12.02.1999

Recht auf Sexualleben in der Haft

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Recht auf Sexualleben in der Haft

AUCH in den Industrieländern ist an den Lebensbedingungen von Häftlingen einiges auszusetzen. Wo schon das Privatleben – persönliche Hygiene, Briefwechsel und Angehörigenbesuche – strengen Kontrollen und Beschränkungen unterliegt, bleibt Sexualität erst recht ein Tabu. Nachdem mehrere Staaten hier bereits neue Wege beschreiten und verschiedene internationale Menschenrechtsorganisationen Druck ausüben, scheinen nach langem Zögern nun auch die französische Justiz und die Abteilung Strafvollzug gewillt das I ntimleben von Gefängnisinsassen zu respektieren.

Von MICHAËL FAURE *

Die nun angekündigte Einrichtung von „Langzeitbesuchsräumen“ (unité de visites familiales, UVP) in bestimmten französischen Gefängnissen hat lange auf sich warten lassen. Die Idee dazu entstand bereits vor fünfzehn Jahren, die Umsetzung wurde erstmals am 4. Dezember 1997 in Aussicht gestellt, doch es folgten keine Taten. Nun konnte man am 1. Dezember 1998 in der Presse lesen, daß man in drei Haftanstalten einen entsprechenden Versuch starten will. Die UVPs sollen zwei Zimmer (eines für das Ehepaar, das andere für die Kinder), eine Eßecke und sanitäre Einrichtungen umfassen. Die unbewachten Privaträume sollen Gefängnisinsassen mit langen Haftstrafen zur Verfügung stehen, das wären nach Angaben der zuständigen Behörden zwischen 8000 und 15000 Personen.

Vorläufer dieses Projekts waren verschiedene Initiativen, die im Laufe der letzten zwanzig Jahre gestartet wurden. 1984 hatte man in der Strafvollzugsanstalt von Casabianda auf Korsika versuchsweise solche Räumlichkeiten eingerichtet. Ein Jahr später beauftragte der damalige Justizminister Robert Badinter den Ausschuß für Gefängnisarchitektur unter dem Vorsitz von Myriam Ezratty, Leiterin der Abteilung Strafvollzug, einen Bericht zu erstellen. Der Ausschuß plädierte für die Bereitstellung von Räumen, in denen die Häftlinge ohne Überwachung durch das Vollzugspersonal Besuch von Angehörigen empfangen können. Entsprechende Räumlichkeiten wurden 1986 in den Strafvollzugsanstalten von Mauzac und Val-de-Reuil eingerichtet. Das Projekt stieß jedoch auf den Widerstand des neuen Leiters der Abteilung Strafvollzug und mußte aufgegeben werden.

1989 regte Gilbert Bonnemaison abermals an, „unter Einbeziehung des Vollzugspersonals über geeignete Maßnahmen nachzudenken, um Gefängnisinsassen mit langen Haftstrafen eine Weiterführung ihrer emotionalen und sexuellen Beziehungen zu ermöglichen“1 . In einem Bericht von Juni 1995 sprach sich auch eine Arbeitsgruppe der Abteilung Strafvollzug in diesem Sinne aus; in einem weiteren Bericht setzte sie sich für die Schaffung von Langzeitbesuchsräumen ein. Die aktuellen Diskussionen basieren auf diesen Empfehlungen. Damit könnte Frankreich zu verschiedenen europäischen Ländern aufschließen, in denen ähnliche Einrichtungen bereits bestehen.

In Spanien gibt es sogenannte „Vis- à-vis“-Einrichtungen: Der Raum für die ein- bis dreistündigen Besuche ist mit einem Bett und Sanitäranlagen ausgestattet, einziges Zulassungskriterium ist nach Auskunft der spanischen Strafvollzugsbehörden eine stabile Beziehung der Partner, ob verheiratet oder nicht. In der Justizvollzugsanstalt Valdemoro in Madrid haben die Häftlinge Anspruch auf einen Intimbesuch pro Monat. Nach Angaben der Gefängnisdirektion werden regelmäßig Präservative ausgegeben und in den unbewachten Besuchszimmern bereitgelegt. Auch homosexuellen Paaren sowie Paaren, bei denen beide Partner inhaftiert sind, soll diese Besuchsmöglichkeit offenstehen. Ein Gefängnis für inhaftierte Paare existiert bereits, die Einrichtung einer Haftanstalt für jugendliche Straftäter beiderlei Geschlechts wird geprüft.

