Bruder mit großem Einfluß
JEDER fünfte Afrikaner stammt aus Nigeria, das 108 Millionen Einwohner hat. Nigeria ist aber auch der bedeutendste Erdölproduzent Afrikas (und der fünftgrößte unter den Opec-Ländern) und wird bis 2000 der drittgrößte Erdgasexporteur des Kontinents sein.
Nigeria sieht sich selbst als „Riese Afrikas“, und hat schon mehrmals einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gefordert. Zusätzlich zu seinem demographischen und ökonomischen Gewicht hat das Land aber auch eine Armee von 80000 Mann, der die Rolle einer Regionalpolizei zukommt. Und das nigerianische Netz von Handels- und Finanzbeziehungen (legalen wie illegalen), das sich von der Elfenbeinküste bis Südafrika und von der Zentralafrikanischen Republik bis Brasilien oder Texas erstreckt, ist von beeindruckender Dynamik.
Für die Nachbarländer des englischsprachigen Riesen läge der Gedanke nahe, (wie ihn die Mexikaner im Hinblick auf die Vereinigten Staaten hegen), daß sie „Gott zu fern, aber Nigeria zu nahe“ sind und deshalb ihren einzigen Schutz in stabilen Beziehungen zur ehemaligen französischen Kolonialmacht sehen müssen. Paris, das ein Verteidigungsabkommen mit Kamerun hat, steckt seit 1994 durch die ständigen Streitigkeiten zwischen Abuja und Douala über die Halbinsel von Bakassi in der Klemme. Damals befürchtete man eine Eskalation des Konflikts zwischen zwei diskreditierten Regimes mit wachsenden ökonomischen Problemen. Doch der offene Konflikt wurde vermieden, und beide Länder tauschten schon im vergangenen November Gefangene aus und warten nun auf das Urteil des Internationalen Gerichtshofs.
NIGERIA hütet sich jedoch vor einer allzu direkten Einmischung in die Angelegenheiten seiner Nachbarstaaten (und unterstützt auch nicht die englischsprachige Opposition in Kamerun, wie sich Kamerun auch gegenüber den Sezessionisten in Biafra zurückgehalten hatte). Nigeria ist sich der Brüchigkeit seines eigenen Staatsgefüges bewußt und besitzt zudem andere Trümpfe gegenüber seinen Nachbarn: vor allem die Erdöl- und Erdgasreserven müssen Länder beeindrucken, die keine haben oder deren Vorkommen – wie im Falle Kamerun – zur Neige gehen.
Eine Erdgasleitung entlang der Küste wird nigerianisches Gas nach Benin, Togo und Ghana liefern, wo ein Großteil des auf dem Markt gehandelten Treibstoffs Schmuggelware ist: 1993 schätzten Experten die aus Nigeria in Richtung der Nachbarstaaten abgezweigten Benzin- oder Dieselmengen auf 250000 Barrel täglich (damit soll vor allem in Niger die Staatskasse gleich mehrmals aufgefüllt worden sein).
Auch die Stabilität der mehrheitlich muslimischen Regime in der Sahelzone beruht auf der Fähigkeit des nigerianischen Regimes, seine eigenen islamistischen Strömungen im Zaum zu halten, die im Norden der Föderation sehr präsent sind.
Manche Länder sind weniger abhängig von der nicht uneigennützigen Hilfe des „großen Bruders“ und vor allem darauf bedacht, sich durch Nigeria nicht schädigen zu lassen. Das gilt etwa für Ghana, wo man sich noch an die Probleme erinnert, die 1983 durch die überstürzte Rückkehr Hunderttausender aus Nigeria ausgewiesener ghanaischer Emigranten entstanden waren. So wendete sich Accra innerhalb des Commonwealth immer entschieden gegen Bestrebungen, die Sanktionen gegen das diktatorische Regime von General Sani Abacha zu verschärfen.
Das Ungleichgewicht zwischen der nigerianischen Regionalmacht und ihren Nachbarländern, die politisch oder wirtschaftlich selbst geschwächt sind, erklärt auch die kargen Erfolge der vor 25 Jahren gegründeten Ecowas (Economic Community of West African States)1 . Anstatt, wie im Gründungsstatut vorgesehen, den währungspolitischen Zusammenschluß und die Liberalisierung des regionalen Handels voranzutreiben, war die Ecowas durch das ständige Mißtrauen zwischen englisch- und französischsprachigen Ländern weitgehend gelähmt. Die frankophonen Staaten stärkten 1994 sogar ihre auf dem CFA-Franc basierende Währungsunion.
Die gleichzeitige Existenz einer konvertiblen und mehrerer nichtkonvertibler Währungen sowie die unterschiedliche Besteuerung von Waren erzeugen einen ebenso lukrativen wie illegalen Grenzhandel, an dem korrupte Zöllner partizipieren.3 Wie so oft in Afrika dienen Staatsgrenzen dem informellen Handel als regelrechte Einkommensquelle, weshalb es niemand besonders eilig hat, sie abzuschaffen.
Die Ecowas setzte sich also ein hohes Ziel, als sie auf Druck Nigerias 1991 unter dem Namen Ecomog (Ecowas Monitoring Group) eine interafrikanische Eingreiftruppe aufstellte, die bewaffneten Konflikten in der Region entgegentreten sollte, damals im Falle des blutigen liberianischen Bürgerkriegs. Nigeria (das den Kern der Ecomog-Truppen stellt) mußte nach mehreren Jahren militärischer Präsenz den Sieg seines Gegners Charles Taylor akzeptieren. Das Abenteuer war für die nigerianische Staatskasse sehr kostspielig, doch sie bot zahlreichen nigerianischen Offizieren glänzende Bereicherungschancen, die alle möglichen Ausrüstungsgüter geschmuggelt und sogar die Infrastruktur des Landes schamlos geplündert haben.
Ähnlich ging es in Sierra Leone zu, wo die Nigerianer 1997 intervenierten, um Präsident Ahmed Kabbah wieder einzusetzen – allerdings, ohne ihre Ecowas- Partner zu konsultieren. Doch auch bei dieser Operation war die Bilanz höchst bescheiden, wenn man vom materiellen Nutzen für Teile der nigerianischen Armee absieht. Die aus Freetown verjagten Rebellen haben sich keineswegs in ihre Niederlage gefügt. Den Preis zahlt jetzt die Zivilbevölkerung.
J. S.
dt. Miriam Lang