12.02.1999

Der schwindende Charme der EU-Osterweiterung

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Der schwindende Charme der EU-Osterweiterung

UM die legitimen Ansprüche der mittel- und osteuropäischen Länder zu erfüllen, die ihren angestammten Platz auf dem Alten Kontinent wieder einnehmen wollen, fällt den westeuropäischen Politikern keine andere Form der europäischen Architektur ein als die unbegrenzte Erweiterung der Europäischen Union. Damit sind die beitrittswilligen Länder gezwungen, sich ins Korsett der europäischen Gemeinschaftskriterien pressen zu lassen, was der Bevölkerung der einzelnen Länder, der seit fast zehn Jahren schmerzafte formen abverlangt werden, weitere Opfer zumutet. Für ihre neugewonnene Freiheit wird nunmehr der Preis des Wirtschaftsliberalismus fällig.

Von JEAN-YVES POTEL *

Die öffentliche Debatte über eine mögliche Ausdehnung der Europäischen Union auf beitrittswillige Länder Mittel- und Osteuropas (und Zypern) scheint sich seit 1989 auf zwei Fragen zu beschränken: Wann und zu welchem Preis? Seit der Europäische Rat im Juni 1993 in Kopenhagen die EU-Erweiterung konkret in Aussicht gestellt hat, sind sich die Zwölf – und später die Fünfzehn – zwar über die Prinzipien einig geworden, doch über den Beitritts-“Rhythmus“ gibt es nach wie vor offensichtliche Differenzen.

In Wahrheit ähnelt die Debatte einem Schattentheater: Die Regierungen der Bewerberstaaten fordern legitimerweise einen Terminplan, wobei sie die Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedsländern überinterpretieren. Andererseits werden die Kernfragen kaum angeschnitten. Jede Seite ist darauf bedacht, die Auseinandersetzung auf der symbolischen Ebene zu belassen. Die meisten verantwortlichen Politiker der Fünfzehn äußern sich extrem vorsichtig, weil sie zu Hause auf die Gegner der jüngsten EU-Vertiefungs-Maßnahmen (die Verträge von Maastricht und von Amsterdam) Rücksicht nehmen müssen; die Politiker der Bewerberstaaten wiederum murren, weil sie eine klare Perspektive brauchen, um die Opfer zu rechtfertigen, die sie ihren Wählern abverlangen. Diese versprechen sich von EU- Europa, trotz nachlassender Popularität, nach wie vor eine strahlende Zukunft.

Das gleiche Verwirrspiel wird um die Frage der Kosten geführt. Die diametralen Gegensätze zwischen verschiedenen EU- Ländern betreffen nicht die Frage der Erweiterung, sondern der Finanzierung der Union. Es geht um den sogenannten Nettobeitrag, also die Differenz zwischen dem Betrag, den ein Land in das Budget der Gemeinschaft einzahlt, und den Geldern, die es aus dem EU-Haushalt bezieht, vornehmlich in Form von Agrarsubventionen und aus den Strukturfonds.1

Deutschland, dessen Bruttoinlandsprodukt sich auf 26 Prozent des BIP der EU beläuft, bestreitet derzeit 28,2Prozent des europäischen Haushalts, erhält jedoch nur 12,8 Prozent zurück. Es möchte wie die Niederlande, Österreich und Schweden, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, seine Beitragssumme reduzieren. Die ärmsten Länder dagegen lehnen eine Verringerung des Haushaltsgesamtvolumens ab, weil sie die Hauptleidtragenden wären.

Auf der Sitzung des Europäischen Rats im Dezember des vergangenen Jahres in Wien konnten diese Differenzen nicht ausgeräumt werden, das muß nun unbedingt bis zum Ende der deutschen Präsidentschaft am 30. Juni 1999 geschehen. Die zu treffenden Entscheidungen werden erhebliche Auswirkungen auf die Erweiterung haben. Die Vorschläge, die die EU- Kommission unter dem Titel „Agenda 2000“1 vorgelegt hat, sehen ein unverändertes prozentuales Beitragsniveau vor, womit unter der Annahme eines Wachstums des europäischen Bruttoinlandsprodukts im Zeitraum 2000 bis 2006 die notwendigen Mittel aufgebracht werden könnten. Doch was würde aus solchen Kalkulationen bei einer Verkleinerung des Haushaltsvolumens?

