12.03.1999

Das „erträgliche Maß“ an Gewalt

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Das „erträgliche Maß“ an Gewalt

Nicht zuletzt die wachsende Bedeutung der Selbstverteidigungsgruppen hat in Algerien die Bedingungen eines Bürgerkrieges von unerhörter Gewalttätigkeit geschaffen. Die Strategie der Militärs, die einerseits auf Vereinbarungen mit der Islamischen Armee des Heils und andererseits auf die Zerschlagung der bewaffneten Gruppen abzielt, zeitigt erste Früchte. Wird die Gewalt sich allmählich auf ein „erträgliches Maß“ einpendeln?

Von DJAMEL BENRAMDANE

DIE ersten Serien von Greueltaten in ländlichen Ortschaften ereigneten sich im Herbst 1996. Sie bildeten den Anfang einer stetigen Folge von Massakern, fast zweihundert sind es inzwischen, und die Opfer der außerordentlichen Bestialität gehörten ausschließlich der Zivilbevölkerung an. Warum diese Gewalt – ausgerechnet im Zentrum des Landes1 , wo doch im gleichen Zeitraum der Terrorismus deutlich zurückging? Die Behörden, die „sicherheitsrelevante“ Informationen nur in kleinster Dosierung freigeben, machen in den oft einseitigen Presseveröffentlichungen2 vorsichtige Andeutungen über die Gründe: Es handle sich um Verzweiflungsakte der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA), denen die Unterstützung der Bevölkerung verlorengegangen sei. Doch das kann die Ereignisse nur zum Teil erklären.

Durch die Zensur unter dem Militärregime ist das Ziel der blutigen Strategie weitgehend unbekannt geblieben. In vielen Fällen, so etwa 1996 und 1997 in der Mitidja, danach im Bezirk Ain-Defla und im Westen von Algier, galten die Übergriffe Familien, die von der Regierung ausgegebene Waffen besaßen, oder einzelnen, die offen von den Behörden gefordert hatten, man möge sie bewaffnen. Solche Fälle gab es in Dutzenden von Dörfern und abgelegenen Gehöften. Daß die GIA vor allem gegen die Selbstverteidigungskomitees vorgingen, die nach wie vor staatlich gefördert werden, ist von der Armee immer wieder vertuscht worden.

Die Ausgabe von Waffen an Zivilisten mit dem Ziel, in den ländlichen Gegenden ein immer dichteres Fangnetz zu knüpfen, begründete die Regierung damit, daß man schließlich „nicht jedes Duar bewachen“ könne. Diese Strategie, großen Teilen der Bevölkerung eine aktive Rolle im Krieg zuzuweisen, hat es ermöglicht, die großen urbanen Zentren besser zu schützen: In der Gegend um Oran und Algier wirkten die Selbstverteidigungsgruppen als Puffer zwischen den islamistischen Kampfgruppen und der Nationalen Volksarmee (ANP). Aber daraus ergab sich der furchtbare Nebeneffekt, daß an die Stelle der terroristischen Anschläge auf die klassischen militärischen Ziele die blutige Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Dorfbewohnern trat.

Nicht selten werden kurz nach einem Massaker Angehörige bekannter Führungspersonen islamischer Gruppen entführt oder ermordet – in einigen solcher Fälle wurde in der Presse behauptet, es sei dabei um Abrechnungen zwischen rivalisierenden islamistischen Banden gegangen, obwohl kein Zweifel bestand, daß es sich um standrechtliche Exekutionen durch die Sicherheitskräfte oder bewaffnete Zivilisten handelte.3

Die Situation spitzte sich zu, nachdem die Islamische Armee des Heils (AIS) im Herbst 1997 einen einseitigen Waffenstillstand erklärt hatte.4 Daß es Überläufer gab, die sich mit ihren Waffen stellten, vom Geheimdienst geschützt wurden und de facto straffrei blieben, daß der General Mohamed Boughaba, der die Verhandlungen mit dem bewaffneten Arm der FIS eingeleitet und das Abkommen erzielt hatte, zum Befehlshaber der wichtigsten Militärregion, dem Gebiet um Algier, ernannt wurde – all das erzeugte Unmut in den Reihen der Armee und der Selbstverteidigungskomitees. Zugleich fanden vor verschiedenen Militärgerichten in aller Stille Strafverfahren gegen Mitglieder der Kommunalgarde und der Legitimen Verteidigungsgruppen (GLD) statt, denen vorgeworfen wurde, standrechtliche Hinrichtungen durchgeführt zu haben.

