12.03.1999

Die Perser von Chiapas

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Die Perser von Chiapas

Einige Wochen bevor dem portugiesischen Schriftsteller José Saramago der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, begab er sich zusammen mit dem brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado nach Chiapas, um „den Menschen zuzuhören“ und Zeugnis von deren Leiden abzulegen. Es war nicht der erste Besuch Saramagos in Chiapas; seit dem fürchterlichen Massaker in Acteal im Dezember 1997 wird er nicht müde, das Unrecht zu geißeln, das der indigenen Bevölkerung dieses mexikanischen Bundesstaates angetan wid. Dabei sparte er auch nicht mit Kritik an den mexikanischen Behörden, die sich nach wie vor weigern, einer politischen Lösung der Konflikte Priorität einzuräumen. Ein Drittel der mexikanischen Armee ist in Chiapas stationiert. Ein Ende der Gewalt ist nicht abzusehen.

Von JOSÉ SARAMAGO *

GESPIELT naiv und zugleich unverhohlen sarkastisch fragte 1721 Charles-Louis de Secondat: „Perser? Wie kann ein Mensch nur Perser sein?“ Obwohl Baron de Montesquieu seine berühmten „Lettres Persanes“ vor nunmehr fast dreihundert Jahre schrieb, ist es uns bis auf den heutigen Tag nicht gelungen, eine intelligente Antwort auf die entscheidende Frage im Buch der Geschichte über die Beziehungen zwischen Menschen zu finden. Wir verstehen in der Tat nach wie vor nicht, wie jemand überhaupt „Perser“ hat sein können, und obendrein, als sei dies nicht schon ungeheuerlich genug, dies heutzutage immer noch sein will. Denn die Welt inszeniert ein grandioses Schauspiel, um uns davon zu überzeugen, daß „westlich“ sein das einzig Wünschens- und Erstrebenswerte sei, „westlich“ in einem sehr verallgemeinernden und harmonisierenden Sinn, im Hinblick auf Mentalität, Verhalten, Geschmack, Gewohnheiten, Interessen, Neigungen, Ideen... Zumindest aber sollten die vielen, die in diese erhabenen Höhen nicht haben aufsteigen können, wenigstens halbwegs „verwestlicht“ sein, entweder kraft Überzeugung, oder notfalls auch, etwas radikaler, durch überzeugende Kraft.

„Perser“ sein bedeutet fremd sein, verschieden sein, kurz: Der Perser ist der Andere. Die simple Existenz des „Persers“ genügt, die Mechanismen der Institutionen in Frage zu stellen und durcheinanderzubringen. Im Extremfall geht der „Perser“ sogar so weit und stört die souveräne Ruhe der Macht, auf die alle Regierungen der Welt äußerst bedacht sind. „Perser“ waren und sind die Indianer Brasiliens (wo heute die Landlosen eine andere Art „Perser“ verkörpern), „Perser“ waren, und sind es nur noch in geringem Maße, die Indianer der Vereinigten Staaten; die Inkas, Mayas und Azteken waren „Perser“ ihrer Zeit; und „Perser“ waren und sind ihre Nachfahren, wo auch immer sie gelebt haben und noch leben. Es gibt „Perser“ in Guatemala, in Bolivien, in Kolumbien und Peru. Auch im leidgeprüften Mexiko gibt es ihrer zuhauf. Dort fing Sebastião Salgado mit seiner unerbittlichen Kamera jene erschütternden und anrührenden Bilder ein, die uns so unmittelbar ansprachen. Uns fragten: „Wie ist es nur möglich, daß euch, euch, den ,Westlern' und ,Verwestlichten' aus Nord und Süd, aus Ost und West, kultiviert, zivilisiert, perfekt wie ihr seid, das bißchen Intelligenz und die nötige Sensibilität fehlen, uns zu begreifen, uns, die ,Perser' vom Chiapas?“

Darauf käme es wirklich an: aufs Begreifen. Aufs Begreifen dieser Augen, dieser ernsten Gesichter, der Selbstverständlichkeit dieses Zusammenstehens, dieses gemeinsamen Fühlens und Denkens, dieser gemeinsam geweinten Tränen und dieses gemeinsam gelächelten Lachens, aufs Begreifen der Hände des einzigen Überlebenden eines Gemetzels, wie schützende Schwingen über die Häupter seiner Kinder gehalten, aufs Begreifen der zahllosen Lebenden und Toten, des vergossenen Bluts, der gewonnenen Hoffnung, des Schweigens derer, die Jahrhunderte brauchten, um für Achtung und Gerechtigkeit einzutreten, und den angestauten Zorn derer, die endlich des Wartens müde geworden sind.