Bei diesem ganzen Tauziehen um Daten und Kosten geht es auch um das gesamte europäische Projekt – also um die Frage, welchen Platz die neuen Staaten in seinem Rahmen finden sollen. Michel Foucher, Geograph und derzeitiger Berater des französischen Außenministers Hubert Védrine, warnt vor der „kartographischen Illusion“ und plädiert in einem überzeugenden Essay2 für eine „inklusive Annäherung“, das heißt den bewußten Beitritt dieser Länder zu einem gemeinschaftlichen Projekt. Unter diesem Gesichtspunkt war der Modus legitim, auf den sich der Europäische Rat 1993 in Kopenhagen geeinigt hatte. Er macht jede Erweiterung davon abhängig, daß die neuen Mitglieder drei Arten von Kriterien erfüllen: die Existenz stabiler demokratischer Institutionen, eine funktionstüchtige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, die Verpflichtungen der Europäischen Union einzuhalten, das heißt das einschlägige Gemeinschaftsrecht (in der EU-Sprache: acquis communitaire) zu übernehmen.

Ein Jahr später beschloß der Europäische Rat auf seiner Tagung in Essen eine sogenannte Heranführungsstrategie, die im Rahmen des Phare-Programms mit rund 1 Milliarde Euro jährlich für die zehn Bewerberstaaten finanziert wird.3 Jedes dieser Länder legte dann 1995 ein Weißbuch vor, also eine Bilanz seiner „Vorbereitung zur Integration in den EU-Binnenmarkt“, und im Juli 1997 veröffentlichte die EU-Kommission ihre Einschätzung der Situation in jedem der assoziierten Staaten.

Im Dezember 1997 beschloß der Europäische Rat in Luxemburg eine Doppelstrategie. Zum einen sollten neben Zypern die fünf „fortgeschrittensten“ Kandidaten der sogenannten Reformländer – Polen, die Tschechische Republik, Ungarn, Estland und Slowenien – Verhandlungen mit der Kommission über ihren zeitlich noch nicht genau festgelegten, aber für die nähere Zukunft geplanten Beitritt aufnehmen können. Zum anderen konnten alle zehn Bewerberstaaten – darunter auch die fünf Reformländer – ab 1998 von einer „intensivierten“ Heranführungsstrategie profitieren. Mit anderen Worten: Sie kommen bis einschließlich 2000 in den Genuß von jährlich 1,5 Milliarden und danach bis 2006 von 3 Milliarden Euro als Vorbereitungsprogramm für den EU-Beitritt, also für die Angleichung von Wirtschaft und Verwaltung, für Infrastruktur, Umweltschutz usw. Der Beginn der eigentlichen Beitrittsverhandlungen mit den Ländern der ersten Beitrittsgruppe wurde auf den 31. März 1998 festgelegt.

Wenn die Ungarn oder Polen sagen: „Wir stehen nicht als Fremde vor der Tür, sondern wir sind Europäer seit tausend Jahren“, so ist dies keine Floskel, sondern eine tiefe Überzeugung, die im Nationalbewußtsein aller Länder Mitteleuropas tief verwurzelt ist. Langfristig ist kein europäisches Projekt – im politischen oder ökonomischen Bereich oder auf der Ebene von globaler Sicherheits- und Machtarchitektur – mehr vorstellbar ohne die absehbare Integration dieses Europas. Die Motivation der mittel- und osteuropäischen Bewerberstaaten ist nicht ökonomisch, sondern vor allem politisch und strategisch begründet.

Die Grenzen Europas festzulegen, und sei es nur provisorisch, ist allerdings nicht einfach. Die Entscheidung des Europäischen Rats von Luxemburg, die Grenze der Festung Europa zwischen der Tschechischen Republik und der Slowakei bzw. zwischen Ungarn und Rumänien zu ziehen, hat Befürchtungen geweckt und nationale Gefühle verletzt. So ist die neue tschechische Regierung unter Milos Zeman wiederholt dafür eingetreten, daß die Slowakei zu der ersten Beitrittsgruppe gehört. In diesem Sinne äußerte er sich auch in Bratislava, wo er gleich nach der Regierungsbildung im Sommer 1998 einen Besuch abstattete, und auch in Brüssel. Für Petr Janyska, für Europafragen im tschechischen Außenministerium zuständig, ist dies „eine heikle Frage. Es wird für uns sehr schwierig sein, die gegenwärtig mit der Slowakei bestehende Zollunion aufzugeben oder die Kriterien des Schengener Abkommens über den Personenverkehr auf die Slowakei anzuwenden.“

