12.02.1999

Landwirtschaftspolitik nach ethnischen Kriterien

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Landwirtschaftspolitik nach ethnischen Kriterien

Von MICHEL AGIER und ODILE HOFFMANN *

SANTA ROSA liegt am Mejicano- Fluß im Departamento Nariño, wenige Kilometer vor der Grenze zu Ecuador. Es ist das letzte Dorf vor dem dichten, hügeligen Wald, in dem mehr Fabelwesen als Menschen leben: Jaguare und Schlangen, aber auch Kobolde oder die madre del agua (Mutter des Wassers) und die madre del monte (Mutter des Bergs). Don Hipólito aus dem Dorf meint, daß die Geister jetzt dem Wald entfliehen. Heute suchen die Geister nicht die Menschen heim, sondern umgekehrt. Die Menschen holzen den Wald ab, pflanzen riesige Palmenhaine, vertreiben damit die Geister und nehmen den Bauern ihr Land. Die Bauern aus Santa Rosa besitzen Land in der Umgebung, und wie die meisten Leute aus der Gegend halten sie vom „Gesetz Nr. 70“ nicht sehr viel. Es könnte ihnen das Recht auf ihr Land nehmen (an dem sie aber häufig keine individuellen Besitztitel haben): das Recht, es zu verschenken oder zu vererben – oder auch im äußersten Fall zu verkaufen.

Das 1993 verabschiedete „ley de negritudes“ oder Gesetz Nr. 70 soll Artikel 7 der Verfassung von 1991 umsetzen. Diese bekräftigt den multiethnischen Charakter der kolumbianischen Nation und fordert, diese Vielfalt bei territorialen, politischen und bildungspolitischen Fragen zu achten. Nach dem Gesetz Nr. 70 können schwarze Gemeinden, deren Grundbesitz juristisch nicht abgesichert ist, „kollektive Besitztitel“ beanspruchen. Das zielt explizit auf „Familienverbände von afrokolumbianischer Abstammung, die eine eigene Kultur besitzen, eine gemeinsame Geschichte haben sowie eigene Traditionen und Bräuche pflegen (...) und die ein Bewußtsein über ihre Identität bewahrt haben, das sie von den anderen ethnischen Gruppen unterscheidet“ (Artikel 2, Absatz 5).

Das Gesetz gilt nur für die Pazifikküste: einen 100 bis 150 Kilometer breiten, 850 Kilometer langen Landstrich, der die Departamentos Chocó, Valle del Cauca, Cauca und Nariño umfaßt. Die Landbevölkerung in diesem Gebiet wird auf 550000 Menschen geschätzt – ebenso viele wohnen in den Städten, auf die sich das Gesetz aber nicht bezieht. Das nationale Statistikinstitut DNP ermittelte 1992 für die Pazifikregion einen Bevölkerungsanteil von 90 Prozent Schwarzen, der Rest sind Indios (die Embera und im Süden die Awa) und Weiße (um die Jahrhundertwende zugewanderte Händler bzw. Staatsangestellte und Geschäftsleute).

Die Pazifikküste war lange Zeit ein vernachlässigtes Randgebiet mit extremer Armut, hoher Kindersterblichkeit und kaum entwickelter Infrastruktur. In den letzten fünfzehn Jahren konnte die Region ein gewisses politisches Interesse auf sich ziehen, aber auch internationale Aktivitäten im humanitären Bereich, zum Schutz der Artenvielfalt oder im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung.

In ganz Kolumbien wurden bisher 23 kollektive Besitztitel an die einheimische Bevölkerung vergeben. Das größte zusammenhängende Stück Land umfaßt 700000 Hektar, die von 50000 Bauern bewirtschaftet werden. Doch die gewaltsamen Konflikte häufen sich: Im Chocó und in Cauca zwischen Indios und Schwarzen, im Chocó und in Nariño zwischen agroindustriellen Unternehmen und schwarzen Gemeinden. In Nariño wurde kürzlich der Rechtsvertreter eines künftigen Gemeinschaftsterritoriums ermordet.

Mit dem Gesetz Nr. 70 ermuntert der Staat Bevölkerungsgruppen mit nur vagen Identitätsmerkmalen – die (schwarze) Hautfarbe, die Wohnregion Pazifik und afrokolumbianische „Sitten und Gebräuche“ –, sich in Gemeinschaften zusammenzuschließen und eigene Lokalverwaltungen zu schaffen. Das heißt Gemeinderäte und damit eine Rechtskörperschaft, die es in der afrokolumbianischen „Tradition“ nicht gibt. Sie sollen lokale Bestimmungen für die Territorialgemeinschaften erarbeiten, die den Vorgaben „der Verfassung, der Landesgesetze und des jeweiligen Rechtssystems der Gemeinschaft“ entsprechen.

