12.03.1999

Teure Ersatzteile aus der Biotechnologie

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Teure Ersatzteile aus der Biotechnologie

Die Entwicklung im Bereich der Biotechnologie eröffnet ständig neue Möglichkeiten, und mit diesen wächst im Gesundheitswesen die Gefahr einer Apartheidpolitik. Die Vereinigten Staaten wollen die Forschung an menschlichen Embryonenzellen fortan mit öffentlichen Mitteln fördern. Aber nicht allein die wissenschaftliche Instrumentalisierung dieser Zellen ist problematisch; hinter diesem Forschungsgebiet verbergen sich zahlreiche ökonomische und soziale Implikationen.

Von JEAN-PIERRE PAPART, PHILIPPE CASTONAY und DOMINIQUE FROIDEVAUX *

ZUM Ende des Jahrhunderts sind diejenigen, die am Wirtschaftssystem partizipieren, also der zahlungskräftige Teil der Menschheit, praktisch mit allen Industrieprodukten der Warenwelt versorgt, und niemand träumt heute mehr davon, für eine große Mehrheit der Menschen die Nachfrage anzukurbeln, denn es ist offensichtlich, daß eine Universalisierung des westlichen Konsumstils die Umwelt in solchem Ausmaße zerstören würde, daß selbst für die privilegierte Minderheit jede Lebensqualität vernichtet würde.

Für die Führungsetagen der Firmen geht es folglich heute um die Schaffung eines neuen Angebotes. Alles weist darauf hin, daß dieses weniger in den Informations- denn in den Biotechnologien zu finden ist. Die Gesundheit könnte das Handelsprodukt der Zukunft werden.

Das neue Gesundheitsparadigma, so wie es der bisherige Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Hiroshi Nakajima, als wünschenswert formuliert hat, versteht sich wie folgt: Die Gesundheit muß von der Peripherie ins Zentrum der Wirtschaft gerückt werden.1 Während sie in den vergangenen dreißig Jahren die Reparaturwerkstatt des menschlichen Produktionsapparats war, soll sie nun zur vollberechtigten Handelsware avancieren und zum Konsumgut werden.

Gegenwärtig vollzieht sich in der Biotechnologie ein quantitativer wie qualitativer Sprung, der Menschen, die an schweren Krankheiten (wie Diabetes, Mukoviszidose, Krebs, Herzkreislaufbeschwerden, Multipler Sklerose usw.) leiden, vielfach eine Besserung der Symptome ermöglicht. Bis vor zwanzig Jahren etwa wurde das Insulin zur Behandlung der Diabetes aus der Bauchspeicheldrüse von Schweinen und Rindern gewonnen; therapeutisch bestand dabei die Gefahr, daß der Patient irgendwann immun wurde. In den siebziger Jahren entwickelten die Forscher transgene Bakterien mit eingeschleuster humaner DNS, die ein Insulin produzieren können, das dem menschlichen verwandt ist. Inzwischen kann man auch mit transgener Schafs- und Rindermilch den Faktor IX2 für Bluter herstellen, und gewiß wird es bald möglich sein, mit im Labor hergestellten monoklonalen Antikörpern bestimmte Krebserkrankungen erfolgreich zu behandeln.

Weitere Anwendungsgebiete der Biotechnologie finden sich heute auf dem Gebiet der künstlichen Fortpflanzung. Immer mehr unfruchtbare Paare sind durch die Medizin heute in der Lage, Kinder zu bekommen, ohne daß die Sterilität als solche behoben wird. Und ein Leukämiekranker, der für die notwendige Knochenmarkstransplantation keinen passenden Spender findet, kann sich in naher Zukunft mit einem Ovozyt klonen, dessen Material gegen sein eigenes genetisches Material ausgetauscht wird. Schon nach wenigen Tagen wird der aus dem geklonten Ovozyt entwickelte Embryo die für die Transplantation notwendigen Zellstämme liefern können.3