Solche Fragen beschäftigen auch die Regierung in Budapest: „Alles was uns trennen könnte, geht gegen unsere Interessen“, betont Laszlo Molnár, ungarischer Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten. „Dafür ist unsere Geschichte zu eng verwoben.“ Dabei denkt er vor allem – aber nicht ausschließlich – an die Beziehungen zu den ungarischen Minderheiten in der Slowakei oder in Rumänien. In Bukarest fand im übrigen auf Initiative der rumänischen Regierung im November 1998 ein Treffen der Bewerberländer statt. Ergebnis dieses Treffens war die Bildung eines „ständigen informellen Clubs der Kandidaten, ohne Unterscheidung, ob sie zur ersten oder zur zweiten Beitrittsgruppe gehören“, so Anton Niculescu, rumänischer Staatssekretär für die europäische Integration.

So hat die Entscheidung, eine erste Beitrittsgruppe mit nur fünf Reformstaaten zu benennen, innerhalb von weniger als einem Jahr die Solidarität unter den zehn Bewerbern eher verstärkt. Jedes Land der zweiten Gruppe erfährt inzwischen von einem oder zwei Ländern der ersten Gruppe Unterstützung – Lettland von Estland, Litauen von Polen usw. –, womit auch alte regionale Zusammenschlüsse wiederbelebt werden. Die Gemeinschaft der baltischen Staaten gewinnt in den Augen der polnischen Politiker zunehmend an Bedeutung: als Rahmen für die Kooperation mit Skandinavien, aber auch mit den baltischen Ostseeanrainern sowie den russischen Behörden in Kaliningrad oder Sankt Petersburg. Ebenso soll nach Aussagen der neuen tschechischen Führung das Visegrader Abkommen, das Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn nach 1989 abgeschlossen hatten, das aber infolge des Auseinandergehens von Prag und Bratislava zunächst nicht zum Tragen kam, seine volle Bedeutung wiedergewinnen.

Unter diesem geopolitischen Blickwinkel wird deutlich, daß es bei der Erweiterung auch um die Sicherheit und das Gleichgewicht in Europa geht. Zunächst für den Westen, wo ein Teil der Öffentlichkeit den deutschen Machtzuwachs mit Beunruhigung registriert. Doch darf man auch hier nicht der kartographischen Illusion aufsitzen, denn die Wirtschaft, der Handel und die Bündnisse Deutschlands sind überwiegend nach Westen ausgerichtet und werden es bleiben; und die Gründe, die deutsche Investoren veranlassen, sich dem Osten zuzuwenden, sind wahrlich nicht mit jenen zu vergleichen, die vor 1945 galten, als die Welt noch von Zollgrenzen dominiert wurde.4

Diese Westverankerung könnte sich durch den Beitrag der Kandidatenstaaten zur Sicherheit an der Ostflanke Europas eher noch verstärken, da etliche von ihnen „aufgrund ihrer Lage und nationalen Interessen“, so Michel Foucher, ihrerseits zu „Sicherheitsproduzenten und Schaltstellen für Modernitätstransfer“ werden müssen. Foucher verweist auf das Beispiel Polens, das „gegenüber seinen Nachbarn – Litauen, Weißrußland und vor allem Ukraine, ja sogar gegenüber Rußland, mit dem es durch das Kaliningrader Gebiet eine gemeinsame Grenze hat – eine regelrechte Ostpolitik entwickelt hat“5 . Diese Einschätzung wird auf polnischer Seite von Henryk Szlajfer, Direktor der strategischen Abteilung im Außenministerium, bestätigt: „Wenn Europa sich nicht bemüht, seine Beziehungen zu einer unabhängig gewordenen Ukraine zu stabilisieren, wenn wir, das heißt die Europäische Union und die Bewerberstaaten, nicht gemeinsam eine ernsthafte Regionalpolitik aufbauen, wenn wir die Ukraine vergessen, bleiben unsere anderen Konzepte bloßes Papier.“

Unter diesem geopolitischen Blickwinkel sollten die drei großen Themenbereiche betrachtet werden, die mit der Erweiterung und den dahin führenden Verhandlungen zusammenhängen: die Anpassung an das einschlägige Gemeinschaftsrecht, die wirtschaftlichen Umstrukturierungen und die Entscheidungsmechanismen innerhalb der Union.

