Die doppelte Identität der Türkei
Nach einer wochenlangen politischen Krise, die durch Bestechungsskandale ausgelöst worden ist, soll nun die neugebildete türkische Regierung die Parlamentswahlen im April vorbereiten. Aber trotz einer ausgeprägten wirtschaftlichen Dynamik und trotz vieler demokratischer Initiativen der Bevölkerung bleibt das Land unter dem entscheidenden Einfluß der Armee, die ihren „schmutzigen Krieg“ in Kurdistan fortsetzt. Die Furcht der Militärs vor dem „Separatismus“ und den Islamisten wird auch von der laizistschenLinken geteilt, die nicht in der Lage ist, das Land auf den Weg zu einer echten Demokratisierung zu bringen. Im laizistischen Lager hält man das moderate Auftreten der muslimischen Fazilet-Partei für politischen Opportunismus. Man befürchtet, daß die Islamisten schrittweise vorgehen und einen möglichen Regierungswechsel nutzen würden, um einschneidende Reformen und religiös geprägte Gesetze durchzusetzen. Für die Laizisten ist der Islam ein Überbleibsel aus anderen Zeiten – einig ist man sich i der Türkeinur in der Empörung über die entwürdigende Behandlung durch die Europäische Union.
Von unserer Korrespondentin WENDY KRISTIANASEN *
DER MGK entwickelt sich immer mehr zu einer Schattenkabinett. In den letzten Jahren hat er begonnen, zu jedem erdenklichen Thema ein Memorandum zu produzieren, wie ein regelrechter Regierungsapparat.“ Der Fernsehjournalist und politische Kolumnist Ferhat Boratav spricht vom allmächtigen Nationalen Sicherheitsrat der Türkei, dem Milli Güvenlik Kurulu (MGK). „Neuerdings legt er bereits politische Strategien vor, nicht bloß kritische Anmerkungen wie in früheren Zeiten. Zum Beispiel das Gesetz über die Zulassung und Lizenzierung privater Fernsehkanäle. Oder das Gesetz über das Erziehungswesen, das er im September 1998 durchdrückte und das er als die beste Vorsorge gegen die Islamisten ansieht.“ Dieses Reformgesetz, das unter der inzwischen gescheiterten Regierung Yilmaz verabschiedet wurde, verlängert die Schulpflicht von fünf auf acht Jahre. Die Kinder bleiben somit in der Schule, bis sie 15 Jahre alt sind – und damit weniger gefährdet durch die islamische „Indoktrination“ an den religiösen Imam-Hatip-Schulen.
Der Nationale Sicherheitsrat, dessen Befugnisse in der Verfassung festgelegt sind, begreift sich als Wächter der Republik, der für die Abwehr der doppelten Bedrohung – durch die Islamisten und die Kurden – verantwortlich ist. Der MGK ist zu gleichen Teilen aus Vertretern des Militärs und der Regierung zusammengesetzt: Dem Generalstabschef, General Hüseyin Kivrikoglu, und den Oberbefehlshabern von Armee, Marine und Luftwaffe stehen der Ministerpräsident und die Minister für Äußeres, Inneres und Verteidigung gegenüber. Den Vorsitz hat der Präsident der Republik, Süleyman Demirel, dessen Stimme den Ausschlag gibt, wenn es zu keiner Mehrheit kommt. „Immerhin ein Unterschied zu den alten Zeiten“, meint Boratav, „da war der Präsident immer ein pensionierter Generalstabschef.“
Der MGK verfolgt seine eigenen Ziele. Zur Diskussion stehen unter anderem der Übergang zum Präsidialsystem, eine Reform der Gemeindeverwaltung und die Einführung eines zweiten Wahlgangs. Letzteres gilt als Rezept gegen die Zersplitterung der Parteien und gegen den politischen Aufstieg der Islamisten, die allerdings nie mehr als 21 Prozent der Stimmen erringen konnten.
