Hoher Preis für rasches Wachstum
Von PHILIP S. GOLUB *
DIE chinesische Wirtschaft ist zwar im vergangenen Jahr dank einer fast lückenlosen Devisenkontrolle von den Turbulenzen der Finanzmärkte verschont geblieben, doch seit einigen Monaten gibt es erste beunruhigende Anzeichen, daß ihr die Luft ausgehen könnte. 1998 brach der intraregionale Handel zusammen, in den China stark eingebunden ist, was drastische Exporteinbußen und eine spürbare Verminderung des Wachstums zur Folge hatte.1
Seit Mitte der achtziger Jahre war China einem Entwicklungsmodell gefolgt, das vor allem auf den Außenhandel setzte. Diese exportorientierte Wachstumspolitik stößt jetzt jedoch – wie schon in den Tiger- und den Drachenstaaten – an ihre natürlichen Grenzen. Dieser absehbare Konjunkturrückgang wird gefährliche soziale Folgen nach sich ziehen.
Die von Deng Xiaoping zu Beginn der großen Wirtschaftsreformen initiierte Öffnung der Volksrepublik für den internationalen Handel hatte China Schritt für Schritt aus der autarken Abgeschlossenheit der Mao-Ära herausgeführt. Das Kernstück dieser Strategie bestand in der Förderung der Küstenregionen – eine Entscheidung, die den traditionellen Gegensatz zwischen handeltreibenden Küstenprovinzen und selbstversorgenden Binnenprovinzen fortschrieb.
Im Juli 1979 wurden an der Südostküste versuchsweise vier Sonderwirtschaftszonen eingerichtet: Shenzhen, Zhuhai und Shantou in der Provinz Guangdong und Xiamen in Fujian. Innerhalb kurzer Zeit wurden diese am Modell von Singapur und Hongkong orientierten Freihandelszonen zu Breschen, durch die westliche Technologie und Auslandsinvestitionen, vor allem aus der chinesischen Diaspora, in die Volksrepublik China strömten.2
Zu Beginn waren diese einzelnen Wirtschaftsenklaven streng kontrolliert und vornehmlich für die kommerziellen Aktivitäten der Eliten reserviert (zum Beispiel die der Volksbefreiungsarmee mit ihren vielfältigen und undurchsichtigen Geschäften). Doch mit der Gründung zahlreicher weiterer Sonderwirtschaftszonen im Jahr 1984 vollzog sich ein schrittweiser Wandel der gesamten regionalen Wirtschaftsstruktur.3 Durch steuerliche Sonderregelungen und weitere Privilegien begünstigt, entwickelte sich die Küstenregion mit ihren 250 Millionen Einwohnern zu einem riesigen Produktionszentrum für den Export, dessen schier unerschöpfliches Arbeitskräftereservoir durch den Zustrom vom Lande ständig neu aufgefüllt wird. Im Zuge dieser gigantischen Binnenwanderung wurden schätzungsweise 100 Millionen Menschen entwurzelt; eine Integration der „Arbeitsnomaden“ in ihr neues Umfeld fand nicht statt.
Dank dieses Überflusses an Billigstarbeitskräften, die nur halb so viel kosten wie in Thailand oder auf den Philippinen, haben sich die Küstenprovinzen zum dynamischen Wachstumspol der chinesischen Wirtschaft entwickelt. Diese hat seit 1978 ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 9 Prozent aufzuweisen. Da 90 Prozent der Auslandsdirektinvestitionen in die Küstenregion fließen, liegt hier die Wachstumsrate um 50 bis 100 Prozent über dem Landesdurchschnitt. So belief sich etwa 1997 das Wirtschaftswachstum in der Sonderwirtschaftszone von Shenzhen auf etwa 16 Prozent, gegenüber nur 10 Prozent im (wahrscheinlich überbewerteten) Landesdurchschnitt. Damit entwickelte sich die Volksrepublik China durch die Weltmarktanbindung ihrer Küstenprovinzen innerhalb einer Generation zu einem entscheidenden Akteur des Welthandels.4
Diese Entwicklung führte zu wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichten und einer politischen Instabilität, auf die der Staat nun mit einiger Verspätung zu reagieren versucht. Zu den Ungleichgewichten gehören insbesondere die ausgeprägten regionalen Disparitäten sowie die sich herausbildenden neuen sozialen Unterschiede.
