12.02.1999

Kosovo

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Kosovo

Von IGNACIO RAMONET

DER Westen hat tatenlos zugesehen, als Jugoslawien 1991 von den Nationalisten immer schneller in den Zerfall getrieben wurde. Heute bezahlen die Völker des Balkans für diese Blindheit einen hohen Preis. Dieser Fehler, für Richard Holbrooke „der größte kollektive Fehler des Westens in Sachen Sicherheitspolitik seit den dreißiger Jahren“1 , hat mehr als hunderttausend Tote gekostet. Und er wäre vermeidbar gewesen.

Nach 1945 war es dem ehemaligen Partisanenchef Tito gelungen, die Völker Jugoslawiens zusammenzuschweißen, trotz aller Gewalttaten, die während der deutschen Okkupation vor allem die kroatische Ustascha und die serbischen Tschetniks verübt hatten. Tito setzte auf Zusammenhalt und führte damit die Formel vom „Erbfeind“ ad absurdum. Er sagte: „Jugoslawien hat sechs Republiken, fünf Nationen, vier Sprachen, drei Religionen, zwei Alphabete und eine einzige Partei.“

Die Kommunistische Partei, die sich der UdSSR widersetzt und eine „Arbeiterselbstverwaltung“ geschaffen hatte, verlor nach Titos Tod 1980 jede Autorität. Durch die alljährliche Rotation der Präsidentschaft zwischen den sechs Republiken wurde die Föderation geschwächt. Die wachsende Last der Auslandsschulden führte zu endlosen Streiks und heftigen Spannungen zwischen Slowenien und Kroatien und den ärmeren Republiken.

Diese Streitigkeiten begünstigten, von den Medien nach Kräften unterstützt, ein Wiederaufflammen der nationalen Egoismen. Ein ehemaliger US- Botschafter in Belgrad schreibt in seinen Memoiren: „Das Fernsehen verbreitete den Haß auf die jeweils anderen Gemeinschaften wie einen Bazillus in ganz Jugoslawien.“3 Ein anderer Zeitzeuge notiert: „Seit ich 1991/92 RadioTelevision Belgrad gesehen habe, kann ich verstehen, wie die Serben in Bosnien glauben konnten, sie würden den Ustascha-Kräften oder fundamentalistischen Islamisten zum Opfer fallen. Es war, als ob das gesamte amerikanische Fernsehen vom Ku-Klux-Klan gesteuert würde.“4

Als Slobodan Milosevic 1989 zum 600. Jahrestag der serbischen Niederlage gegen das türkische Heer vor Millionen Zuschauern eine haßerfüllte Rede hielt, schlugen die nationalistischen Gefühle hoch. Andere Demagogen, wie Franjo Tudjman in Kroatien und Alija Izetbegovic in Bosnien, hielten mit ihren gleichermaßen rassistischen Hetztiraden dagegen.

Noch im Rausch des Mauerfalls und des Sieges im Golfkrieg, konnten die westlichen Länder die Katastrophe nicht verhindern. Von Deutschland wurde sie sogar begünstigt, als Bonn die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens überstürzt anerkannte. Am 27. Juni 1991 begann der Slowenienkrieg, es folgten die Kriege in Kroatien und in Bosnien mit ihren Verbrechen. Die Europäische Union demonstrierte ihre Unfähigkeit, auf dem eigenen Kontinent als Macht aufzutreten, die den Frieden notfalls auch mit Gewalt erzwingt. Mit den Dayton-Abkommen stellten die USA 1995 einen Frieden wieder her, der angesichts der aktuellen Ereignisse als höchst brüchig erscheint.

DER Kosovo, in dem zu 90 Prozent Albaner leben, ist ein armes Land: Innerhalb des neuen Jugoslawien weist er die höchste Arbeitslosigkeit und den niedrigsten Alphabetisierungsgrad auf, und mit 2 Millionen Einwohnern auf 10900 Quadratkilometern auch die höchste Überbevölkerung; die Geburtenrate liegt bei 4 Prozent, mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unter 20. Die Verfassung von 1974 verlieh dem Kosovo den Status einer serbischen Provinz mit weitreichender Autonomie inklusive Vetorecht, der es fast in den Rang einer eigenen Republik hob.

Der Autonomie-Status wurde 1989 von Slobodan Milosevic aufgehoben. Die entrechteten Bewohner des Kosovo wurden von parafaschistischen Belgrader Gruppen angegriffen, die mit Rückendeckung von Polizei und Armee einen Massenexodus provozieren wollten. Dagegen verfolgte die Demokratische Liga des Kosovo (LDK) von Ibrahim Rugova den friedlichen Aufbau einer parallelen Gesellschaft, die den Staat ersetzen sollte. Die sehr viel radikalere Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK), die vor einem Jahr die politische Bühne betreten und seither zahlreiche Anschläge verübt hat, fordert die Unabhängigkeit des Kosovo.

Der Konflikt hat bereits etwa 2000 Menschenleben gekostet, mehr als 200000 Bewohner in die Flucht getrieben und zur Zerstörung von 300 Dörfern geführt. Unter der Drohung von Nato- Luftangriffen hat Milosevic im Oktober 1998 ein Abkommen unterzeichnet, das ihn zum Rückzug seiner Armee verpflichtet, und der OSZE erlaubt, 2000 unbewaffnete Beobachter zu stationieren. Diese Vereinbarung konnte jedoch das neuerliche Aufflackern der Kämpfe im Januar nicht verhindern.

Die Europäische Union erkennt die Unabhängigkeit des Kosovo zu Recht nicht an. Es wäre unverantwortlich, eine Aufsplitterung Europas in Mikro-Staaten zu fördern und damit die Region weiter in Flammen zu setzen. Der nächste Brandherd liegt in Makedonien, dessen Bewohner zu etwa einem Drittel Albaner sind. Ebenfalls zu Recht verlangt die EU von Milosevic, die Aufhebung des Kosovo-Statuts rückgängig zu machen. Der Kosovo sollte wieder eine möglichst weitgehende Autonomie innerhalb Serbiens bzw. Jugoslawiens erhalten. Doch ein entsprechendes Abkommen hat nur dann einen Sinn, wenn Europa sich mit Unterstützung der Nato und der USA die Mittel verschafft, in Serbien und im Kosovo demokratische Verhältnisse zu erzwingen. Solange in beiden Lagern die Ultranationalisten den Ton angeben, bleibt ein solches Abkommen aber ein frommer Wunsch. Oder ein große Heuchelei.

Fußnoten: 1 Vgl. Richard Holbrooke, „El mayor fracaso colectivo de Occidente“, Politica exterior, Madrid, Januar/Februar 1999. 2 Vgl. Catherine Samary, „Der aufhaltsame Zerfall der jugoslawischen Föderation“, Le Monde diplomatique, Juli 1998. 3 Warren Zimmermann, „Origins of the Catastrophe. Yugoslavia and its Destroyers“, New York (Times Books) 1996. 4 Noel Malcolm, „Bosnia: A Short History“, New York University Press 1994.

Le Monde diplomatique vom 12.02.1999, von IGNACIO RAMONET