Strategisches Zentrum Eurasiens
WENIGER bekannt ist, daß es auch schon eine Art „Schattenkabinett“ gibt. Das erst 1997 gegründete „Nationale Krisenmanagement-Zentrum“ untersteht dem Ministerpräsidenten, wird allerdings von einem Generalmajor geführt und ist im MGK-Gebäude untergebracht. Dieser Krisenausschuß (ohne ständiges Personal) ist ein Adhoc-Gremium, das an die Stelle der Zivilregierung tritt, wenn von Regierung oder Parlament ein Notstand ausgerufen wird. Einen Test gab es bislang nur in nicht politischen Krisen: bei einer Überschwemmungskatastrophe an der Schwarzmeerküste und nach einem Erdbeben in der Region um Adana.
Auch wenn der MGK als eine Instanz der gemeinsamen Beratung und Entscheidungsfindung von Militärs und Politikern immer mehr Gewicht bekommt, lassen sich die Streitkräfte nicht davon abhalten, ihren Standpunkt mehr oder weniger deutlich und öffentlich zu vertreten. Zuletzt geschah dies am 8. Januar 1999, als die Armee erklärte, sie werde keine weitere islamistische Regierung tolerieren. Damit waren auch die nichtreligiösen Parteien angesprochen: Drei Tage danach konnte Bülent Ecevit, ein gestandener Laizist, im zweiten Anlauf eine Minderheitsregierung bilden. Es ist die sechste Regierung seit den Wahlen von 1995; sie besteht fast ausschließlich aus Mitgliedern von Ecevits Demokratischer Linkspartei (DSP), obwohl diese nur die viertstärkste Parlamentsfraktion stellt. Damit war die Krise beigelegt, die am 25. November 1998 begonnen hatte, als Korruptionsvorwürfe gegen Ministerpräsident Yilmaz dessen Regierung zu Fall brachten.
Zuvor hatte der MGK mit seinen berühmten Entscheidungen vom 28. Februar 1997 das Ende der Regierung von Necmettin Erbakan herbeigeführt. Erbakan mußte im Juni 1997 zurücktreten, seine islamistische Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) wurde im Januar 1998 verboten – an ihre Stelle trat sofort die Tugendpartei (Fazilet Partisi).
Auf die türkische Außenpolitik haben die wiederholten Krisen keine nachteilige Wirkung gehabt; man könnte fast behaupten, sie waren förderlich. Die Türkei hat sich als starke Regionalmacht etabliert, nicht zuletzt wegen ihres dynamischen privaten Wirtschaftssektors – und dies trotz hoher Arbeitslosigkeit und hoher Inflationsrate, die wenigstens 1998 auf 54 Prozent gesenkt werden konnte. Das Land hat seine Allianz mit Israel ausgebaut, Syrien dazu gezwungen, den PKK-Führer Abdullah Öcalan auszuweisen, und die Republik Zypern dazu gebracht, auf die geplante Stationierung russischer Luftabwehrraketen zu verzichten.
Lange Zeit haben die politischen Führer der Türkei ihr Land als „Brücke“ zwischen Europa und Asien verstanden. Aber heute erklärt Außenminister Ismail Cem, die Türkei habe „solide Voraussetzungen, um zum strategischen Zentrum Eurasiens zu werden“, sowohl weil sie „die dynamischste Wirtschaft, die modernsten Streitkräfte und die älteste Demokratie“ in der Region besitze, als auch „wegen ihrer historischen und kulturellen Eigenheiten und der Vorzüge ihrer doppelten Identität“1 .
