12.02.1999

Politische Ökonomie eines Aids-Skandals

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Politische Ökonomie eines Aids-Skandals

IN diesem Monat müssen sich der ehemalige Premierminister Laurent Fabius und seine Kollegen Edmond Hervé (ehemaliger Minister für Gesundheit) und Georgina Dufoix (Exministerin für Soziales und Familie) wegen der Freigabe HIV-verseuchter Blutkonserven vor Gericht verantworten. Nach Ansicht der Anklage hat die französische Regierung im Frühjahr 1985 – obwohl bereits ein hochwertiges amerikanisches Testverfahren zur Verfügung stand –, die systematische Überprüfung von Spenderblut hinausgezögert, um de Unternehmen Diagnostics-Pasteur genügend Zeit zu geben, seinen eigenen Test fertigzustellen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich indes, daß der US-Pharmakonzern Abbott damals mit zweifelhaften Methoden versuchte, sein Testverfahren am Markt durchzusetzen.

Von CATHERINE SMADJA und PHILIPPE FROGUEL *

Als an der Westküste der Vereinigten Staaten 1981 der erste Aids-Fall auftrat, war die Ursache der Infektionskrankheit noch unbekannt. Zwar isolierte die Forschergruppe um Professor Luc Montagnier schon 1983 einen neuen Retrovirus namens Lymphadenopathy-associated Virus (LAV), aber erst als Robert Gallo vom Pariser Pasteur-Institut das Virus 1984 „wiederentdeckte“, nahm man die Existenz des HTLV-III, wie Gallo das Virus nannte, allgemein zur Kenntnis. Die Entdeckung spezifischer Antikörper bei Aids-Patienten erbrachte dann den biologischen Beweis dafür, daß der LAV-Virus bei der Infektionskrankheit eine Rolle spielt.

Daß der Virus jedoch für die Übertragung von Aids verantwortlich ist, konnte epidemologisch erst 1985 nachgewiesen werden, als sich herausstellte, daß das Blut eines HIV-positiven Spenders (also einer Person, die zum Zeitpunkt der Blutspende noch keine Krankheitssymptome zeigte, später aber an Aids erkrankte) einen Empfänger der Blutspende infiziert hatte. Im Mai 1985 waren in Frankreich 350 Personen an Aids erkrankt. Die Zahl der HIV-positiven Personen kannte indes niemand, da noch keine geeignete Nachweismethode existierte.

Seit Louis Pasteur gelten Antikörper als medizinischer Beweis dafür, daß der Organismus ein Verteidigungssystem gegen die Krankheit entwickelt hat: Ihre Existenz bedeute Schutz. Deshalb hegten noch Anfang 1985 nicht wenige die Hoffnung, HIV-positive Personen seien vor der Krankheit geschützt oder würden sie zumindest nicht übertragen. In den folgenden Jahren mußte man jedoch einsehen, daß genau das Gegenteil der Fall ist: HIV- Positive sind chronische Virusträger und geben ihn an andere weiter.

Daß HIV-Positivität vor der Krankheit nicht schützt, sondern sie vielmehr ankündigt, bedeutete für die Aids-Forschung in den Jahren 1984 bis 1986 eine regelrechte Revolution im Krankheitsverständnis. Professor Montagnier höchstpersönlich fragte sich im 8. September 1985 im Nouvel Observateur: „Was bedeutet diese ,Posivität' eigentlich genau? Ist der Virus trotz der Antikörper noch vorhanden? Wozu dienen diese angeblichen Antikörper – die doch eigentlich schützen sollen –, wenn die Krankheit nur dann ausbricht, wenn sie vorhanden sind? Kann man sich bei einer positiven Person anstecken? Überträgt sie den Virus?“

Der Nachweis von Antikörpern bei Aids-Kranken durch die Forschergruppen der Professoren Montagnier und Gallo Ende 1983 ebnete den Weg für die Entwicklung eines geeigneten Bluttests. Um den Virus in der dafür nötigen Menge herzustellen, brauchte man jedoch speziell ausgerüstete Laboratorien, die es in Frankreich damals nicht gab. Auf Gesuch von Montagnier bewilligte die Regierung unter Pierre Mauroy im Januar 1984 die Finanzierung eines Hochsicherheitslabors. Zur gleichen Zeit forderte das amerikanische National Institute of Health die Industrie zur Entwicklung eines Aids- Tests auf und versprach die rasche Erteilung einer vorläufigen Zulassung. In der Folge erhielten nur fünf amerikanische Unternehmen die Genehmigung, ihre Testverfahren in den USA zu vermarkten, darunter Abbott International.