Mehr Deregulierung als Normensetzung

DAS „einschlägige Gemeinschaftsrecht“ (acquis communitaire) umfaßt alle Abkommen, Anordnungen, Vorschriften und Direktiven, die im Laufe der vierzigjährigen EU-Geschichte verabschiedet wurden; an diesen Bestand des Gemeinschaftsrechts muß sich jedes neu hinzugekommene Mitglied ebenso halten wie die langjährigen Mitglieder. Dazu gehören auch die Anordnungen bezüglich des Binnenmarkts oder die Abkommen von Maastricht und Amsterdam; Sonderregelungen sind nur in sehr engem Rahmen und für eine Übergangsfrist möglich.

Die Kommission hat das Tausende Seiten umfassende Kompendium dieser Texte in einunddreißig Kapitel gegliedert, was den Vorteil hat, daß bestimmte unerläßliche Reformen in allen Details dargestellt werden. Nicht selten haben sich auch in den „fortgeschrittensten“ Kandidatenländern alte Interessenklüngel oder undemokratische Entscheidungsabläufe der früheren Regime erhalten. Ganz zu schweigen von der quasi „automatischen“ allgemeinen Deregulierung, die mit dem Zusammenbruch der alten Verwaltungsstrukturen einhergeht und den raffgierigen Unternehmern sehr entgegenkommt. Das gilt für Bereiche wie die Geldzirkulation und ihre Kontrolle, oder das Arbeitsrecht und die soziale Absicherung, die Organisation der Agrarmärkte und die Regelungen zur Anwendung von Pestiziden oder Düngemitteln, die Umweltschutznormen und den Verbraucherschutz, die Regionalpolitik und die Organisation der Justiz.

In dieser Hinsicht könnte die mit der Kommission vereinbarte „Beitrittspartnerschaft“ ein wirkungsvolles Instrument zur Festigung der Demokratie in den betroffenen Staaten abgeben. Aber sie könnte auch noch anderen Zielen dienen. So wäre die Kommission, die in Sachen Liberalisierung der Märkte (Umstrukturierungen, Wettbewerb, staatliche Beihilfen, Lizenzierungs- und Normierungsverfahren) überaus wachsam ist, gut beraten, wenn sie sich stärker um Verletzungen des Arbeitsrechts und das von den Unternehmen praktizierte Sozialdumping kümmern würde.

Der beunruhigend hohe Anteil, den die Einkünfte aus der Schattenwirtschaft am Einkommen der Bevölkerung ausmachen, ist insgesamt ein deutliches Indiz für die Kluft zwischen den gesetzlichen Vorgaben und der Praxis: In Mitteleuropa stammen noch immer 50 bis 60 Prozent der Einnahmen aus der Schattenwirtschaft.6

Die Übernahme des acquis communitaire dient unter diesen Umständen im Effekt eher der Deregulierung als der Normensetzung. Dies gilt besonders für die Wettbewerbsregelungen, die etwa die öffentlichen Subventionen für Unternehmen begrenzen oder die vollständige Liberalisierung von Sektoren verlangen, die als sensibel oder strategisch bedeutsam gelten (Telekommunikation, Energie, Banken usw.). Die Übernahme des EU-Gemeinschaftsrechts wird so zu einem zweifelhaften Instrument zur Öffnung der mittel- und osteuropäischen Märkte für ausländisches Kapital, dem die regionale Entwicklung, wie man leicht ahnen kann, nicht unbedingt am Herzen liegt.

So besehen lassen sich die Vorbehalte der Kandidatenstaaten besser verstehen. Zwar beteuern die mittel- und osteuropäischen Verhandlungspartner unermüdlich ihre Absicht, das Gemeinschaftsrecht als Ganzes zu akzeptieren, doch mit dem Nahen konkreter Umsetzungstermine äußern sie sich vorsichtiger. So forderten etwa Polen und Ungarn Ausnahmeregelungen für die Telekommunikation; speziell Ungarn wehrt sich gegen die völlige Freigabe des öffentlichen Fernsprechnetzes. Die Direktive „Fernsehen ohne Grenzen“, die Quoten für nationale und europäische Programme festlegt, ist wiederum für Slowenien und die Tschechische Republik ein Problem, weil sie bereits Verträge mit amerikanischen Tele-Giganten abgeschlossen haben, weshalb sie hier eine Übergangsregelung fordern. Dabei wurden die großen Aufgabenbereiche bislang noch gar nicht angegangen: Sowohl die Umstrukturierung der Schwerindustrie (Ungarn hat bereits um eine Sonderregelung in Sachen Kohle und Stahl nachgesucht) als auch die Diskussion um die Agrarwirtschaft werden sicher Anlaß zu heftigen Debatten geben. Es ist wenig wahrscheinlich, daß Europa als Argument ausreicht, um den Menschen „Reformen“ aufzuzwingen, die sie bisher abgelehnt haben. Und es wäre unverantwortlich, Umstrukturierungen ohne Abfederungsmaßnahmen vorzunehmen und auf Verhandlungen und öffentliche Debatten zu verzichten, und dies alles mit dem Argument, daß es sich um eine Anpassung an EU-Bestimmungen handele.