Diese doppelte Identität ist allerdings eine zweischneidige Angelegenheit. Eine tiefe Kluft trennt die laizistische, großenteils in Istanbul lebende Elite und die Bewohner Anatoliens, von denen inzwischen allerdings viele in die Großstädte der Westtürkei abgewandert sind. Unter diesen Binnenmigranten gibt es viele Kurden, aber auch die Islamisten haben in dieser Gruppe einen erheblichen Teil der Stimmen gewonnen, die ihnen bei den Wahlen von 1995 158 (von 550) Parlamentssitze einbrachten.2
Darin sind sich militärisches und politisches Establishment einig: Die innere Sicherheit der Türkei ist am stärksten durch die Kurden und durch die Islamisten bedroht. Meinungsverschiedenheiten gibt es nur darüber, welche Gefahr die größere ist. Vernünftig denkende Türken machen freilich auch noch einen Unterschied zwischen der sehr realen Bedrohung durch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) und dem, was man als „das Kurdenproblem“ bezeichnet. Emin Ergin, ein 37jähriger erfolgreicher Geschäftsmann aus Ankara, ist selbst Kurde und hat als Kind sogar Abdullah Öcalan – genannt Apo – gekannt: „Bis vor drei Jahren lautete die offizielle Definition eines Kurden: das ist ein Mensch, der aus den Bergen kam oder noch immer dort lebt, im Winter Schneeschuhe trägt und ständig ein krd-krd-Geräusch von sich gibt.“ Es sind solche primitiven Vorurteile, die den MGK dazu bringen, jede Reform zugunsten der Kurden mit der Teilung des Landes gleichzusetzen.
Die meisten Politiker geben zu, daß für das „Kurdenproblem“ dringend eine Lösung gefunden werden muß, vor allem auf kulturellem Gebiet. So sieht es auch Fuat Süren, auch er ein Geschäftsmann: „Natürlich sollte die Regierung in den Schulen den Kurdisch-Unterricht finanzieren. Was ist daran so schwierig? Am Ende werden die Kurden selber wollen, daß ihre Kinder Englisch und Französisch lernen. Was die Türkei dringend nötig hat, ist die Abschaffung des alten, von Atatürk stammenden Mythos des türkischen Einheitsbürgers – so wie er in diesem Atatürk-Spruch zum Ausdruck kommt, der überall zu lesen ist: ,Glücklich, wer sich Türke nennt' (ne mutlu Türküm diyene).“ Aber der Südosten braucht darüber hinaus kräftige Investitionen – ähnlich dem „Großen Anatolischen Projekt“ (GAP) der Staudämme am Euphrat, aber in weit größeren Dimensionen.
Viele kurdische Aktivisten suchen nach einem Weg, um das Problem zu lösen, auch wenn ihre Versuche, sich einen legalen Platz im politischen Leben der Türkei zu verschaffen, regelmäßig torpediert wurden. Ihre erste Partei, die Arbeiterpartei des Volkes (Hep), wurde 1993 vom türkischen Verfassungsgericht verboten; auch die Nachfolgeorganisation, die Demokratische Arbeiterpartei (Dep), bekam Schwierigkeiten, worauf ihre Parlamentsabgeordneten sich der Demokratischen Partei des Volkes (Hadep) anschlossen. Sieben von ihnen wurden allerdings im Dezember 1994 verhaftet. Die Hadep erreichte bei den Wahlen von 1995 einen Stimmenanteil von 4,2 Prozent, blieb also unterhalb der 10 Prozent, die für den Einzug ins Parlament nötig sind. Kurz vor den Wahlen im kommenden April ist nun ein Verbotsverfahren für die Hadep eröffnet worden.
Im Dezember 1997 gründete der Hadep-Politiker Dr. Kemal Parlak zusammen mit anderen eine Organisation namens Demos (“Organisation für demokratische Verständigung und die Suche nach einer Lösung für das Kurdenproblem“). „Wir stehen weder auf seiten der PKK noch auf der des Staates. Wir wollen einen Dialog in Gang bringen, um eine Lösung für das Kurdenproblem innerhalb der Grenzen der Türkei zu finden. Für uns ist dies ein innenpolitisches Problem, das von Kurden und Türken gemeinsam gelöst werden muß, ohne Einmischung von außen.“
Doch Faik Bulut, ein anderes Demos-Mitglied, befürchtet, daß „die staatliche Seite jetzt die Welle der Feindseligkeit gegen Apo [Öcalan] und die PKK ausnutzen wird, um das Kurdenproblem als erledigt zu betrachten.“ Auf dem Höhepunkt der nationalen Hysterie, die das Land ergriff, nachdem Öcalan am 12. November 1998 in Rom angekommen war, wurden Hunderte Hadep-Mitglieder verhaftet.