Binnen kurzem avancierte der Großanbieter medizinischer Diagnosetechnik im weltweiten Wettlauf um den Aids-Test zum offiziellen „Schützling“ der US- Regierung. Nun schienen alle Mittel erlaubt, um Abbott den Löwenanteil am amerikanischen und internationalen Markt zu sichern. Der Pasteur-Gruppe gelang es nicht, durch ein Partnerschaftsabkommen mit einem der vier anderen US- Unternehmen auf dem amerikanischen Markt Fuß zu fassen.

Der Lügenpoker beginnt im Februar 1985. Im Abstand von wenigen Tagen beantragen Abbott und Diagnostics Pasteur (ein Unternehmen, das die Entdeckungen des Pasteur-Instituts vermarktet) beim Laboratoire National de Santé1 in Paris die Zulassung ihrer Aids-Tests. Beim Abbott- Test stellten sich zwei Fragen. Erstens, ob er zuverlässig war; und zweitens, ob er angesichts der Regierungsentscheidung vom 19. Juni 1985, sämtliche Blutkonserven auf dem französischen Markt systematisch zu testen, in ausreichender Menge verfügbar war.

Ausschlaggebende Kriterien für die Qualität eines Diagnosetests dieser Art sind Sensitivität und Spezifität. Hohe Sensitivität ist erforderlich, damit der Test auch geringe Mengen HIV-Antikörper im Blut der Testperson feststellen kann; hohe Spezifität bedeutet, daß der Test auf sichere und reproduzierbare Weise ausschließlich auf HIV-Antikörper anspricht.2 Nun hat das amerikanische Unternehmen die tatsächlichen Eigenschaften seines Tests stets trügerisch dargestellt: Sein oberstes Ziel hieß totale Marktbeherrschung. Kaum reproduzierbar und lückenhaft waren auch die angeblich „perfekten“ Testergebnisse, die es im Januar 1985 vorlegte, um vom amerikanischen Ernährungs- und Arzneimittelministerium (FDA) grünes Licht zu erhalten und das amerikanische Rote Kreuz zur Unterzeichnung eines Exklusivvertrags zu bewegen. Niemand zeigte sich berunruhigt, daß der Test nur bei 93,4 Prozent der nachweislich Aids-Kranken ansprach, die wahrscheinlich große Mengen Antikörper im Blut hatten, und niemand bemerkte den Widerspruch zur Gebrauchsinformation, die die Sensitivität des Tests mit 97,5 bis 100 Prozent angab.

Aggressive Lobbypolitik

ZAHLREICHE wissenschaftliche Dokumente und Zeitschriftenartikel belegen in der Tat, daß der Abbott-Test von schlechter Qualität war.3 Seine unzureichende Spezifität (hohe Zahl falsch- positiver Befunde) war in Frankreich seit Februar 1985 bekannt. Hinzu kommt die schwache Sensitivität (falsch-negative Befunde). Amerikanische Untersuchungen gelangten übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß der Abbott-Test bei diesen beiden Parametern nur mittelmäßig abschneidet.4 In den Vereinigten Staaten wurden mehrere Personen mit Blutkonserven infiziert, die der Abbott-Test als unbedenklich ausgewiesen hatte.5 Außerdem ließen sich die Leistungsmerkmale des Abbott-Tests von einer Testreihe zur nächsten kaum reproduzieren. Verständlich also, daß bei den französischen Forschern Zweifel aufkamen.

Überdies konnte Abbott die Nachfrage auf den Auslandsmärkten im ersten Halbjahr 1985 nicht befriedigen. Der Lagerbestand des Unternehmens reichte damals maximal für zwei Tage, und 20 Prozent der Produktion waren fehlerhaft: Das Präparat verfiel, bevor es eingesetzt werden konnte.6 Angesichts dieser Mängel schnitt der Test von Diagnostics-Pasteur in den Versuchsreihen, die Ende 1985 und 1986 in den Vereinigten Staaten vor allem durch das Rote Kreuz durchgeführt wurden, weit besser ab.7 Der Pasteur-Test zeichnete sich durch eine höhere Sensitivität aus und verwendete ein modernes automatisierbares Verfahren.

