12.02.1999

Zwangsprostituierte aus Osteuropa

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Zwangsprostituierte aus Osteuropa

Tausende Frauen aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion sind Opfer von Zwangsprostitution in der Europäischen Union. In letzter Zeit hat sich dieses Phänomen, das mit dem Fall des Eisernen Vorhangs einsetzte, infolge der Verarmung der Bevölkerung wesentlich ausgeweitet. Erst im Dezember letzten Jahres erfaßte die Europäische Kommission offenbar das wahre Ausmaß dieses Problems. Doch die Bemühungen der EU, den osteuropäischen Ländern bei dessen Bekämpfung zu helfen, nehmen sich bisher noch sehr escheden aus.

Von unserem Korrespondenten YVES GÉRY *

IM Rotlichtviertel von Antwerpen prostituiert sich die Albanerin D. in einem Fenster. Das offensichtlich geringe Alter des Mädchens macht die Polizei stutzig. Laut ihrem gefälschten Paß ist sie 19 Jahre alt. Das Mädchen muß sich in einem medizinischen Zentrum einer Ganzkörperradiographie unterziehen. Die Diagnose des Arztes: höchstens 15 Jahre. Anfangs versichert D. den Ärzten, sie sei aus freien Stücken eingereist. Doch dann bricht ihr Widerstand zusammen: Ihre Familie habe dringend Geld benötigt, daraufhin habe der Lebensgefährte der Mutter ihr vorgeschlagen, nach Holland zu gehen, wo sie „viel Geld verdienen“ könne. Das junge Mädchen wurde an Händler verkauft und hält sich seit drei Wochen in Antwerpen auf. Vor ihrem ersten Freier hatte sie noch nie einen Sexualkontakt gehabt. Sie ist traumatisiert und gesteht, in ihre Heimat zurückkehren zu wollen. Auf Ersuchen der Polizei erstattet sie Anzeige. Die belgischen Behörden gestatten ihr die Rückreise zu ihrer Mutter in Albanien, und die Internationale Organisation für Migration (IOM) kümmert sich um die notwendigen Schritte.

Innerhalb von vierzehn Tagen befreite die Polizei mehrere junge Albanerinnen aus den Fängen der Mafia. „Seit einem Jahr karren die albanischen Frauenhändler ganze Scharen von Minderjährigen wie D. heran“, bestätigt Véronique Grossi, Leiterin des niederländischen Vereins Payoke. Antwerpen ist einer der wichtigsten Zielorte für den Frauenhandel aus dem Osten. Die Mehrzahl der 1500 Prostituierten, die man auf den Straßen oder in den Fenstern sieht, stammen aus Afrika oder aus osteuropäischen Staaten. „Die meisten dieser Neuankömmlinge werden ständig von einem Leibwächter bewacht und müssen ihre Einkünfte bei ihrem Zuhälter abliefern“, erläutert Frau Grossi.

Die osteuropäischen Händler nutzen die liberale Politik aus, die Belgien, ebenso wie die Niederlande, in bezug auf Zuhälterei praktiziert. In Belgien wurde nach einem dramatischen Anstieg dieses Geschäfts im Jahr 1995 ein neues Gesetz erlassen, das der bisherigen Straffreiheit der Menschenhändler ein Ende machte; die Niederlande hatten bereits zwei Jahre zuvor eine solche Regelung getroffen. Den Opfern werden nunmehr eine Aufenthaltsgenehmigung sowie Schutz zugesichert, wenn sie bereit sind, gegen die Schlepper auszusagen. Danach können sie um eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung nachsuchen. Dank dieses Gesetzes gingen 1997 siebenundfünfzig Frauen aus osteuropäischen Staaten und Afrika vor Gericht. Der Verein Payoke kritisiert jedoch die Laxheit der belgischen Justiz und die milden Strafen. „Die meisten Händler landen für maximal zwei bis drei Jahre hinter Gittern; und wenn sie ihre Haftstrafe abgesessen haben, werden sie nicht einmal des Landes verwiesen.“ Laut Payoke verurteilte die Antwerpener Justiz im Mai 1998 erstmals acht albanische Frauenhändler zu der dafür vom Gesetz vorgesehenen Höchststrafe von fünf Jahren Freiheitsentzug.