Auch die Islamisten fügten sich ein in diesen nationalen Konsens. Cengiz Çandar von der Zeitung Sabah meint: „Die Islamisten sind in einer antiwestlichen Tradition aufgewachsen, deshalb sind sie natürlich gegen Italien. Aber die Fazilet profitiert – kalkuliert oder nicht – von diesem Einschwenken auf die nationalistische Linie. Sie gibt sich staatstragender als alle anderen.“
Der „separatistische Terror“ und die „religiöse Reaktion“ sind nicht dasselbe, aber zahlreiche Beobachter weisen darauf hin, daß viele Kurden auch religiös sind und bei den letzten Parlaments- und Kommunalwahlen für die Islamisten gestimmt haben.
Seit die PKK militärisch am Ende ist, sieht die Armee den Islam als den Hauptfeind.3 Das wissen die Islamisten und haben deshalb ideologisch und politisch den Rückzug angetreten. Abdullah Gül, ehemals stellvertretender Vorsitzender der Refah und heute in derselben Funktion bei der Fazilet für auswärtige Angelegenheiten zuständig, erläutert die Lehren, die seine Partei aus ihrer Regierungszeit gezogen hat: „In diesem Lande gibt es Machtzentren jenseits der rechtlichen Strukturen, und ich meine damit nicht nur die Armee. Hierzulande reicht es nicht aus, die Menschen für sich zu gewinnen. Verglichen mit dem übrigen Europa ist die Türkei kein wirklich demokratisches Land. Also sind wir realistischer geworden und machen weniger Versprechungen.“
Um dieses neue Image zu pflegen, hat Recai Kutan, der überaus moderate Fazilet-Vorsitzende, einem prominenten rechten Nationalisten, Professor Nevzat Yalçintas4 , die Aufgabe übertragen, den Kontakt zu den Medien zu pflegen. Der Professor, der Wirtschaftswissenschaft an der Universität Istanbul lehrt und zu den Vertrauten des 1993 verstorbenen Staatspräsidenten Turgut Özal gehörte, vertritt die Idee einer turko-islamischen Synthese. Er betont, daß „viele Menschen wie ich, die nie zuvor im Parlament saßen, der Fazilet beigetreten sind“. Die Refah hat seiner Ansicht nach „nicht genug für die Menschenrechte getan und sich nicht deutlich genug von den undemokratischen Institutionen der Türkei distanziert“. Er verweist auf die noblen Ziele der Fazilet: Demokratie, bürgerliche Freiheiten und soziale Entwicklung. Und wo bleibt da der Islam? „Wir stellen die Religion nicht in den Vordergrund, damit man uns nicht vorwirft, wir mißbrauchten sie. Wir spielen dieses sensible Thema nicht hoch, damit sich niemand provoziert fühlt.“
„Wir sind kein muslimisches Land“
IM laizistischen Lager läßt man sich von diesem moderaten Auftreten nicht beeindrucken. Man sieht darin nur politischen Opportunismus und glaubt, daß die Islamisten „in Etappen“ vorgehen – kämen sie wieder an die Macht, würden sie dem Land zweifellos „fremde“, religiös geprägte Gesetze aufzwingen. Für die Laizisten ist der Islam ein Überbleibsel aus dem Mittelalter.
Beim Abendessen im Gümusuyu-Viertel, wo sich Istanbuls Intelligenzija neuerdings gern trifft, wird heftig diskutiert – über Italiens Entscheidung, Apo aufzunehmen, die im ganzen Land Empörung hervorruft, über den Sturz der Regierung Yilmaz, und dann über das bas ortüsü, das Kopftuch, das die islamistischen Frauen tragen. Endlich ein wahrhaft politisches Thema!