Wie das US-amerikanische Rote Kreuz am 7. Oktober 1986 bestätigte, erbrachte der Abbott-Test auch nach den gewünschten Veränderungen schlechtere Resultate als sein Mitbewerber. Abbott hatte zwischen 1985 und 1987 mit zahlreichen technischen Problemen zu kämpfen und sah sich daher außerstande, gemäß der (späten) Aufforderung von Rotem Kreuz und FDA sein Testverfahren zu verbessern. Eine französische Expertenkonferenz, die mit der Festlegung der Diagnose- und Therapieverfahren einzelner Krankheiten betraut ist, stellte am 7. Juli 1986 fest, daß der Abbott-Test weitaus häufiger falsch-negative Befunde erbrachte als bisher angenommen. Das Rote Kreuz wurde daher aufgefordert, fortan den Pasteur- Test zu verwenden. Aufgrund der erwähnten Produktionsschwierigkeiten belieferte Abbott den französischen Markt mit Produkten, die auf einem eigens für diesen Zweck gezüchteten Virenstamm basierten, so daß der in Frankreich verwendete Abbott-Test nicht identisch war mit den offiziell zugelassenen Präparaten. Auch in den USA blieb die gelieferte Menge weit hinter den Versprechungen von Abbott und dem Bedarf des Landes zurück.

Demgegenüber hatte der Test von Diagnostics-Pasteur den Vorzug, daß er in Frankreich bereits erfolgreich erprobt war. Damit hätte man ihn eigentlich sofort zulassen können; doch dem US-Unternehmen gelang es durch aggressive Lobby- Arbeit, die vorherige Durchführung eines großangelegten Vergleichstests mit sämtlichen auf dem Markt befindlichen Präparaten durchzusetzen. Diagnostics-Pasteur war bereits am 15. April in der Lage, seinen Test in großen Mengen auf den französischen Markt zu bringen. Vergebens regte der Leiter von Diagnostics-Pasteur, Jean Weber, daher eine Lösung nach US- Vorbild an: Obwohl der Bedarf noch nicht einmal zur Hälfte gedeckt werden könne, solle einstweilen nur der Pasteur-Test zugelassen werden. Wie in Deutschland und den Vereinigten Staaten solle die Regierung den Test nicht zwingend vorschreiben, sondern nur eine entsprechende Empfehlung aussprechen. Die vorzeitige Zulassung sollte Diagnostics-Pasteur einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung verschaffen.

Die französische Regierung hätte sich an dieses Szenario gehalten, wenn ihr vorrangiges Ziel eine Begünstigung von Diagnostics-Pasteur gewesen wäre. Doch am 14. Mai 1985 beschloß die französische Regierung, sämtliche Blutprodukte gleichzeitig zu überprüfen und daher keines der Testreagenzien vor Anfang Juli zuzulassen. Die Genehmigung des Pasteur-Tests erfolgte zwar bereits Ende Juni 1985, einen Monat vor dem Abbott- Test, doch zum Stichtag der allgemeinen Testpflicht am 31. Juli 1985 befanden sich auch sämtliche Konkurrenzprodukte auf dem Markt und wurden mit dem gleichen Betrag vergütet. Abbott erzielt sofort einen Marktanteil von 50 Prozent.

In den USA dagegen konnte Abbott verhindern, daß Konkurrenzprodukte auf den Markt kamen. Am 3. Juli 1985 wandte sich ein hoher Abbott-Manager direkt an die FDA und schaffte es, die Genehmigung des Pasteur-Tests in den USA zu hintertreiben. Auch das amerikanische Gesundheitsministerium und die Führungsspitze des Roten Kreuzes machten sich weiterhin für das amerikanische Unternehmen stark, bis schließlich die Wissenschaftler vom Roten Kreuz 1986 die ausschließliche Verwendung des Abbott- Produkts kritisierten: Sie empfahlen aus Qualitätsgründen, „80 Prozent der Tests bei Pasteur“ zu kaufen.8 Die Vorgehensweise von Abbott löste in den Vereinigten Staaten heftige Reaktionen aus. Zahlreiche Ärzte protestierten, Zeitungsartikel klagten an, Kongreßmitglieder beschlossen 1992 eine Untersuchung, und Betroffene, die sich an getestetem Blut angesteckt hatten, zogen vor Gericht.