In Quebec finden unbewachte Familienbesuche im sogenannten Mobile Home statt, einem Wohncontainer, der abseits des Vollzugstrakts, aber innerhalb der Gefängnismauern steht. Dort können Insassen mit Haftstrafen von mehr als zwei Jahren alle zwei Monate ihre nächsten Angehörigen empfangen, wobei die Besuchsdauer zwischen zwei und zweiundsiebzig Stunden variiert. Dieses Programm war 1980 bis 1983 versuchsweise in zunächst sieben Vollzugsanstalten, darunter einem Frauengefängnis, eingeführt worden. Nachdem bei der anschließenden Auswertung sowohl die Häftlinge und ihre Angehörigen als auch das Vollzugspersonal ihre Zufriedenheit geäußert hatten, wurde die Maßnahme auf zweiundvierzig Vollzugsanstalten ausgeweitet. 1995 gab es insgesamt neunzig Langzeitbesuchsräume, die jährlich von 5500 Häftlingen genutzt wurden.

In Dänemark sind seit 1982 in verschiedenen Vollzugsanstalten wöchentliche Besuche des Ehepartners von neunzig Minuten Dauer möglich. In Schottland darf der Häftling in Begleitung des Besuchers das Gefängnis für vier Stunden verlassen. Finnland und Norwegen haben sich für die Einführung eines Eheurlaubs entschieden, in Schweden sind Langzeitbesuche schon seit langer Zeit erlaubt. In den Niederlanden können die Häftlinge ihren Besuch sowohl in gesonderten Räumen als auch in ihren Zellen unbewacht empfangen. Die Republik Moldau hat Gefängnishotels eingeführt, die in gesonderten Trakten untergebracht sind. Dort kann der Häftling mehrere Tage mit seiner Familie verbringen.

Laut einer neueren Untersuchung im Auftrag des Observatoire international des prisons2 bemißt sich die Besuchsdauer in etlichen Ländern nicht nach Stunden, sondern nach Tagen, ja Nächten. Dies ist in Litauen der Fall (nur für rechtskräftig Verurteilte), in Tschechien (achtundvierzig Stunden ohne Unterbrechung) und in der Ukraine (vier Stunden bis drei Tage im Monat). Auch die deutschen Behörden erklären, daß es in einigen Justizvollzugsanstalten Räume gibt, in denen unüberwachte Besuche von Ehegatten und Familienangehörigen stattfinden können.

Gefängnis bedeutet Kastration

FRANKREICH ist in dieser Hinsicht also das Schlußlicht Europas. Dabei hat die Europäische Menschenrechtskommission wiederholt betont, „die Achtung vor der Familie“ gebiete, „daß die Strafvollzugsbehörden den Häftlingen helfen, den Kontakt zu ihren engsten Angehörigen aufrechtzuerhalten“, und sie hat immer wieder daran erinnert, daß zur Wahrung der körperlichen und geistigen Integrität der Person auch das Recht auf ein Sexualleben gehört. Das Europäische Komitee für die Prävention von Folter und inhumanen oder entwürdigenden Strafen oder Behandlungsweisen (CPT) wie auch die Parlamentarische Versammlung des Europarats haben die vierzig Mitgliedstaaten aufgefordert, verbesserte Besuchsbedingungen für Ehepartner und Kinder zu gewährleisten.

Wenn es ein anerkanntes Recht auf intime Beziehungen im Gefängnis geben würde, wäre es endlich möglich, etwas gegen die Tabuisierung der Sexualität in diesem Bereich zu tun. Zu den ersten, die sich mit diesem Problem befaßten, gehörte Jacques Lesage de la Haye, der selbst mehr als elf Jahre in Haft verbrachte. In seinem Buch mit dem Titel „La Guillotine du sexe“3 schreibt er: „Sexuelle Frustration ist nicht gleichbedeutend mit Freiheitsentzug. Sie bedeutet schlicht und einfach eine Kastration des menschlichen Wesens.“ Und ein anderer Exhäftling, Serge Livrozet, erklärte 1978: „Die Macht der Gewohnheit, des Staats, der Repressionsorgane und der Gesetzestexte haben dafür gesorgt, uns Gefangenen und Exgefangenen noch den Gedanken daran auszutreiben, daß sexuelle Aktivität ein unverzichtbares Merkmal des menschlichen Lebens, ja des Lebens überhaupt ist. Diejenigen, die uns die Gedanken und Sehnsüchte rauben, haben es geschafft, in uns die Lust auf die Lust abzutöten.“4

Als Alain Monnerau, ebenfalls Exhäftling, 1986 seine Untersuchung mit dem Titel „La Castration pénitentiaire“ (“Gefängnis kastriert“)5 veröffentlichte, begannen die französischen Behörden, sich mit der Problematik auseinanderzusetzen. Die Sache kam aber nicht recht voran, weil die Gewerkschaften des Vollzugspersonals zwar durchaus zur Mitwirkung bereit waren, sich aber auf keine einheitliche Linie einigen konnten. Dagegen hat die Gewerkschaft der Richter und Staatsanwälte bereits nach den ersten Erklärungen des Justizministers ihre prinzipielle „Zustimmung“ zu der Idee der Langzeitbesuchsräume erklärt.