Die Frauenhändler schrecken vor nichts zurück. In regelmäßigen Abständen bedrohen sie Sozialarbeiter, um sie daran zu hindern, den Prostituierten zu helfen: Im Juli 1995 wurde auf zwei Mitarbeiter des Vereins geschossen, als sie in einem Lieferwagen auf einer Schnellstraße von Antwerpen unterwegs waren. Anfang 1998 wurden zwei Mitglieder von Payoke sogar auf den Stufen des Justizpalastes von einem albanischen Händler mit dem Tode bedroht.

Teresa Oleszczuk, die im polnischen Verein La Strada das Programm gegen den Frauenhandel leitet, holt in Warschau aus einem Aktenschrank ein Dutzend Fotos von Mädchen hervor, die meisten von ihnen noch sehr jung. „Diese ist seit vier Jahren verschwunden; die Nachforschungen der polnischen Polizei in Zusammenarbeit mit westeuropäischen Kollegen blieben erfolglos“, berichtet sie. Die meisten der verschwundenen Mädchen wurden zweifellos entführt und gegen ihren Willen nach Deutschland oder in ein anderes Land verschleppt. Zwischen April 1997 und Mai 1998 wandten sich 36 Angehörige von verschwundenen Mädchen an La Strada. Nur in einem Bruchteil der Fälle handelt es sich jedoch um Frauenhandel. Die meisten jungen Polinnen treten die Reise in den Westen aus eigenem Willen an, weil ein naher Verwandter oder ein „Freund eines Freundes“ sie mit einer gut bezahlten Arbeit im Westen als Serviererin, Au-pair-Mädchen oder Hausangestellte gelockt hat. Oder sie folgen einer Kleinanzeige, die ihnen das Blaue vom Himmel verspricht.

Sie ahnen nicht, daß die Hölle sie erwartet: Hinter der Grenze werden sie einem anderen Händler übergeben. „Das Szenario ist immer dasselbe. Die versprochene Arbeit gibt es nicht mehr, der Betrieb wurde geschlossen; unter Androhung von Gewalt landen sie in einem Eros-Center oder auf der Straße und werden zur Prostitution gezwungen, um die angeblichen ,Schulden' für Reisekosten, gefälschte Papiere und Unterkunft abzuzahlen“, fährt Teresa Oleszczuk fort. Und jene Polinnen, die zur freiwilligen Prostitution in den Westen reisen, glauben, daß sie nach einigen Monaten mit einem Vermögen wieder heimkehren werden. Doch auch sie erwartet das gleiche Szenario: „Zwölf Stunden am Tag müssen sie ununterbrochen Freier bedienen, 70 Prozent der Einnahmen behält der Bordellbesitzer, der für die Frauen zwischen 1500 und 5000 Mark hingeblättert hat“, kommentiert Isabella Styczynska, eine andere Mitarbeiterin von La Strada.

Anzeige zu erstatten kommt den völlig eingeschüchterten Frauen gar nicht in den Sinn; zumeist verdanken sie ihre Befreiung einer Polizeikontrolle. Häufig müssen sie sogar die gesamten Einkünfte an den Zuhälter abliefern, der nur für die Ernährung und Körperpflegemittel aufkommt. Dies trifft auf die Mehrzahl der 1200 bulgarischen Prostituierten in Warschau zu. Denn Polen ist Drehscheibe und zugleich Zielpunkt des Frauenhandels. „Hier stranden immer mehr Frauen aus ärmeren Ländern, aus Rußland, der Ukraine und Weißrußland“, berichtet Stana Buchowska, Koordinatorin des Aufklärungsprogramms von La Strada. Die jungen Mädchen arbeiten in Agenturen für Begleitservice, Clubs und Massagesalons und werden von einer Stadt zur nächsten gekarrt, „so können die Nachtklubbesitzer ihren Kunden regelmäßig neue Frauen anbieten“.