Anfang 1985 herrschten also starke Vorbehalte gegenüber dem Abbott-Test. Dr. Angus Daiglish vom britischen Krebsforschungsinstitut Chester Beally Laboratory erklärte dazu im Februar 1985: „Dieser Test ist schlimmer als nutzlos; erstaunlich, daß das US-Ministerium das Produkt zugelassen hat.“ Der amerikanische Test stehe „in dem Verdacht, in gefährlichem Ausmaß unzuverlässig zu sein. (...) Er erbringt falsch-negative und sogar falsch- positive Befunde.“9 Die erste Generation des Abbott-Tests wurde in Großbritannien denn auch nicht zugelassen.

Zur gleichen Zeit, am 25. Februar 1985, schrieb Dr. Alain Leblanc vom Laboratoire National de la Santé an seine Vorgesetzten: „Ich bin überrascht, wie oberflächlich die Testberichte von Abbott sind im Vergleich zum Gutachten über das Pasteur-Reagenz.“ Die Vergleichsstudie, die von März bis Juni 1985 in Frankreich durchgeführt wurde, bewies, daß der Abbott-Test weitaus mehr falsch-positive Befunde erbrachte als die Konkurrenzprodukte von Pasteur und Organon.

Im übrigen hätte eine ausschließliche Genehmigung des Abbott-Tests ab dem Monat April (wie sie nach Ansicht der Richter hätte erfolgen sollen) zur Folge gehabt, daß es zwei Arten Blutkonserven gegeben hätte: Solche für Reiche (getestet) und solche für Arme (nicht getestet), denn Abbott war zu dem Zeitpunkt nicht in der Lage, den französischen Markt ausreichend zu beliefern. Die Nationale Ethikkommission hatte sich gegen ein solches Verfahren ausgesprochen. Dennoch wurde im Juni 1985 bereits ein Drittel aller Blutkonserven getestet, im Juli fast alle; ab 1. August war der Test obligatorisch.

dt. Bodo Schulze

* Catherine Smadja ist Ministerialrätin und Hochschuldozentin, Philippe Froguel Arzt am Pasteur-Institut von Lille.

Fußnoten: 1 Das Laboratoire National de la santé, das seither durch die Agence du Médicament abgelöst wurde, führte vor der Markteinführung eines Medikaments entsprechende Tests durch. 2 Unzureichende Spezifität führt zu falsch-positiven Befunden, das heißt unversehrte Blutspenden erscheinen als verseucht. Unzureichende Sensitivität führt dazu, daß kleine Mengen der Erreger nicht erkannt werden, also zu falsch-negativen Befunden: Verseuchtes Blut wird zur Transfusion verwendet. Falsch-negative Befunde sind daher am gefährlichsten. 3 Zur Frage der Spezifität vgl. Holland PV u. a., „Anti-HTLV-III Testing of Blood Donors: Reproductibility and Confirmability of Commercial Test Kits“, Transfusion, 25 (4), Juli/August 1985, Paris, S. 395-397. Der Verfasser stellte bei eigenen Versuchen mit zwei marktgängigen Tests (darunter Abbott) fest, daß sie unterschiedliche Ergebnisse erbringen. Er rät daher, jedes HIV-positive Testergebnis mit einem anderen Testverfahren zu überprüfen. 4 Nach einer im September 1985 bekanntgewordenen Mitteilung, die im gleichen Monat in einer Sondernummer von Transfusion veröffentlicht wurde, ergab dieselbe Blutkonserve mit dem Abbott-Test einmal einen negativen, einmal einen positiven Befund. 5 Vgl. Judith Jones vs. Conrad Fraser (US District Court for the Eastern District of Pennsylvania). 6 Nach einem internen Papier von Abbott vom 14. Juni 1985 „kann der Lagerbestand nicht erhöht werden, solange nicht eine größere Menge Antigene zur Verfügung steht“. Mit anderen Worten, Abbott war nicht imstande, genügend inaktivierte Viren für die Produktion der nötigen Menge von Testpräparaten herzustellen. 7 John Dingell, Vorsitzender eines vom Repräsentantenhauses eingesetzten Untersuchungsausschusses, befragte dazu am 7. Februar 1992 das amerikanische Rote Kreuz. In seinem Bericht hält er fest, die Hilfsorganisation habe den Abbott-Test „trotz der höheren Sensitivität“ des Pasteur-Tests verwendet. 8 Bericht der Arbeitsgruppe des amerikanischen Roten Kreuzes über Test-Kits zum Nachweis von Infektionskrankheiten, 20. Februar 1986. 9 Daily Telegraph (London), 23. Februar 1985.

Le Monde diplomatique vom 12.02.1999, von CATHERINE SMADJA und PHILIPPE FROGUEL