So delegiert der Staat die Realisierung des Gesellschaftsvertrags – in diesem Teil des Staatsgebietes – an Träger einer unklaren und umstrittenen ethnischen Tradition, die angeblich auf einer gemeinschaftlichen Art des Besitzes, der Bewirtschaftung und Verwaltung von Grund und Boden beruht. Man orientiert sich damit am Modell der Eingeborenen-Reservate (selbst ein Produkt der Marginalisierung der indigenen Bevölkerung durch Kolonialmächte2 ), wie auch an der neuen Rhetorik der internationalen Kooperations- und Finanzinstitutionen, die ein wirtschaftsliberales und neokommunitaristisches Entwicklungsmodell propagieren, das auf die Förderung lokaler Mikroidentitäten setzt. Doch vor Ort fehlt es den Bauern sowohl an Mitteln, um das besagte Gesetz in die Praxis umzusetzen, als auch an Informations- oder Kritikmöglichkeiten.

Die Interessengegensätze treten klar zutage: Die Bauern sehen ihren ärmlichen Landbesitz – auf dem sie jagen können sowie Gemüse für den Eigenbedarf und Kakao und Kokosnüsse für den Verkauf anbauen –, durch junge Schulabsolventen aus der Stadt gefährdet, die sich durch die neuen Gesetze in ihrer ethnizistischen Ideologie bestätigt fühlen und sich ermuntern lassen, führende Posten in föderalen und kommunalen Einrichtungen und koordinierenden Gremien zu besetzen. Solche Posten sind zwar nur anfangs vorgesehen, um die Bildung der Gemeinderäte in Gang zu bringen, aber die Städter wollen sie nach Erledigung dieser Aufgaben nicht wieder aufgeben.

Sieben Stunden Fußmarsch von Santa Rosa entfernt liegt das Haus des Awa-Indianers Rafael, dessen Vater und Schwiegervater vor etwa dreißig Jahren von einem Indianerreservat hierher zogen. Die drei Häuser sind die einzigen in dieser Gegend, wo viel Land auf ähnliche Weise von Indios besetzt wurde, die außerhalb der resguardos, der Reservate leben. Die Besetzungen waren Einzelaktionen, die vor höchstens zwei Generationen erfolgten. Sie sind aber durch Vereinbarungen zwischen Indiofamilien und schwarzen Dörfern abgesichert, die Verkauf und Nutzung der Flächen auch ohne offizielle Besitztitel regeln.3

Die Indios sind zwar in der Minderheit und auf lokaler Ebene auf ihre schwarzen compadres angewiesen, doch auf nationaler Ebene durch die ethnizistische Ideologie und Gesetzgebung begünstigt. Die Schwarzen meinen denn auch, das Gesetz stehe „auf seiten der Indios“. Auch wenn ein Indio bei einem Stück Land nicht auf die Rechte seiner Vorväter pochen kann, werden es ihm die Bundesbehörden höchstwahrscheinlich zusprechen, selbst wenn es ihm vor Ort verweigert wurde. Das beklagt Don Pedro, ein schwarzer Bauer aus der Gegend, der mit anderen Awa-Indios im Streit lebt. Er ist sehr engagiert in einer Bewegung, die Mitte der siebziger Jahre entstand und weiter südlich einen Kollektivtitel über 1500 Hektar Land anstrebt.

Damals machten sich die großen Palmölunternehmen auf den Ländereien breit, die die Bauern trotz fehlender Besitztitel als ihren Besitz ansahen, weshalb sie wenige Kilometer weiter ein unbearbeitetes Waldstück besetzten, das sie jetzt mithilfe der „ley de negritudes“ legalisieren wollen. Die wenigen Weißen und Mestizen haben sich daraufhin aus dem Projekt zurückgezogen. Als Awa-Indianer ein Stück Land für sich absteckten, gingen sieben Häuser in Flammen auf. Um den Konflikt zu beenden, haben schwierige Verhandlungen mit Rechtsvertretern und Repräsentanten der Awas aus Bogotá begonnen. Die Aussicht auf Besitztitel rückt damit in weite Ferne, was die Aktivitäten der Bauerngruppe erlahmen läßt. Ihr Anführer Don Pedro bekommt langsam Angst, weil auch andere Dorfgemeinschaften versuchen, die „ley de negritudes“ auszunutzen. Sie fordern Ländereien zurück, die zwangsverkauft oder vor zig Jahren von großen Viehzucht-, Palmöl- oder Shrimpszuchtunternehmen konfisziert worden waren.