Als vor sechs Jahren Änderungen der mexikanischen Verfassung – in Übereinstimmung mit der neoliberalen, am Ausland orientierten und von der Regierung erbarmungslos durchgesetzten „wirtschaftlichen Revolution“ – der Landverteilung ein jähes Ende setzten und den Bauern jede Möglichkeit nahmen, ein eigenes Stück Land zu bebauen, glaubten die Indianer, sie könnten ihre historischen Rechte verteidigen (oder einfach ihre Gewohnheitsrechte, sofern man der Auffassung ist, die Indianergemeinden nähmen in der Geschichte Mexikos keinen Platz ein). Sie organisierten sich in Gesellschaften bürgerlichen Rechts, die sich insbesondere durch die strikte Ablehnung jeglicher Form von Gewalt auszeichneten und es immer noch tun, angefangen bei der, die die ihre sein könnte. Diese Gesellschaften hatten von Anfang an die Unterstützung der katholischen Kirche, was ihnen wenig half: Ihre Führer und Vertreter wanderten einer nach dem anderen hinter Gitter, und die systematische, erbarmungslose und brutale Verfolgung seitens des Staates und der Großgrundbesitzer nahm zu, die sich zur Verteidigung ihrer jeweiligen Interessen und Privilegien zusammengetan hatten und die Indianer gewaltsam vom Land ihrer Väter vertrieben. Berge und Regenwald waren oft die letzte Zuflucht. Dort aber, im dichten Nebel der Höhen und Täler, sollte der Keim der Rebellion aufgehen.

*Die Indianer von Chiapas sind nicht die einzigen Erniedrigten und Verachteten dieser Welt: Überall und zu allen Zeiten, unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Sitten, Kultur und Glaube hat der Mensch, der wir uns rühmen zu sein, es stets verstanden, jene zu erniedrigen und zu beleidigen, die er mit trauriger Ironie weiterhin seinesgleichen nennt. Wir haben die Grausamkeit, die Folter und die Verachtung erfunden, die es in der Natur nicht gibt. Wir haben unseren Verstand dazu mißbraucht, die Menschheit ein für allemal in Klassen zu unterteilen, in Reiche und Arme, Herren und Sklaven, Starke und Schwache, Wissende und Unwissende, und haben diese Unterteilung immer weiter fortgeführt, um die Motive für Verachtung, Erniedrigung und Beleidigung nach Belieben variieren und vervielfältigen zu können.

In Chiapas aber ist es denen, die in Mexiko am meisten unter Verachtung und Erniedrigung litten, in den letzten Jahren gelungen, ihre Würde und Ehre wiederherzustellen, die sie niemals wirklich verloren hatten. In Chiapas ging auch der schwere Grabstein einer Jahrhunderte alten Unterdrückung zu Bruch, und eine lange Reihe neuer, anderer, lebendiger Menschen löste die endlose Prozession der Ermordeten ab. Diese Männer, Frauen und Kinder fordern heute nichts anderes, als daß man ihre Rechte achtet, ihre Rechte nicht nur als zur Menschheit gehörende menschliche Wesen, sondern auch als Indianer, die sie bleiben wollen. Sie haben sich mit einigen Waffen in der Hand erhoben, doch vor allem mit jener moralischen Kraft, die einzig Ehrgefühl und Würde in der Seele des Menschen hervorzubringen und zu nähren vermögen, auch wenn der Körper Hunger und Not leidet.

Auf der anderen Seite des Hochlandes von Chiapas steht nicht nur die mexikanische Regierung, sondern die gesamte Welt. So sehr man auch versuchte, das Problem Chiapas auf einen rein lokalen Konflikt zu reduzieren, dessen Lösung einzig innerhalb des strikten Rahmens der Anwendung nationaler Gesetze zu finden sei (je nach Bedarf veränder- und formbar, wie die Strategien und Taktiken der wirtschaftlichen und der ihr dienenden politischen Macht einmal mehr zeigten), so geht, was sich in den Bergen von Chiapas und im lacandonischen Regenwald abspielt, weit über die mexikanischen Grenzen hinaus, um das Herz jenes Teils der Menschheit zu berühren, der den Traum, die Hoffnung und die schlichte Forderung nach Gerechtigkeit für alle noch nicht aufgegeben hat. Die Forderung nach „einer Welt“, wie jener in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche und vorbildliche Mensch schrieb, den wir unter dem Namen Subcomandante Insurgente Marcos kennen, „in der viele Welten Platz finden, eine Welt, die zugleich eins und vielfältig sein möge“, eine Welt, erlaube ich mir hinzuzufügen, die ein für allemal jedem das unantastbare Recht zugestehen möge, so lange „Perser“ zu sein, wie er es für richtig hält, und allein seinen eigenen Beweggründen zu folgen.