Vor drei Jahren richtete La Strada einen telefonischen Informationsdienst ein, der täglich von einem Dutzend Hilfesuchenden in Anspruch genommen wird: von jungen Frauen, die abgeschoben werden sollen, den Angehörigen von Verschwundenen, aber auch von den Opfern selbst. Im April 1998 initiierte die Organisation eine breite Sensibilisierungskampagne gegen den Frauenhandel – die erste dieser Art in einem osteuropäischen Land; finanziert wurde sie von der Europäischen Union. Die Aktion, die bis Ende Juni dauerte, war erfolgreich.

Eine ähnliche Kampagne wurde gleichzeitig, mit finanzieller Unterstützung der USA, in der Ukraine gestartet, einem Land, das besonders betroffen ist, zumal die Frauen dort 72 Prozent der Arbeitslosen ausmachen. „Viele von ihnen sind zu jeder Arbeit bereit“, unterstreicht Irene Kurolenko, Mitglied der ukrainischen regierungsunabhängigen Organisation „50+50“, auf einem internationalen Seminar zur Bekämpfung des Menschenhandels, das vom 29. bis zum 30. Juni 1998 in Straßburg abgehalten wurde. In Kiew bieten etablierte Reisebüros angebliche Jobs für Mannequins, Tänzerinnen oder Serviererinnen an.

Polen, die Ukraine, Rußland, Weißrußland, Ungarn, die Tschechische Republik, Albanien – keines der osteuropäischen Länder bleibt vom Frauenhandel verschont. Begonnen hat alles im Jahre 1989. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks stieg das organisierte Verbrechen groß in den Frauenhandel ein. Die Methode ist einfach (ein Touristenvisum genügt) und kostengünstig (die Reisekosten sind niedrig, denn die EU liegt vor der Tür).

Was sind die wichtigsten Zielorte dieses Handels? Nach den Angaben der IOM ist dies vor allem Deutschland (wo 75 Prozent der Prostituierten Ausländerinnen sind), Österreich (dort kommen 80 Prozent der „Tänzerinnen-Hostessen“ der Wiener Sexclubs aus dem Osten), die Niederlande, Belgien, die Schweiz, Italien und Griechenland.2 Nach einem Bericht des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1995 arbeiten in Deutschland mindestens 10000 Zwangsprostituierte, in den Niederlanden 1000 und in Belgien 500. In den letzten Jahren ist, so die IOM, der Frauenhandel „erheblich angestiegen“. Dies erklärt sich aus der außergewöhnlichen Rentabilität des Handels. Nach Kalkulationen von Interpol verdient ein Zuhälter in Europa an einer Prostituierten ungefähr 210000 Mark pro Jahr.

Die Bemühungen der fünfzehn EU- Mitgliedstaaten, den Ländern Osteuropas bei der Bekämpfung dieses Verbrechens zu helfen, sind jedoch geradezu lächerlich: Gegenwärtig liegen die jährlichen Ausgaben für das von 1996 bis zum Jahr 2000 laufende Programm Stop (Kampf gegen den Menschenhandel) bei 1,3 Millionen Euro. Dazu kommen noch einige Millionen Euro für die Hilfsprogramme in mittel- und osteuropäischen Staaten und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Erst im Februar 1997 entschlossen sich die fünfzehn EU-Staaten zu einem Aktionsplan gegen den Frauenhandel. Angestrebt werden eine Verstärkung der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit, die Harmonisierung der Strafgesetzgebung sowie die Unterzeichnung einer „Konvention über den Menschenhandel“, die ein Bündel gemeinschaftlicher Strafmaßnahmen vorsieht, das der Schwere der Verbrechen Rechnung tragen soll. Diese gemeinsame Aktion besitzt jedoch keinerlei verbindlichen Charakter, da sie sich auf Zielvorgaben für die EU-Mitgliedstaaten beschränkt.