Die aus dem acquis communitaire folgenden Liberalisierungszwänge machen eine soziale und politische Debatte erforderlich, die bei einem solch bedeutsamen Erweiterungsprozeß einfach nötig ist, und zwar im Osten wie im Westen. Im Westen gibt es zahlreiche Vorbehalte und Befürchtungen – Sozialdumping, Industrie- Verlagerungen, wachsende Konkurrenz usw. Und im Osten fühlt sich die Gesellschaft ausgeschlossen: Die Bewerberstaaten „wurden von Anfang an in eine Position der Minderwertigkeit und des Randdaseins gedrängt“, meint Marcin Frybes. „Es steht ihnen nicht zu, über das künftige Europa zu diskutieren. Sie müssen sich zuerst anpassen, die Normen einhalten, das Gemeinschaftsrecht übernehmen und sich bemühen, die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Sie müssen ständig ihre Fähigkeit beweisen, zu Unionsmitgliedern zu werden. Und so leiden sie darunter, nicht als Länder behandelt zu werden, die eine ausgeprägte Persönlichkeit haben und in der Lage sind, zu den Debatten über Europa einen Beitrag zu leisten.“7

Der zum Ritual gewordene Verweis auf das „europäische Sozialmodell“ in den öffentlichen Verlautbarungen wird diesen Mangel an Auseinandersetzung nicht ersetzen und die Ängste nicht ausräumen, zumal alle wissen, daß dieses Modell in der Krise steckt. Der Widerstand gegen eine EU-Integration in Mitteleuropa beginnt sich genau auf dieser Basis zu formieren. Der wachsende Zulauf zu den konservativen und nationalistischen Strömungen basiert inzwischen nicht mehr auf primär ethnozentrischen politischen Auffassungen, sondern auf Sozialpopulismus. Wenn in den kommenden Monaten und Jahren die Bürger, Politiker und gesellschaftlichen Akteure nicht stärker in die europäische Debatte einbezogen werden, könnten diese Strömungen das wohlfeile ideologische Rüstzeug für radikale souveränistische Bewegungen liefern.8

Es steht einiges auf dem Spiel in den Ländern, die gerade erst ihre nationale Unabhängigkeit wiedererlangt haben und feststellen, daß seit der Unterzeichnung des Amsterdamer Abkommens die Reform der Entscheidungsmechanismen innerhalb der EU blockiert scheint. Alle räumen ein, daß in einem erweiterten Europa, das sich nicht selbst lähmen will, die Zahl der Entscheidungen nach dem Einstimmigkeitsprinzip verringert werden muß, wenn auch in den meisten Angelegenheiten von strategischer Bedeutung die Einstimmigkeit die Regel bleiben wird. So machen Frankreich, Belgien und Italien jede Erweiterung von der Reform dieser Entscheidungsmechanismen abhängig. Pierre Moscovici, der französische Minister für Europäische Angelegenheiten, macht dies bei jeder Gelegenheit klar. Die Kandidatenstaaten, vor allem Polen, sehen darin (zu Unrecht) einen Vorwand, den Beitrittstermin hinauszuschieben, und fordern deshalb, an der Diskussion der Verfahrensreformen beteiligt zu werden.

Lösungen für diese heiklen verfahrenstechnischen Prozesse müssen in erster Linie aus dem europäischen Projekt selbst erwachsen. Ausnahmeregelungen werden unvermeidlich sein, um nationale Produktionszweige zu schützen, doch darf darunter der Zusammenhalt des Ganzen nicht leiden. Ein solches Vorgehen wäre nicht neu. Die Übergangszeiträume müssen dabei einerseits der Vertiefung des Integrationsprozesses und andererseits dem Rhythmus der jeweiligen nationalen Entwicklung angepaßt werden. Gegenwärtig klafft hier eine große Schere. Die Festsetzung der Höchstgrenze für Transferleistungen aus der EU auf 2 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts hat zwar haushaltspolitische Gründe, aber sie erlaubt es auch, die Souveränität der einzelnen Staaten zu respektieren und zwischen ihnen ein Gleichgewicht zu bewahren.