In Relizane, im Westen Algeriens, wurden im April 1998 zwei Bürgermeister, die für die Regierungspartei Rassemblement National Démocratique (RND) kandidiert hatten, verhaftet und später wieder auf freien Fuß gesetzt – sie stehen unter Anklage, an Entführungen, Mordanschlägen und Erpressungen beteiligt gewesen zu sein. Die beiden Männer sollen als Anführer „patriotischer“ Kampfgruppen innerhalb von drei Jahren fast achtzig Menschen umgebracht haben. Unter den Opfern waren zahlreiche Überläufer, Angehörige von Islamisten, aber auch ein Offizier der Streitkräfte, der mit einer Untersuchung dieser Übergriffe befaßt war. Einer der Bürgermeister soll verhaftet worden sein, als man im Kofferraum seines Wagens eine entführte Person fand. Über den weiteren Verlauf dieses Skandals ist nichts bekannt geworden.

Zwischen einzelnen Bürgerwehren und der Gendarmerie kam es zu Auseinandersetzungen, man warf der Polizei vor, immer mehr Verhaftungen vorzunehmen und bei Angriffen auf die Dörfer nicht einzugreifen. Tatsächlich blieben in dieser Zeit der unklaren Positionen die GLD und die Sonderabteilungen der Armee vor Ort bei terroristischen Überfällen untätig. Die Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) führten damals Strafexpeditionen in den Gebieten durch, die als Hochburgen der AIS gelten, so etwa in Larbaa, der Zone, die dem Emir Mustapha Kartali untersteht, einem Mitglied des engeren Führungskreises der FIS. Am 24. Dezember 1997, zwei Monate nach der Bekanntgabe des Waffenstillstands, kam es in Djiboulo, wohin sich Kartalis Kämpfer derzeit zurückgezogen haben, zu einem Massaker, bei dem einunddreißig Menschen starben.

Durch die Schaffung von Dorfmilizen konnte die Armee, die am Beginn der Auseinandersetzungen 140000 Mann unter Waffen hatte, ihre Truppenstärke fast verdoppeln. Organisiert sind diese vom Verteidigungsministerium angeworbenen „Patrioten“ ebenso wie die GLD und die Einheiten der Kommunalgarde unter dem Befehl des Innenministeriums in etwa 5500 Einsatzgebieten, die ein Drittel der 1541 vom Terrorismus betroffenen Gemeinden abdecken; sie stellen mehr als 80000 Männer. Einige dieser Einheiten sind nicht nur mit dem Schutz der Dörfer betraut, sondern sollen auch bestimmte strategische Punkte in den ländlichen Gegenden sichern: Staudämme, Elektrizitätswerke oder Gaspipelines.5

Auch die Staatspolizei, die 1991 16000 Beamte zählte, hat einige tausend neue Polizisten angeworben und vor allem zahlreiche neue mobile Brigaden der Kriminalpolizei (BMJP) für den Einsatz in den Krisenbereichen geschaffen. In der Gendarmerie sind neue Gebietskompanien gebildet worden, außerdem wurden ihr die verschiedenen Einheiten der Republikanischen Garde eingegliedert. Anfang letzten Jahres fanden diese Bemühungen um erhöhte Kampfstärke ihre Ergänzung im Ankauf von speziellem Kriegsgerät zur Guerillabekämpfung.6

Aber trotz Bombardements und gezielter Durchsuchung von Gebieten hat die Zahl der Massaker, der Überfälle an falschen Straßensperren und der Sabotageakte nicht abgenommen. Unbeeindruckt von der aufwendigen Neuformierung der Sicherheitskräfte – die nun für ihren Kampf gegen den Terrorismus „Einsatzkräfte“ von über 60000 Mann aufbieten – gelingt es einem Dutzend Kampfgruppen, die behaupten, zur GIA zu gehören, einen erfolgreichen Kleinkrieg zu führen.

Jede dieser „Kompanien“ der GIA zählt nicht mehr als 30 bis 80 Mann, sie sind schlecht bewaffnet und verbergen sich tagsüber in Höhlen oder unterirdischen Gängen, nur nachts ziehen sie los, zu Fuß oder auf Maultieren. Aber sie haben der Armee zweierlei voraus: Sie sind äußerst beweglich, und sie kennen Weg und Steg. Ihre tatsächliche Stärke bleibt ungewiß, seit 1992 ist in offiziellen Verlautbarungen stets von 2000 bis 3000 Kämpfern die Rede. Andererseits waren nach Angaben des Justizministeriums im Jahre 1995 18000 Gefangene (die Hälfte aller Gefängnisinsassen) wegen Straftaten im Zusammenhang mit dem Terrorismus inhaftiert.