Das Gebirgsmassiv von Chiapas gehört zweifellos zu den wundervollsten Landschaften, die mein Auge je geschaut hat, aber es ist auch eine Region, in der Gewalt und protegiertes Verbrechen zu Hause sind. Tausende Indianer wurden aufgrund des „unverzeihlichen Vergehens“, stille oder erklärte Sympathisanten der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) zu sein, aus ihren Häusern und von ihrem Land vertrieben und in improvisierten Barackenlagern zusammengepfercht, wo es ihnen an Nahrung fehlt und das wenige Wasser fast immer verseucht ist, wo Krankheiten wie Tuberkulose, Cholera, Masern, Tetanus, Lungenentzündung, Typhus und Malaria Erwachsene und Kinder dahinraffen. Behörden und staatliches Gesundheitswesen stehen dem allem gleichgültig gegenüber. Rund sechzigtausend Soldaten, nicht mehr und nicht weniger als ein Drittel des mexikanischen Heeres, halten derzeit den Staat Chiapas unter dem Vorwand besetzt, die öffentliche Ordnung zu verteidigen und zu sichern. Die Fakten allerdings widerlegen diese Rechtfertigung. Wenn das mexikanische Heer einen Teil der Indianer schützt, und sie nicht nur schützt, sondern auch bewaffnet, ausbildet, trainiert und ausrüstet, dann sind diese Indianer, die im allgemeinen dem seit siebzig Jahren ohne Unterbrechung praktisch absolute Macht ausübenden Partido Revolucionário Institutional (PRI) unterworfen oder von ihm abhängig sind, nicht von ungefähr diejenigen, aus denen sich die paramilitärischen Gruppierungen rekrutieren, die nur ein Ziel haben, nämlich ihre eigenen Brüder auf widerwärtigste Weise zu unterdücken, zu bekämpfen, zu schänden und zu morden.

Acteal1 war eine weitere Episode in der furchtbaren Tragödie, die 1492 mit den Invasionen und der Conquista ihren Anfang nahm. Im Laufe von fünfhundert Jahren waren die Ureinwohner Iberoamerikas (ich wähle bewußt diese Bezeichnung, da ich den Portugiesen die Mitschuld nicht absprechen will, ebensowenig wie ihren Nachfolgern, den Brasilianern, die den Genozid fortführten und dafür sorgten, daß die drei bis vier Millionen Indianer, die in Brasilien zur Zeit der Entdeckungen lebten, 1980 auf nur wenig mehr als zweihunderttausend zusammengeschrumpft waren), in dieser Zeitspanne also waren jene Ureinwohner sozusagen von einer Hand in die andere übergegangen, von der Hand des Soldaten, der ihnen nach dem Leben trachtete, in die Hand des Grundherren, der sie ausbeutete und dabei wiederum die Kirche zur Hand hatte. Die ersetzte zwar die einen Götter durch andere, vermochte es aber letztlich nicht, den Geist der Indianer zu ändern.

*Als nach dem Gemetzel von Acteal im Radio zum ersten Mal „Wir werden siegen“ zu vernehmen war, hätte, wer nicht Bescheid wußte, denken können, daß sich hier die Mörder anmaßend und provokativ zu Wort meldeten. Weit gefehlt: Diese drei Worte waren als Aufmunterung gedacht, sollten Mut machen und die indianischen Gemeinden über den Äther wie in einer Umarmung vereinen. Während sie ihre Toten beweinten, weitere 45 in einer fünfhundert Jahre alten Liste, erhoben die Indianer in ihren Gemeinden stoisch das Haupt und sagten einander: „Wir werden weiter siegen“. Sie hatten wirklich einen Sieg errungen, einen großen, den größten aller Siege, da es ihnen auf diese Weise gelungen war, Erniedrigung und Beleidigung, Verachtung, Grausamkeit und Folter zu überleben. Und dieser Sieg ist der Sieg des Geistes.

Der große uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano berichtet, daß Rafael Guillén2 , bevor aus ihm Subcomandante Marcos wurde, nach Chiapas kam und zu den Indianern sprach, die ihn jedoch nicht verstanden. „Daraufhin zog er sich in den Nebel zurück, lernte zu hören und fand die richtige Sprache.“ Jener Nebel, der den Blick verhängt, ist zugleich ein Fenster, das sich zur Welt des anderen hin öffnet, der Welt des Indianers, der Welt des „Persers“... Schauen wir in die Stille und lernen wir zu hören, dann vielleicht sind wir endlich fähig zu begreifen.

Aus dem Portugiesischen von Ines Koebel

Fußnoten: 1 Massaker am 22. Dezember 1997 im chiapanekischen Acteal, bei dem 45 als zapatistische Sympathisanten verdächtigte Indios, in der großen Mehrheit Frauen und Kinder, ermordet wurden. 2 Gemäß einer Erklärung des mexikanischen Innenministeriums vom 9. Februar 1995 soll Rafael Sebastián Guillén, 1957 in Tampico geboren, identisch mit dem „Subcomandante Marcos“ sein.

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von JOSÉ SARAMAGO