Derzeit gibt es keine gesetzliche Grundlage, die einer inhaftierten Person sexuelle Beziehungen verbieten würde. Allerdings heißt es im Gesetzestext zur Reform der Gefängnisordnung vom 2. April 1996, daß „die Zurschaustellung von obszönen oder das Schamgefühl verletzenden Handlungen in Anwesenheit anderer einen Verstoß zweiten Grades darstellt“. Die Organisation Observatoire international des prisons (OIP) berichtet von einem Fall, bei dem ein Häftling mit vierzehn Tagen Einzelhaft und einem zweimonatigen Besuchsverbot bestraft wurde, weil er sich mit seiner Lebensgefährtin im Besuchszimmer sexuelle Berührungen erlaubt hatte. Regelmäßig berichten Betroffene, wie erniedrigend es sei, während der Besuchszeit den zwangsläufig wachsamen Blicken des Wachpersonals ausgesetzt zu sein.6

In der Praxis gibt es im Gefängnis natürlich regelmäßig sexuelle Kontakte, die sich allerdings unter Bedingungen abspielen, die für alle Beteiligten beklagenswert sind.7 Das wurde bisher immer strikt verleugnet.8 Doch nur wenn wir dieses Tabu brechen, können wir wirksame Maßnahmen gegen die Übertragung des HI-Virus treffen9 und eine Diskussion über die Prävention von sexuellem Mißbrauch im Gefängnis in Gang setzen.

Zum Privatleben gehören jedoch noch andere Dinge. In den französischen Untersuchungsgefängnissen sind die Sanitäranlagen in den mit zwei bis drei Personen belegten 9 Quadratmeter kleinen Zellen nicht durch Trennwände abgeteilt. Dieser Zustand ist entwürdigend und erniedrigend. In der Tschechischen und in der Slowakischen Republik, in Slowenien, Polen, Österreich, Litauen und anderen westlichen Ländern sind die Sanitäranlagen für Dritte nicht einsehbar, und in den meisten europäischen Ländern werden Anstrengungen unternommen, entsprechende Trennwände einzubauen. Duschen in den Zellen gibt es allerdings nur in sehr wenigen Staaten.

Darüber hinaus muß der Häftling aus Sicherheitsgründen regelmäßige Leibesvisitationen über sich ergehen lassen (Artikel D. 275 der französischen Strafprozeßordnung). In den meisten europäischen Ländern hat sich der Häftling bei dieser Prozedur auszuziehen. In manchen Ländern, darunter Großbritannien, Bulgarien, Dänemark, Ungarn und Irland, wird die medizinische Leibesvisitation praktiziert, die sich auch auf die Körperöffnungen erstreckt.

In vielen Ländern werden auch die Besucher durchsucht, wobei man sich in Ungarn und den Niederlanden nach offiziellen Angaben auf Kleidung und Gepäck beschränkt, während andere Länder angeben, es sei nur Abtasten erlaubt. In der Haftanstalt von ChÛteaudun jedenfalls wurde am 12. Oktober 1997 die Ehefrau eines Häftlings vom Wachpersonal zum „Striptease“ genötigt: Sie mußte ihre Bluse und ihren Büstenhalter ausziehen, angeblich weil der Metalldetektor angeschlagen hatte.

Ein weiterer Bereich, in dem es um die Privatsphäre des Häftlings geht, ist das Briefgeheimnis. Das Verwaltungsgericht von Versailles hatte am 10. Oktober 1997 über die Klage eines im Untersuchungsgefängnis von Bois d'Arcy einsitzenden Häftlings zu entscheiden, dessen Anwaltspost wiederholt geöffnet worden war. Das Gericht befand, daß der Staat hier seine Amtspflicht verletzt hatte. In vielen europäischen Ländern ist der Briefverkehr mit Behörden und Anwälten geschützt. Telefonieren ist in den meisten europäischen Ländern erlaubt, wobei die konkreten Regelungen unterschiedlich sind. Gegen die in Frankreich herrschende Praxis wäre im Grunde nichts einzuwenden, wenn sie gesetzlich geregelt wäre und die Insassen von Untersuchungsgefängnissen einschließen würde.10 In nicht wenigen Ländern darf der Häftling Telefonanrufe von außerhalb entgegennehmen; in Frankreich ist dies nicht erlaubt.

Die Schaffung von Langzeitbesuchsräumen wäre in Frankreich eindeutig ein Fortschritt. Daß eine solche Einrichtung probeweise in nur 3 der insgesamt 187 Haftanstalten geschaffen wurde (die man nach unbekannten Kriterien ausgesucht hat), läßt die Aussagefähigkeit des Versuchs allerdings zweifelhaft erscheinen.

