen. Es gibt Belege dafür, daß strenge Anweisungen ergingen, keine Waffen mitzuführen, „nicht einmal eine Stecknadel“, um dieses Ziel nicht zu gefährden. Daher ist das über den Polizeifunk verbreitete Gerücht, aus den Reihen der Demonstranten sei geschossen worden, als Versuch zu sehen, die Stimmung anzuheizen und gewaltsame Gegenmaßnahmen zu provozieren. Das hat funktioniert.

Nach Police parisienne, der Zeitschrift der größten Gewerkschaft der Verkehrspolizei, brachte die Polizeiführung mehrfach Falschinformationen in Umlauf, etwa am 30. November 1961 und am 15. Februar 1962. Im übrigen können die Todesfälle an der Métrostation Charonne nicht mit solchen Gerüchte erklärt werden.

Dem FLN kann man vorwerfen, daß er Arbeiter, Frauen und Kinder am 17. Oktober zu einer verbotenen Demonstration aufgerufen hat. Im Herbst 1961 herrschte ein Klima der Eskalation – die Verhandlungen von Evian waren unterbrochen, in bestimmten Regierungskreisen und in Teilen des Staatsapparats wollte man eigentlich keinen Frieden. Es wäre auch denkbar, daß die OAS bei der Ermordung der Algerier in Paris die Hand im Spiel hatte.

Letztendlich muß sich die Analyse aber auf die Denkweise der Regierung richten. Und dies um so mehr, als Maurice Papon, ehemaliger Polizeipräfekt, ehemaliger Minister und ehemaliger Abgeordneter, in seiner Darstellung der Ereignisse sich gegenüber dem „feindlichen“ Aufmarsch in der Hauptstadt auf die „Staatsraison“ zu berufen hofft. Doch worin soll die Bedrohung bestanden haben? Und soll dieses Argument auch für die Demonstranten gegen die OAS gelten, die in Charonne getötet wurden, wenige Wochen vor dem Ende des Krieges?

Eine weitere Behauptung dürfte lauten, die Ordnungskräfte seien am 17. Oktober von einer unerwarteten, massiven Demonstration überrollt worden. Aber wie soll es dann möglich gewesen sein, fünfzehntausend Personen – die Hälfte der Demonstranten – zu verhaften? Wieso wurde kein einziger Polizist ernsthaft verletzt? Überdies kann man kaum glauben, daß die Dienste zur Bespitzelung und Überwachung einer so streng kontrollierten Bevölkerungsgruppe eine ganze Woche lang (vom Beschluß des FLN am 10. Oktober bis zum Abend des 16. Oktober) nichts von den Vorbereitungen für eine Demonstration gewußt haben sollen, zu der dreißigtausend Menschen kamen.

Es war die gleiche Mischung aus Gleichgültigkeit und Verachtung wie im Bordeaux der vierziger Jahre, die gleiche fehlgeleitete Staatsraison, die es möglich machte, daß unter dem Kommando von Maurice Papon mitten in Paris solche Ausschreitungen gegen eine Minderheit stattfinden konnten.

Historiker sind keine Richter, ihre Aufgabe ist es, die Aufarbeitung der Vergangenheit zu ermöglichen. Der Algerienkrieg ist noch immer nicht beendet: Er erklärt einen Teil der 15 Prozent Wählerstimmen für den Front National, aber dieser unvergessene Krieg nährt auch zum Teil die blinde Revolte vieler Jugendlicher in den Vorstädten. Wir tragen immer noch die Lasten jener Spirale der Gewalt aus dem Algerienkrieg, einer Konfrontation, die beiden Lagern schwere Wunden zufügte. Wir zahlen noch heute den Preis für die Schlagzeilen von damals, als die Presse entweder die Wahrheit verschwieg oder gegen die „Barbaren“ in der Stadt hetzte.

Der Prozeß Papon gegen Einaudi sollte Anlaß sein, endlich die fachliche Diskussion über diese geschichtlichen Fragen zu beginnen. Dabei müssen selbstverständlich auch jene Vorkämpfer einbezogen werden, die keine Mühe gescheut haben, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und deren Arbeiten weithin von Wissenschaftlern genutzt werden, die bislang keine eigene Forschung zu diesem Thema betrieben haben. Wo wären wir heute ohne die Arbeiten von Péju, Panijel, Lévine, Anne Tristan und Jean-Luc Einaudi?6

Zugleich muß man dem Problem der Dekolonisierung in der Lehrerausbildung wie im Schulunterricht Rechnung tragen. Die Historiker haben sich lange genug zurückgehalten – um des akademischen Friedens willen oder weil es nicht genug Quellenmaterial gab, oder weil sie sich scheuten, das schwierige Feld von Ereignissen zu beackern, die nicht in die Chronik des siegreichen Westens passen. Oder auch, weil sie nichts zu tun haben wollten mit der „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, wie etwa die Zeit des Vichy- Regimes. Doch es tut sich etwas: Auch wenn sich die Zeitschrift L'Histoire noch sperrt – in Historiens et géographes und anderen Fachzeitschriften hat die Diskussion über dieses Thema bereits begonnen.

Und die Regierung? Kulturministerin Catherine Trautmann (zuständig für die Nationalarchive) hatte zugesichert, die Unterlagen zugänglich zu machen. In einer offiziellen Erklärung vom 8. Januar 1998 heißt es dazu: „Die Veröffentlichung des [Mandelkern-]Berichts und die Freigabe der Archive wird zum gegebenen Zeitpunkt erfolgen.“ Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen.

dt. Edgar Peinelt

* Mitglied einer Gruppe von Historikern „pour une initiative scientifique, pédagogique et citoyenne“, Autor von „La société française face au racisme“, das im März 1999 in Brüssel (Editions Complexes) erscheint.

Fußnoten: 1 Verfasser von „La Bataille de Paris“, Paris (Le Seuil) 1991. 2 Die Geheimorganisation OAS setzte sich aus Algerienfranzosen und Armeeangehörigen zusammen und verübte von 1961 bis 1963 Terrorattentate. 3 Laut diesem Gesetz sind die Dokumente dreißig Jahre gesperrt; mit der Begründung, daß nationale Sicherheitsinteressen zu wahren oder Einzelpersonen zu schützen seien, kann die Frist aber auf sechzig, hundert oder noch mehr Jahre erweitert werden. Für sogenannte sicherheitsrelevante Dokumente gilt die Normalfrist von dreißig Jahren zumeist nicht. Weil die Vichy-Periode in den nationalen Debatten zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, ist inzwischen eine Änderung des Gesetzes in Vorbereitung – die Archive, die sich auf den Rückzug aus den Kolonien beziehen, sollen von dieser Reform allerdings ausgenommen bleiben. 4 Trotz anderslautender Versicherungen ist dieser Bericht nicht veröffentlicht worden. Es erschienen lediglich Zusammenfassungen der Ergebnisse in der Presse. 5 Siehe „La Bataille de Paris“, a. a. O. 6 Paulette Péju, „Ratonnades à Paris“, Paris (Maspero) 1961; Jean Panijel, „Octobre à Paris“ (Dokumentarfilm) 1962; Michel Levine, „Les ratonnades d'octobre“, Paris (Ramsay), 1985; Anne Tristan, „Le silence du fleuve“, Paris (Syros) 1991. In diesen Zusammenhang gehört auch ein Buch aus einem anderen Genre, ein Kriminalroman: Didier Daeninckx, „Karteileichen“, aus d. Franz. v. Marie Luise Knott, Berlin (Rotbuch) 1987.

Le Monde diplomatique vom 12.02.1999, von CLAUDE LIAUU