Jemand verweist auf die Haltung des französischen Staates in dieser Frage. Ein anderer zieht den Vergleich mit Israel, wo der Haß der laizistischen Kräfte auf die Ultra-Religiösen mindestens ebenso ausgeprägt sei wie in der Türkei. Doch auf den Einwurf, man könne doch auch mit den muslimischen Ländern vergleichen, zum Beispiel mit Jordanien oder Ägypten, erfolgt unisono ein wütender Aufschrei: „Wir sind keine Muslime! Wie kann man uns nur mit muslimischen Ländern vergleichen? Das ist nicht nur eine Frage der Identität. Es ist eine rechtliche Frage. In der Verfassung steht, daß die Türkei ein säkularer Staat ist.“
Trotz der wiederholten Zurückweisungen bleibt für die Eliten der Beitritt zur Europäischen Union das wichtigste Ziel. Im vergangenen Jahr hat die Republik Atatürks ihren 75. Geburtstag begangen. Man feierte eine außerordentliche Erfolgsgeschichte, den Aufstieg eines Phönix aus der Asche, den Triumph über die finsteren Machenschaften europäischer Mächte, die Entstehung eines modernen, nationalistischen und nichtreligiösen Staates, der inzwischen eigene Wurzeln geschlagen und Traditionen gestiftet hat. Aber kann man die älteren Traditionen einfach übergehen, kann man die Existenz der anderen Türkei, der stärker religiös geprägten anatolischen Provinz, einfach ausblenden, zumal wenn das politische System eine Krise durchmacht?
Mit Ausnahme der Islamisten fehlt den politischen Kräften innerer Zusammenhalt und überzeugende Ideologie, sie sind diskreditiert durch ihren Opportunismus. Es ist ihnen nicht gelungen, sich in der Gesellschaft zu verankern. Rund 20 Prozent der türkischen Wähler wissen noch nicht, für welche Partei sie bei den kommenden Wahlen stimmen sollen. Und niemand bestreitet, daß eine grundlegende Reform des politischen Systems und des Staates unabdingbar ist. Zumal in den letzten beiden Jahren das ganze Ausmaß der staatlichen Korruption ans Licht gekommen ist. Der Autounfall vom 3. November 1996 bei Susurluk5 hatte das offizielle Eingeständnis zur Folge (im „Savas-Bericht“), daß es zwischen dem Staatsapparat, dem organisierten Verbrechen und extremistischen nationalistischen Organisationen gewisse Verbindungen gibt.
Trotz ihrer demokratischen Zielsetzungen teilt die gemäßigte laizistische Linke die Ansichten der Militärs über die „Bedrohung“ durch den Islamismus und die PKK. Zu einer weiteren „inneren Gefahr“ ernannte der MGK auf einer seiner Sitzungen im Jahre 1998 explizit „die Mafia und ihre politischen Verbindungen“. Aber ebendieser Mafia hatte sich der Staat in den Jahren 1992/93 beim Kampf gegen die Kurden bedient. Doch inzwischen ist das Ungeheuer zu mächtig geworden, und der MGK möchte ihm Fesseln anlegen.