Am 19. Januar dieses Jahres gab der Direktor des amerikanischen Gesundheitsinstituts (NIH) die Entscheidung bekannt, daß die US-Regierung öffentliche Gelder für die Forschung an menschlichen Embryozellen bereitstellen wird, was die Diskussion über die Frage, ob solche Forschungen rechtmäßig sind, in den USA wie in Europa erneut angefacht hat.4

Auch könnte demnächst bei der Geburt eines Kindes seiner Nabelschnur eine Probe entnommen und in einer „Nabelschnurbank“ aufbewahrt werden, so daß stets hämotopoetische Stammzellen vorhanden wären, die im Falle eines späteren Austauschs des Rückenmarks den therapeutischen Erfolg sichern würden.

Solche Entwicklungen erwecken – berechtigte – Hoffnungen und beunruhigen zugleich: Wird man es auf lange Sicht, im Rahmen einer extremen biologischen Absicherung, noch wagen, Kinder zu bekommen, ohne sich ganz und gar der Wissenschaft zu überantworten, welche dann darüber entscheidet, ob das genetische Material auf der Höhe dessen ist, was sich als Norm für die Produktion von Kindern herausgebildet hat? Und was noch gefährlicher ist: Welcher Platz wird eine solche Gesellschaft noch für Risiko und kollektives Engagement reservieren? Wird „sein Leben geben“ etwas sein, das aus dem Register der menschlichen Freiheit völlig verschwindet?

Eine andere Gefahr liegt in der Vergrößerung der Ungleichheiten im Verhältnis zu Leben und Tod. Zumindest in den wirtschaftlich, aber auch in den sozial hochentwickelten Ländern dürften die oben erwähnten biotechnologischen Neuerungen künftig all jenen zur Verfügung stehen, die sozialversicherungsberechtigt sind. Doch die Allerreichsten werden sich demnächst gar eine auf die eigene Person zugeschnittene Prognose- und Präventivmedizin leisten können, die sie biologisch quasi zum Selbstversorger macht, so daß sie der menschlichen Solidarität nicht mehr bedürfen. Gegenwärtig ist jemand, der aufgrund einer Niereninsuffizienz eine Spenderniere benötigt, noch auf diese Solidarität angewiesen, das heißt, auf ein Organ, das keine gewöhnliche Handelsware ist.6 In Zukunft könnte manch einer in transgene Tiere oder in geklonte Humanoide7 investieren, um im Falle einer Transplantation jede Organabstoßung oder eine mögliche Übertragung von tierischen Krankheitserregern auszuschließen.8

Derart persönlich zugeschnittene „Gesundheitsprodukte“ werden selbstverständlich im Rahmen eines durchschnittlichen Gesundheitsbudgets nicht erschwinglich sein. Um so notwendiger ist es, will man die Rentabilität dieser biotechnologischen Spitzenprodukte sicherstellen und einen Markt für sie schaffen, daß ein kleiner Teil der Gesellschaft demnächst zehn-, ja vielleicht hundertmal mehr investieren kann, daß also der gesellschaftlich produzierte Reichtum in entsprechender Weise umverteilt wird: es bedarf einer größeren Anzahl von Hochverdienenden, was demnächst auf Kosten der Mittelschicht gehen dürfte. Dieser Prozeß steht allerdings noch aus.

Gewiß, man kann sich vorstellen, daß mittel- oder langfristig die schrittweise Taylorisierung der biotechnologischen Produktion eine ganz neue Mittelschicht in den Genuß dieser Produkte bringen wird. Aber die nahe Zukunft hält eine ungeheure Vergrößerung der Ungleichheiten bereit, und zwar nicht nur der ökonomischen, sondern immer mehr auch der gesundheitlichen. Gerade in puncto Lebenserwartung dürfte die Kluft zwischen Reich und Arm sich drastisch vertiefen.