Damit spitzen sich die Konflikte noch weiter zu: Flächen, die schwarze Bauern und Aktivisten als das Land ihrer Vorväter ansehen, werden vom Agrobusiness genutzt, teilweise ohne Besitztitel. Ohne eine neutrale staatliche Instanz, die eine Lösung aushandeln könnte, sind die Kräfte ungleich verteilt: Das agroindustrielle Kapital steht machtlosen landlosen Bauern gegenüber. Im Februar 1998 wurde Francisco Hurtado erschossen, der Vorsitzende eines Gemeinderats am Mira-Fluß. Die Ländereien, die das künftige Gemeinschaftseigentum bilden sollten, grenzten an industriell bewirtschaftete Palmenhaine.

Das Gesetz Nr. 70 wird also zum Anlaß von dreierlei Konflikten: zwischen den afrokolumbianischen Bauern selbst, zwischen Schwarzen und Indios und zwischen entrechteten Bauern und Agroindustrie. Zwei andere Akteure bleiben bisher im Hintergrund: die Guerilla hält sich heraus, solange die Interessen der Bauern respektiert werden; und die lokalen Drogenhändler interessieren sich weniger für Besitzfragen als für die Kontrolle über bestimmte Gebiete, die sie für ihre illegalen Aktivitäten nutzen. Einzelne Dorfbewohner arbeiten zwar mit den Drogenhändlern zusammen, aber insgesamt haben die Bauern vor diesen „Fremden“ doch große Angst, ohne sich gegen den Mißbrauch ihrer Ländereien schützen zu können.

Es ist absehbar, daß die Anwendung des Gesetzes Nr. 70 eine Welle der Gewalt auslösen wird. Deshalb müßte man es dringend reformieren und viel Geld bereitstellen, um es auch praktisch umzusetzen. So wie es bis jetzt praktiziert wurde, veranschaulicht es nur die Gefahren einer Art von Kommunitarismus, den Entwicklungsagenturen und –netzwerke weltweit unterstützen.

In der betroffenen Bevölkerung gibt es gravierende Konflikte: um das Verständnis von Gemeinschaftseigentum, um die Nutzung der Flächen und die Arbeitsorganisation, um die Beziehungen zwischen den Ethnien und so weiter. Sie alle zeigen, daß die Identitätsideologie, die kulturalistischen Theorien und die Apriori-Annahmen eines ethnischen Partikularismus auf tönernen Füßen stehen. Wenn diese Ideologien, politisch und juristisch aufgewertet, die Bevölkerung in ihrem Zusammenhalt schwächen und in einen neuen Strudel der Gewalt reißen, wird der Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung für die Regelung von Konflikten und die Kontrolle über sein Territorium äußerst fragwürdig. Statt dessen sollte der Staat für eine wirkliche landesweite Agrarreform sorgen, die ohne ethnische und regionale Diskriminierung (positiver oder negativer Art) auskommt.

dt. Miriam Lang

* Michel Agier ist Anthropologe und Odile Hoffmann Geographin, beide arbeiten am Instituto de investigación para el desarollo an der Universidad del Valle in Cali. Michel Agier hat das Buch „Anthropologues en dangers. L‘engagement sur le terrain“ herausgegeben (Paris, Jean-Michel Place 1997)

Fußnoten: 1 Siehe Pablo Leyva (Hg.), „Colombia Pacifico“, Santafé de Bogotá (Proyecto Biopacifico/Fondo FEN) 1993; Arturo Escobar und Alvaro Pedrosa (Hg.), „Pacifico: Desarollo o diversidad? Estado, capital y movimientos sociales en el Pacifico colombiano“, Bogotá (Cerec) 1996. 2 Siehe Peter Wade, „Identités noires, identités indiennes en Colombie“, Cahiers des Amériques Latines, Nr. 17, Paris 1994, S. 125-140. Über die neue Politik der Eingeborenen-Reservate nach der Verfassung von 1991 siehe Christian Gros (Hg.), „La Colombie à l'aube du troisième millénaire“, Paris (L'Ilheal) 1996, S. 249-275. 3 Die sozialen und symbolischen Tauschaktionen zwischen den Embera-Indianern und der schwarzen Bevölkerung im Chocó ist das Thema der vor kurzem veröffentlichten wegweisenden Forschungsarbeit von Marie-Anne Losonczy, „Les Saints et la Forêt“, Paris (L'Harmattan) 1997.

Le Monde diplomatique vom 12.02.1999, von MICHEL AGIER und ODILE HOFFMANN