Die Privatisierung des staatlichen Sektors hat die Korruption gefördert und eine neue Schicht von Spekulanten entstehen lassen. Ismet Berkan, ein linker Kolumnist bei der Tageszeitung Radikal, sieht in der Korruption kein neues Phänomen: „Neu ist nur die Höhe der Summen, um die es geht. Fünfzehn Geschäftsleute, die in den achtziger Jahren als Bauunternehmer angefangen haben, besitzen heute eine eigene Bank. Die Türkei ist ein bißchen wie Japan geworden. Bezeichnend ist da der Fall von Korkmaz Yigit, der zum Sturz der Yilmaz-Regierung geführt hat.6 Der Mann hatte nur 150 Millionen Dollar. Aber er konnte eine Bank kaufen [die Türk Bank, die inzwischen unter Treuhandverwaltung des Finanzministerium steht] sowie drei Zeitungen [Milliyet, Yeni Yüzyil, Ates], zwei Fernsehkanäle und zahlreiche Immobilien – ein Gesamtwert von 1,6 Milliarden Dollar.“
Ironischerweise hatte sich gerade die Regierung Yilmaz im Kampf gegen die Mafia als sehr erfolgreich erwiesen, sie hatte auch das Privatisierungsprogramm wieder in Schwung gebracht und das veraltete Steuersystem reformiert. Am 29. September 1998 trat ein neues Gesetz in Kraft, das die Bürger zur Meldung ihrer Geldguthaben und Eigentumstitel verpflichtet. Damit soll die Schattenwirtschaft eingedämmt werden, die nach offiziellen Zahlen etwa 30 Prozent, nach glaubwürdigeren Zahlen jedoch zwischen 40 und 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmacht.
Flexibilität und Initiative
NEBEN dem Problem der Korruption gibt es zwei weitere Bereiche von entscheidender Bedeutung für jede Reformpolitik: die Justiz und das Parteiensystem. Solange hier nichts geschieht, wird es in der Türkei keine demokratischen Verhältnisse geben. Nach wie vor kann die Regierung die Richter nach Belieben auswechseln und damit die Spitzen der politischen Parteien vor Verfolgung schützen. Und die Parteiführer halten sich an der Macht, indem sie ihre eigenen Kandidaten auf die entscheidenden Listenplätze setzen. Um die Machtbalance zwischen Regierung, Parlament und Justiz zu verändern, ist allerdings eine umfassende Verfassungsreform erforderlich.
Wird das Militär eine solche Reform unterstützen? Wohl kaum. Aber die Türken haben längst gelernt, mit den Krisen zu leben. Ihre Energie und Tatkraft sind ungebrochen, das zeigt sich besonders deutlich in der unternehmerischen Initiative und der Anpassungsfähigkeit der türkischen Privatwirtschaft, bei kleinen wie großen Unternehmen. Der Unternehmerverband Tüsiad, dem vierhundert führende Geschäftsleute und Industrielle angehören, die zusammen etwa 50 Prozent des türkischen Bruttoinlandsprodukts repräsentieren, meldet sich immer wieder lautstark zu Wort. Der Verband, erläutert Fuat Füren, „stellt sich gegen den nationalen Sicherheitsrat, obwohl er es noch nicht geschafft hat, seine Macht entscheidend zur Geltung zu bringen.“ Tüsiad will als Stimme der Gesamtgesellschaft verstanden werden. Bislang ist das nicht sehr überzeugend, zumal ihm in dem islamistisch orientierten Verband Müsiad eine ernstzunehmende Konkurrenz erwächst.7 Seit 1996 gibt Tüsiad eine englischsprachige Vierteljahreszeitschrift mit dem Titel Private View heraus. Auf ihren Hochglanzseiten erscheinen kritische Artikel über das instabile politische System, aber auch Beiträge von ausgewählten islamistischen Intellektuellen, die nicht allzu fundamentalistisch auftreten.
Dieser soziale Veränderungswille äußert sich auch auf der politischen Ebene. Bei Parlaments- wie bei Kommunalwahlen liegt die Beteiligung regelmäßig um 85 Prozent. 1997 entstanden in der westtürkischen Provinz Mugla erstmals Bürgerkomitees, die den Abgeordneten auf die Finger schauen. Inzwischen gibt es ähnliche Komitees auch in Istanbul.