Auch die Länder der Dritten Welt wurden bei all diesen Plänen nicht vergessen, auch wenn man ihnen eine veränderte Rolle zugedacht hat. Die Rohstoffpreise sind gesunken, und die Nachfrage nach Billigarbeitskräften aus dem Süden ist beschränkt. Worauf man es in Zukunft abgesehen haben wird, sind die Organe der Bewohner und das genetische Material der Pflanzen, welche die dortige Bevölkerung durch ihre Arbeit und Kenntnis jahrhundertelang geschützt und kultiviert hat. Das neue Nord-Süd-Verhältnis ist also eines der Biosklaverei und Biopiraterie.

Um das Leben völlig zur Ware zu machen, tritt die Marktideologie mit großem Getöse auf den Plan. Der Markt sei das Ziel jedes ökonomischen Handelns, ja jedes Handelns schlechthin. Der Markt, geschaffen, um Angebot und Nachfrage, also Ausdruck und Befriedigung von Grundbedürfnissen zu regeln, entäußert sich seiner operativen Funktion und wird zu einem Projekt ideologischer Beherrschung: Nichts, weder Mensch noch Ding, darf sich der Marktgängigkeit widersetzen.

Es ist heute also dringend geboten, auf allen Ebenen für eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu kämpfen, die die Gesundheit der Menschen, und zwar aller Menschen, respektiert, oder anders gesagt, gegen die derzeitige Zunahme der Ungleichheiten und gegen die Vermarktung des Lebendigen. Für eine gute Gesundheit brauchen die Menschen den gleichberechtigten Zugang zu dem, was in der Gesellschaft, in der sie leben, die soziale Bindung ausmacht.9 Sollte die neue Generaldirektorin der WHO, Gro Harlem Brundtland, nach einem Slogan von universeller Gültigkeit suchen, so könnte man ihr vorschlagen: „Gesundheit ist Gleichheit.“

dt. Eveline Passet

* Jean-Pierre Papart und Philippe Chastonay sind Fachärzte für öffentliche Gesundheit am Institut für soziale und präventive Medizin der Universität Genf. Dominique Froidevaux ist in der Dritte-Welt- Kommission der Katholischen Kirche von Genf tätig.

Fußnoten: 1 Hiroshi Nakajima, „A Paradigm for Health“. Introduction by the Director-General“, 21. Januar 1992 (ein nicht publiziertes Papier der WHO). 2 Der Faktor IX ist ein Protein, das zur Blutgerinnung beiträgt. 3 Dieses Beispiel wurde dem Artikel „Comment ça va, Dolly?“ von Olivier Postel-Vinay und Annette Millet entnommen, La Recherche, Paris, Nr. 297, April 1997. 4 Le Monde, 22. Januar 1999. 5 Hämotopoetische Stammzellen werden benötigt für die Herstellung von roten Blutkörperchen (die für den Sauerstofftransport zuständig sind), von weißen Blutkörperchen (die für die Abwehr des Körpers wichtig sind) und von Blutplättchen (die teilweise für die Blutgerinnung vonnöten sind). 6 Es ist seit längerem bekannt, daß in Indien und Ägypten mit Organen gehandelt wird. In jüngster Zeit wurde publik, daß die chinesische Mafia Organe von Hingerichteten auf dem amerikanischen Markt vertreibt. 7 Also ein humaner Klon, dessen Hirnentwicklung durch die Hemmung der für die Entwicklung bestimmter Teile des zentralen Nervensystems zuständigen Gene unterbunden wurde. 8 Bei der Transplantation einer Schweine- oder Pavianleber besteht die Gefahr, daß mit dem Organ ein Virus übertragen wird, dessen Träger das Tier ist und das, während es bei ihm keine Krankheit auslöst, für den Menschen gefährlich ist. 9 Durch zahlreiche epidemiologische Untersuchungen ist erwiesen, daß soziale Gleichheit einen entscheidenden Gesundheitsfaktor darstellt. Hier sei stellvertretend nur die von Marmot und seinem Team in Großbritannien durchgeführte White Hall Study erwähnt.

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von JEAN-PIERRE PAPART und PHILIPPE CASTONAY / DOMINIQUE FROIDEVAUX