Darüber hinaus scheint die Maßnahme auf die eigentlichen Justizvollzugsanstalten (maisons centrales und centres de détention) begrenzt; den Häftlingen in Untersuchungsgefängnissen (maisons d'arrêt) würde sie demnach nicht zugute kommen.11 Begründet wird dies mit der Überbelegung der Anstalten. Die wiederum erklärt sich aus der Tatsache, daß seit einigen Jahren immer längere Haftstrafen verhängt werden. Die Demographen Annie Kinsey und Pierre Tournier haben jedoch nachgewiesen, daß die Rückfallquote mit der Haftdauer steigt.12 Mit anderen Worten: Das Gefängnis wird der Aufgabe, die es erfüllen soll, nicht gerecht; es erhöht im Gegenteil die Rückfallgefahr.

Wie will man einen Häftling wieder in die Gesellschaft „eingliedern“, wenn man seine sozio-emotionale Substanz aushöhlt, auf der jede weitere Reintegration aufbaut?13 Das Recht auf Intimität in der Haft gilt nicht nur für den Häftling, es ist auch ein Recht der Menschen, die ihm am nächsten stehen: des Lebensgefährten oder der Lebensgefährtin, der Kinder und Eltern, Freunde und Freundinnen usw. Hinter den 57093 Gefangenen, die es in Frankreich gibt14 , stehen Hunderttausende Menschen, die ebenfalls unmittelbar betroffen sind.

dt. Bodo Schulze

* Leiter der französischen Sektion des Observatoire international des prisons (OIP), zus. mit Daniel Welzer-Lang und Lilian Mathieu Autor von „Sexualités et violences en prison“, Lyon (Arléa/OIP) 1996.

Fußnoten: 1 „La modernisation du service public pénitentiaire“, 1989, unveröffentl. Bericht. Eine Fotokopie ist bei der Documentation française (Paris) erhältlich (“graue Literatur“). 2 Die Untersuchung wurde von Martine Herzog- Evans (Assistentin an der Universität Paris-X) in Zusammenarbeit mit Pierre Tournier (Strafvollzugsexperte beim Europarat) durchgeführt. Eine Veröffentlichung ist in Vorbereitung. 3 Jacques Lesage de La Haye, „La Guillotine du sexe“, Paris (Editions de l'Atelier) 1998. Die Originalausgabe erschien 1978. 4 Vgl. Christophe Soulié, „La Liberté sur parole“, Bordeaux (Analis) 1995. 5 Vgl. Alain Monnereau, „La Castration pénitentiaire“, Paris (Lumière et justice) 1986. 6 Dazu Antoinette Chauvenet, Georges Benguigui und Françoise Orlic, „Le Monde des surveillants de prisons“, Paris (PUF) 1994. 7 Dazu Daniel Welzer-Lang, Lilian Mathieu und Michaäl Faure, „Sexualités et violences en prison“, Lyon (Arléa/OIP) 1996. 8 Abdelhamid Hakkar, Insasse der Haftanstalt von Clairvaux, wurde zu zehn Tagen Disziplinararrest auf Bewährung verurteilt, weil er seinen Mithäftlingen eine Petition des Observatoire international des prisons „für das Recht auf Intimität in Haft“ zur Unterschrift vorgelegt hatte. 9 Die HIV-Positivitätsziffer liegt im Gefängnis drei bis vier Mal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. Siehe dazu Observatoire international des prisons, „Prévention et traitement du Sida dans les prisons d'Europe“, Dezember 1995. 10 Observatoire international des prisons, „Le Guide du prisonnier“, Paris, November 1996. 11 In Frankreich unterscheidet man zwischen folgenden Gefängnistypen: In den maisons d'arrêt sind Untersuchungshäftlinge (die Mehrheit aller Inhaftierten) und Personen mit Resthaftstrafen unter einem Jahr inhaftiert. Manche Häftlinge sitzen hier bis zu fünf Jahre, einige davon ohne Urteil. In den maisons centrales sind Gefangene mit langen Haftstrafen untergebracht. Kurz vor ihrer Freilassung werden sie in die centres de détention überführt, die mit der „Resozialisierung“ der Häftlinge betraut sind. 12 Annie Kinsey und Pierre Tournier, „Libération sans retour?“, Veröffentlichung des Justizministeriums, Oktober 1994. 13 Dazu Louis Perego, „Retour à la case prison“, Paris (Editions ouvrières) 1990; Claude Lucas, „Suerte, l'exclusion volontaire“, Paris (Plon/Terre humaine) 1996. 14 Nach Angaben der Abteilung Strafvollzug im Justizministerium am 1. Mai 1998.

Le Monde diplomatique vom 12.02.1999, von MICHAËL FAURE