Spaltung bei den Islamisten

DIE „ursprüngliche“ GIA7 hat sich 1996 in verfeindete Fraktionen gespalten, deren bedeutendste auch weiterhin den Namen Dschamaa Islamija Musalaha (Bewaffnete Islamische Gruppe) führt. Diese Gruppierung ist gut organisiert und kampferprobt. Kaum einer ihrer Führer ist älter als dreißig, in ihren Reihen finden sich Kämpfer aus dem Afghanistankrieg, aber auch Deserteure aus der Armee.8 Sie verfügt über etwa ein Dutzend Einheiten mit wechselnder Mannschaftsstärke, die in verschiedenen Landesteilen operieren. Die Führung, in der Zentralregion stationiert, wird aus Furcht vor Unterwanderung streng abgeschirmt, hält aber Kontakt zu den verstreuten Kampfgruppen. Glaubt man dem Bericht eines Überläufers, der im Dezember 1998 in Algier veröffentlicht wurde, dann verfügt diese Gruppe über militärische Fernmeldeeinrichtungen und schwere Waffen aus dem Besitz der Armee, zum Beispiel Hawn-Granatwerfer, RPG-Raketenwerfer und FMPK-Maschinengewehre.

Im September 1996 erläßt Antar Zouabri, der Emir der Organisation, in einer Untergrundzeitung eine Fatwa mit dem Titel „Al mufassala al-kubra“ (“Die entscheidende Trennungslinie“).9 Nach langen Schmähreden gegen die Selbstverteidigungskomitees, die er als „Harki-Milizen“10 und „Hunde Zérouals“ (milichiate al-harki und kleb Zeroual) bezeichnet, ruft er die Bevölkerung auf, sich seiner Bewegung anzuschließen und die Orte zu verlassen, an denen sich Männer in Waffen aufhalten. Zu den Religionsstrafen, die den Feinden in der Fatwa angedroht werden, gehören die „Anwendung des göttlichen Gesetzes“ (Hinrichtung), Enteignung ihrer Besitztümer (als „ghanima“, Kriegsbeute) und die Entführung ihrer Frauen (die als „sabaya“, Gefangene, gelten sollen).

Im Juni 1997 erscheint in der gleichen Untergrundzeitschrift eine Verlautbarung von Assouli Mahfoudh, dem Rechtsgelehrten der Gruppe. Er erklärt es für „erlaubt“, Frauen und Kinder umzubringen, wenn diese mit den „Feinden des Islam“ Umgang pflegen, und versichert, daß „die Unschuldigen unter ihnen ins Paradies kommen werden“. – „Wenn ihr davon hört, daß es in einer Stadt oder einem Dorf ein Blutbad und durchschnittene Kehlen gab“, heißt es in dem Dokument, „so wißt, daß es Anhänger des Despoten (taghut) getroffen hat.“

Diese Texte markieren offenbar den Ausgangspunkt der Massaker, aber sie scheinen auch Auslöser für die Abkehr einiger islamistischer Strömungen von der Führung der GIA gewesen zu sein. Zu den wichtigsten Abspaltungen gehören die „Gruppe für Kampf und Verkündigung“ und die „Ahual“(Stärke)-Miliz, die östlich von Algier, in der Kabylei, und im Westen des Landes, im Gebiet von Sidi Bel Abbès, operieren und 1998 eine Reihe von militärischen Ziele angegriffen haben.

Andere Splittergruppen sind unter nicht ganz geklärten Umständen auf die Linie der AIS und des Waffenstillstands eingeschwenkt, in der Hoffnung, in den Genuß des „Rahma“(Gnaden)-Erlasses zu kommen. Dieses Regierungsdekret sieht die Einstellung von Strafverfahren oder Straferlaß für die Untergrundkämpfer vor, die sich ergeben. Mit Hilfe solcher „Überläufer“ konnte die Armee Untergrundorganisationen sprengen und die Befehlsstellen islamistischer Gruppen aufspüren.