Lächerlich niedrige Geldstrafen

IN den Augen der belgischen Europaparlamentarierin Anne van Lancker haben sich die Fünfzehn seit dem vergangenem Jahr so viel Zeit gelassen, daß die Konvention kaum vor Ende 1999 unterzeichnet werden kann. Und was die Verhängung von härteren Strafmaßnahmen betrifft, sei man davon noch sehr weit entfernt – so die Europaparlamentarierin Susan Waddington, die Verfasserin des oben angeführten Berichts des Europäischen Parlaments über Frauenhandel. „Sehr oft werden die Angeklagten zu lächerlich niedrigen Geldstrafen verurteilt, die nicht den geringsten Abschreckungseffekt besitzen.“ Die gleiche Lethargie zeigt die Union bei der polizeilichen Zusammenarbeit: Obwohl mit dem Vertrag von Maastricht bereits 1991 die Schaffung einer europäischen Polizeibehörde (Europol) beschlossen wurde, weitete man erst 1997 ihren Kompetenzbereich auf den Menschenhandel aus. Und erst seit Oktober 1998 verfügen die Kriminalbeamten der Europol über die notwendigen operationellen Mittel, nachdem die EU-Staaten mehrere Jahre mit der Ratifizierung einer Konvention für diese Institution beschäftigt waren.

Sollte es der Europäischen Union an Motivation fehlen? Die französische Soziologin Marie-Victoire Louis vom Centre d'études et d'analyses des mouvements sociaux (Cadis) wirft der EU vor, sie legitimiere „die Zuhälterei, die vom Frauenhandel lebt“4 , und verweist dabei auf die niederländische und belgische Gesetzgebung. Zahlreiche europäische Länder sehen in den Opfern des Frauenhandels einfach illegale Immigrantinnen, die abgeschoben und zu „unerwünschten“ Personen erklärt werden.5

Ein aufschlußreiches Beispiel: Am 1. Juni 1996 wurden die damals 17jährigen Mädchen Tatjana, Marieka, Joanna und Isabella aus einer polnischen Diskothek entführt. Am nächsten Morgen fanden sie sich vollgepumpt mit Drogen in einem Bordell jenseits der Grenze wieder. Man hatte sie für 8000 Mark verkauft, entführt und zur Prostitution gezwungen. Drei Tage später wurden sie dank der Intervention der deutschen Polizei befreit und nach Polen zurückgeschickt. Die beiden Mädchenhändler wurden wegen Entführung und Freiheitsberaubung zu drei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt, Anfang 1998 jedoch vorzeitig entlassen. Die vier Opfer – die man verdächtigte, sie seien illegal und aus freier Entscheidung nach Deutschland eingereist, um Topmodels zu werden – wurden von der deutschen Polizei auf die „schwarze Liste“ der unerwünschten Personen gesetzt.

Kraft des Schengener Abkommens und des Austausches von Computerdaten zwischen den verschiedenen europäischen Polizeibehörden wurde den jungen Mädchen die Einreise in alle EU-Länder, die das Abkommen unterzeichnet haben (also die fünfzehn Mitgliedstaaten mit Ausnahme Großbritanniens und Irlands), verboten. Im Frühjahr 1997 wollte Tatjana, die von dieser Maßnahme nichts wußte, mit einer Theatergruppe an einer vom Europarat finanzierten europäischen Theatertournee gegen den Rassismus teilnehmen; sie wurde an der deutschen Grenze zurückgewiesen. Seit mehreren Monaten kämpft La Strada bei den polnischen, niederländischen, deutschen und europäischen Behörden um die Aufhebung dieses Verbotes, bisher jedoch ohne Erfolg.

dt. Andrea Marenzeller

* Journalist, Paris.

Fußnoten: 1 „Frauenhandel in der Europäischen Union“, IOM, Konferenz von Wien, Juni 1996. 2 Bericht der Komission für Frauenrechte des Europäischen Parlaments vom 27. November 1997. 3 Vgl. Marie-Victoire Louis, „Le corps humain mis sur le marché“, Le Monde diplomatique, März 1997; Thierry Parisot, „Die neuen Sklaven sind unsichtbar“, Le Monde diplomatique, Juni 1998. 4 Im Dezember 1998 hat die Europäische Kommission jedoch angekündigt, das Problem des Frauenhandels müsse noch vor dem Beitritt der osteuropäischen Länder gelöst werden. Die EU-Kommissarin für Justiz und Inneres, Anita Gradin, hat zudem die Mitgliedstaaten ersucht, den Opfern von Menschenhandel auf sechs Monate befristete Visa zu erteilen, wie dies in den Niederlanden und Belgien bereits praktiziert wird.

Le Monde diplomatique vom 12.02.1999, von YVES GÉRY