„Es muß schnell gehen“, sagen die Beitrittskandidaten. Gewiß, aber nicht zu jedweder Bedingung. Wenn Europa sein Gebiet erweitert – und es wird die größte Erweiterung seit den Römischen Verträgen sein –, muß es zugleich seinen Zusammenhalt bewahren. Europa kann gestärkt werden und sich erneut als ein offenes Zentrum des Wohlstands erweisen – trotz der offiziell 18 Millionen Arbeitslosen und der rund 50 Millionen Armen –, aber es droht auch nach außen zu einer hermetischen Festung und nach innen zu einer Falle für die Ärmsten zu werden. Solche Befürchtungen werden bei denen, die noch nicht dazugehören, durch die Tatsache ausgelöst, daß derzeit keinerlei Debatte darüber stattfindet. Ein bulgarischer Politologe, Antony Todorov, äußert den „vielleicht wenig fundierten, aber nur schwer loszuwerdenden“ Eindruck, „daß man uns für neue Barbaren aus dem Osten hält, die versuchen, in die Festung des westlichen Imperiums einzudringen“9 .

Es wird auch von den Verhandlungsergebnissen abhängen, ob die wirtschaftsliberale Politik des letzten Jahrzehnts durch die Übernahme des acquis gemildert wird oder nicht. Jedes Bewerberland muß der Europäischen Union beitreten und zugleich sein eigenes wirtschaftliches und kulturelles Potential bewahren und entfalten können. Andernfalls würde entstehen, was bereits im Fall der fünf ostdeutschen Bundesländer eingetreten ist: ein Flickenteppich Europa, der einerseits aus wohlhabenden Ländern oder Regionen besteht, andererseits aus benachteiligten, ausgebeuteten und Gebieten, die der Kontrolle der reichen Regionen unterliegen und wo sich Armut und Unterentwicklung konzentrieren. Eine solche Zerklüftung des EU-Raumes und ein weiteres Anwachsen der Ungleichheiten würden das Projekt Europa als Ganzes ernsthaft gefährden.

dt. Eveline Passet

* Dozent am Institut d‘études européennes der Universität Paris VIII, Verfasser von „Les Cent Portes de l‘Europe centrale et orientale“, Paris (Editions de l‘Atelier) 1998.

Fußnoten: 1 Siehe Jacques Berthelot, „Irrungen und Wirrungen der europäischen Agrarpolitik“, Le Monde diplomatique, November 1998. 2 Michel Foucher, „La République européenne“, Paris (Belin) 1998. 3 „Agenda 2000“, Bulletin der EU, Anhang 5/97. Beitrittskandidaten sind Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Rumänien und Bulgarien. Zypern, das bereits in der ersten Runde der Beitrittverhandlungen dabei ist, hat keinen Anspruch auf Hilfsprogramme wie Phare, weil es wohlhabender ist als manche EU-Staaten und die Bedingungen des acquis communitaire bereits weitgehend erfüllt. 4 Siehe François Bafoil, „Les investissements directs allemands en Europe centrale et orientale. Les limites d'un engagement“, Allemagne d'aujourd'hui, 143, Januar-März 1998; s. a. Stephan Martens, „La politique à l'Est de la RFA depuis 1945“, Paris (PUF) 1998. 5 Michel Foucher, a. a. O. 6 Nach einer Untersuchung der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik betrugen die formellen Einnahmen am Gesamteinkommen der Privathaushalte 1998: 63 Prozent in Slowenien, 58 Prozent in der Tschechischen Republik, 53 Prozent in der Slowakei, 52 Prozent in Polen, 49 Prozent in Ungarn, 17 Prozent in Bulgarien und 16 Prozent in Rumänien. Vgl. „Political Change and Welfare Development in Central and Eastern Europe (Mass Public Opinion 1991-1998)“, Wien, Juli 1998. 7 Marcin Frybes (Hg.), „Une nouvelle Europe centrale“, Paris (La Découverte) 1998. 8 Siehe Jean-Yves Potel, „Les recompositions politiques“, in „Une Nouvelle Europe centrale“, a. a. O. 9 Antony Todorov, „Une forteresse imprenable“, Diagonales Est-Ouest, Nr. 56, Dezember 1998.

Le Monde diplomatique vom 12.02.1999, von JEAN-YVES POTEL