Für die Antiterrorismus-Einheiten ist die Aufgabe mit der fortschreitenden Zersplitterung der Guerilla und der Verwandlung der GIA in eine Vielzahl von Netzwerken nicht einfacher geworden. Die Armee sieht sich in einen Krieg ohne Ende verstrickt. Die Machthaber dagegen sind damit zufrieden, den Terrorismus in den Städten besiegt zu haben, und scheinen das derzeitige Ausmaß der Gewalt für „erträglich“ zu halten.

Edgar Peinelt

* Journalist, Algerien.

Fußnoten: 1 Seit 1992 fanden Massaker und Mordanschläge vorwiegend in fünf Verwaltungsbezirken der Zentralregion statt: in Algier, Blida, Medea, Ain-Defla und Tiaret. 2 Siehe dazu Marc Margenidas „L'information asservie en Algérie“, Le Monde diplomatique, September 1998. 3 Anfang 1996 wurde der Bruder des GIA-Führers Antar Zouabri mit durchschnittener Kehle auf einem Acker aufgefunden, kurz nachdem er aus dem Gefängnis freigekommen war. Ein Teil seiner Familie wurde einige Monate später von Unbekannten liquidiert – in den Medien kam der Vorfall nicht zur Sprache. Am 13. Januar 1997 wurden in Tabainet, einem Ort in der Mitidja, vierzehn Menschen umgebracht, unter den Opfern waren Angehörige von Rabah Guettaf, einem langjährigen Mitglied islamistischer Gruppen und früheren Aktivisten der Islamischen Heilsfront (FIS). Sieben Monate später kam es im selben Dorf zu einem Massaker, dem 48 Menschen zum Opfer fielen, darunter die Mitglieder von Selbstverteidigungsgruppen und ihre Familien. 4 Dieser Waffenstillstand, Ergebnis von geheimen Verhandlungen mit der Regierung, führte zur Schaffung von etwa zwanzig Lagern der AIS, die von der Armee beschützt werden. Laut einem Bulletin, das die FIS im Februar 1999 in Europa veröffentlichte, stellt sich eine Fraktion in der Armee quer zu einem zweiten Abschnitt des Abkommens, der die Eingliederung eines Teils der 4100 AIS-Kämpfer in die regulären Truppen vorsieht. 5 Die Aufgabe, für die Überwachung der algerischen Pipelines zu sorgen, wurde Scheich Zidane el- Mekhfi übertragen, einem alten Kämpfer aus dem Befreiungskrieg, der heute als Abgeordneter der Regierungspartei im Parlament sitzt. Er führt eine Truppe von tausend Mann, die von der Armee und dem staatlichen Erdölkonzern Sonatrach ausgerüstet wird. 6 Im Februar 1998 reiste eine große Abordnung algerischer Militärs, angeführt von Generalstabschef Mohamed Lamari, nach Südafrika, um über Waffenlieferungen zu verhandeln. Offiziell ging es um den Ankauf von „Seeker UAV“-Flugzeugen der Firma Denel für die algerische Luftwaffe, unbemannten Aufklärern, die zur Überwachung der Grenzen eingesetzt werden sollten. Aber Denel hat noch andere Rüstungsgüter im Angebot, die man in Algerien gern hätte: die Kampfhubschrauber „Rooivalk“, Nachtsichtgeräte und Wärmeortungsgeräte, Minensuchfahrzeuge und Geräte zur Aufspürung von Sprengstoff. 7 Die GIA sind 1992 in der Mitidja gegründet worden, 1994, bevor ihr Niedergang begann, war sie das Sammelbecken für verschiedene gewaltbereite Fraktionen und Führer der FIS. 8 Abbi Abdelaziz, einer der Bombenbauer dieser Gruppierung, gehörte früher der Sondereingreiftruppe (GIS) des algerischen Geheimdienstes an und war in den USA zum Sprengstoffexperten ausgebildet worden. Die Umstände seiner Desertion sind nie ganz aufgeklärt worden. 9 Al Jamaa, Nr. 10, September 1996. Dieses Organ der GIA, das in London von ehemaligen Afghanistankämpfern aus den arabischen Ländern herausgegeben wurde, stellte kurz nach der Ermordung der sieben Zisterziensermönche in Tibherine (Mai 1996) sein Erscheinen in Europa ein. 10 Harki wurden die algerischen Hilfstruppen der französischen Kolonialmacht genannt (Anm. d. Ü.).

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von DJAMEL BENRAMDANE