Seit 1978 hat sich die Kluft zwischen westlichen und östlichen Provinzen fortwährend vertieft. Vor Beginn der Reformen lag das Durchschnittseinkommen in den Küstenregionen eineinhalb mal so hoch wie in den Westprovinzen, Anfang der neunziger Jahre war es auf mehr als das Doppelte angestiegen. Wie Joseph C. H. Chai in einer Untersuchung über die interregionalen Disparitäten in China hervorhebt, bewirkte die Optimierung des Wachstums in den Küstenprovinzen nicht den erhofften Trickle-down-Effekt, der auch den westlichen Provinzen erhöhten Wohlstand gebracht hätte. Bereits 1996 notierte Chai, daß „die Einkommensunterschiede zwischen dem Westen und dem Osten Chinas eine ernsthafte Bedrohung für die Stabilität der Reformpolitik darstellen“5 . Seit einigen Jahren zeigt der Zentralstaat in dieser Hinsicht mehr Problembewußtsein und versucht – mit wenig Erfolg – die Auslandsinvestitionen ins Landesinnere umzuleiten.
Verstärkung der regionalen Unterschiede
DIE liberale Wirtschaftspolitik hat aber nicht nur zu interregionalen Wachstumsunterschieden geführt, sondern auch eine neue soziale Ungleichheit innerhalb der begünstigten Regionen hervorgebracht, was sich an den wachsenden Einkommensunterschieden zwischen Neureichen und Armen deutlich zeigt.
Zu den Armen zählen neben den neuen Arbeitslosen, die aus dem städtischen Proletariat hervorgegangen sind und der Privatisierung von öffentlichen Betrieben zum Opfer fielen, auch die überausgebeuteten „Arbeitsnomaden“. Diese sind als Tagelöhner auf dem Bau und bei öffentlichen Infrastrukturarbeiten beschäftigt und arbeiten unter übelsten Bedingungen: höllische Arbeitszeiten, Niedrigstlöhne, keinerlei Arbeitsschutzbestimmungen und so weiter. Das Arbeitsrecht wird in Chinas Sonderwirtschaftszonen systematisch mit Füßen getreten, und den Arbeitsnomaden wird weder ein ständiges Aufenthaltsrecht zugestanden, noch sind die durch irgendeine Sozialversicherung geschützt.6
Bei starkem Wirtschaftswachstum mochte diese interregionale und soziale Ungleichheit durch politische Maßnahmen noch regulierbar sein, doch bei geringeren Wachstumsraten oder gar wirtschaftlicher Stagnation wird diese Aufgabe immer schwieriger werden. Wie Dwight H. Perkins vom Harvard Institute for International Development betont, erlaubt die steigende Zahl der Arbeitslosen, die eine Folge der Sparpolitik im Haushaltsjahr 1989/90 ist, eine Vorahnung, was bei einem dauerhaftem Rückgang des Wirtschaftswachstums zu erwarten ist: „Dutzende, möglicherweise Hunderte Millionen [Menschen] werden Schwierigkeiten haben, eine Beschäftigung zu finden.“7
Nun steht also das Thema der wirtschaftlichen Umverteilung erneut auf der Tagesordnung. Unter dem Druck nachlassender Wirtschaftsaktivität scheint die Regierung gewillt, ihre Prioritäten in Zukunft anders zu setzen: Der Zeitplan für die Umstrukturierung der Industrie (das heißt Privatisierungen), den das Plenum der Kommunistischen Partei Chinas 1997 beschloß, soll nun in die Länge gezogen werden. Im Herbst 1998 kündigte die Regierung ein umfassendes Programm öffentlicher Infrastrukturarbeiten an, dessen Beschäftigungseffekte jedoch nur langfristig spürbar sein werden – vorausgesetzt, das Programm wird überhaupt mit der nötigen Konsequenz durchgeführt.
Die komparativen Kostenvorteile der Volksrepublik im Vergleich zu ihren südostasiatischen Nachbarn sind in letzter Zeit geringer geworden, auch können protektionistische Maßnahmen seitens der westlichen Länder nicht ausgeschlossen werden. So entfällt die Möglichkeit, die Konjunktur über steigende Exporte anzukurbeln, und China muß versuchen, die Binnennachfrage zu stimulieren. Die aber zeigt, wie an den fallenden Verbraucherpreisen abzulesen ist, seit fast einem Jahr eine fallende Tendenz.
dt. Bodo Schulze
* Journalist