Sadettin Tantan ist Bürgermeister des ärmlichen und mit 450000 Einwohnern übervölkerten Istanbuler Stadtbezirks Fatih und bemüht sich, Basisaktivitäten der Bürger zu fördern. Dank einer soliden Reputation als konservativer Politiker und ehemaliger Polizeichef, einer unkorrumpierbaren Persönlichkeit und einem seriösen gutbürgerlichen Auftreten ist es ihm gelungen, den Kandidaten der Refah in dieser Hochburg der Islamisten zu schlagen. Sein Erfolg in Fatih macht ihn heute zu einem ernsthaften Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters von Groß-Istanbul. Tantan hat auch die Unesco und die Europäische Union dafür gewonnen, die historische Substanz der verfallenden Stadtteile Fener und Balat zu sanieren. Ein ähnliches Projekt ist für das Zeyrek-Viertel angelaufen, wo ebenfalls historische Bauten aus byzantinischer und osmanischer Zeit restauriert werden. „Alle früheren Bewohner konnten wieder einziehen. Und wir haben mit Hilfe der auswärtigen Experten eine Restaurierungsschule gegründet. Jetzt können wir die Arbeiten allein weiterführen.“ Ähnlich ehrgeizig ist das Vorhaben, zwei riesige byzantinische Wasserspeicher (von denen jeder eine Fläche von etwa 10000 Quadratmetern hat) in ein Sport- und Erholungsgelände umzwandeln. Am Rande dieser Freiflächen stehen helle, moderne Gebäude mit pädagogischen Einrichtungen für Kinder und Erwachsene, die beispielsweise Computer-, Sprach- oder Handwerkskurse zu erschwinglichen Preisen anbieten.
Auch im privaten Sektor mangelt es nicht an Initiativen. Sarik Tara ist Präsident der Enka Holding. Das Unternehmen gehört laut Tara zu den sechs größten der Türkei, und es verfügt über die besten internationalen Verbindungen. Investiert wird in den verschiedensten Bereichen: Brücken und Kraftwerke, Möbelfabriken und Getreidegroßmühlen. Besonders stolz ist Tara auf ein luxuriöses Sportzentrum und eine Schule (bislang nur Kindergarten und Grundschule, aber es sollen weitere Schulstufen dazukommen), bei deren Ausstattung keine Kosten gescheut wurden. Obwohl Schulgebühren verlangt werden, subventioniert Enka das Zentrum mit jährlich bis zu 1,7 Millionen Dollar.
Kultureller Rassismus
DIESE Beispiele gesellschaftlicher Initiative sind auch als Reaktion auf die vielfältige Bürgerarbeit der Islamisten zu verstehen. Und sie zeugen von einem tief in der Seele wurzelnden Nationalstolz. Von einer Art Nationalismus, der besonders deutlich im Herbst 1998 zutage trat, als die Ankunft Öcalans in Rom eine Krise zwischen der Türkei und Italien auslöste und türkische Unternehmen noch vor der Regierung und den Medien einen Boykott gegen italienische Waren ausriefen. Eine tiefsitzende Angst vor der PKK und vor den Islamisten ist in der ganzen Bevölkerung verbreitet. Und selbst die schärfsten Kritiker des Systems sind sich einig in der Empörung über die Behandlung der Türkei durch die Europäische Union. Ismet Berkan formuliert es so: „Daß man uns bei der Demokratisierung der Türkei so wenig Hilfe leistet, riecht nach kulturellem Rassismus.“
Damit hat er recht, auch wenn die türkische Bilanz bei der Wahrung der Menschenrechte den Europäern immer wieder Munition liefert. Die säkularen Eliten schwanken. Sie wollen Reformen und wahrhaft demokratische Verhältnisse. Doch gleichzeitig unterscheiden sie sich nicht wesentlich von der Armee und dem Nationalen Sicherheitsrat MGK, was ihre Ängste vor der PKK und den Islamisten betrifft. Es wird noch lange dauern, bis die Türkei mit ihrer „doppelten Identität“ in Frieden leben kann.
dt. Niels Kadritzke
* Journalistin, London, leitet die englische Ausgabe von Le Monde diplomatique.