12.03.1999

Der Journalist als Verwertungskünstler

zurück

Der Journalist als Verwertungskünstler

IN den Redaktionsräumen der US-amerikanischen Chicago Tribune steht Flexibilität hoch im Kurs, seit die dortige Zeitungsredaktion im Medienverbund mit konzerneigenen Fernsehstationen, Rundfunksendern und Nachrichtendiensten im Internet zusammenarbeitet. Die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung steigt, die Inhalte werden mit Konsumentenwünschen abgeglichen, die die Marketingabteilung erhebt. Eine Segmentierung des Nachrichtenmarktes ist die Folge. Wie wirkt sich die medienübergreifende Redakionsareit auf die Nachrichten aus? Und wie die maßgeschneiderten Konsumentenbilder auf Themenwahl und Textgestaltung? Wird die Verheißung des globalen Dorfes als weltweite Dorfpolitik enden?

Von ERIC KLINENBERG *

In den Debatten über die Informationsgesellschaft der Zukunft kursieren derzeit drei Mythen: Zum einen wird unterstellt, die neuen Technologien schüfen das „globale Dorf“ – eine internationale Gemeinschaft also, in der alle virtuell miteinander verbunden sind. Zum zweiten heißt es, die neuen Kommunikationssysteme beförderten den demokratischen Gedankenaustausch und Meinungsbildungsprozeß. Und zum dritten wird behauptet, die neuen Technologien böten den Journalisten einfacheren Zugang zu genauen, leichter überprüfbaren Informationen.1

Dieses Loblied interessierter Kreise hat selbst ernstzunehmende Menschen dazu veranlaßt, den kleinen Unterschied zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit außer acht zu lassen und zu glauben, die Zukunft des Cyberspace werde einzig und allein bestimmt durch die hehren Absichten seiner Propagandisten. Doch die Tatsache, daß das Loblied ausgerechnet zu einem Zeitpunkt angestimmt wird, da das Vertrauen in die Nachrichtenproduzenten in eine tiefe Krise geraten ist, nährt Zweifel und legt die Vermutung nahe, daß die Einführung der neuen Technologien den großen Nachrichtenfirmen in erster Linie dazu dient, ihren öffentlichen Einfluß zu mehren.

Vielleicht läßt sich zu einer klareren Einsicht gelangen, wenn man die teleskopische Sichtweise verläßt und statt dessen den mikroskopischen Blickwinkel wählt, was in unserem Falle meint: einen detaillierten Einblick in die Produktions- und Distributionsformen im Bereich der Nachrichtenproduktion gewinnt.2 Daher habe ich mich in eines der hochmodernen Zentren der Nachrichtenproduktion begeben, in eines der technologisch avanciertesten US-amerikanischen New-Media-Unternehmen: The Tribune Company (Herausgeber der Chicago Tribune), die als Prototyp des künftigen globalen Nachrichtenwesens gilt. Ich habe sieben Monate dort zugebracht, habe den täglichen Arbeitsablauf der Nachrichtenmacher beobachtet und die Reporter, Redakteure und Manager über ihr Berufsbild befragt.

The Tribune Company war lange Zeit ein Multimedia-Konglomerat, heute ist sie ein wahrer Unternehmensgigant. In der Vergangenheit identifizierte man sie vor allem mit der Chicago Tribune, doch die Holding-Gesellschaft besitzt außerdem drei Regionalzeitungen, einen eigenen nationalen Fernsehsender und die Beteiligung an weiteren nationalen Kanälen, vier Rundfunkstationen, einen Buchverlag, mehrere Fernsehproduktions- und –verleihfirmen, dazu einen neuen digitalen Medienbereich (unter anderem Online- Zeitungen), in den Hunderte Millionen Dollar investiert wurden, sowie Übertragungslizenzen für Profisportereignisse und drei lokale Kabelfernsehsender, die rund um die Uhr Lokalnachrichten bringen. Die Holding ist eine Aktiengesellschaft, die jährlich 600 Millionen Dollar Gewinn macht und an der Börse hoch gehandelt wird.

Die Beteiligung an so vielen unterschiedlichen Medien ermöglicht der Tribune Company ein synergetisches Produktionsmodell, bei dem jeder Geschäftsbereich seine Angebotspalette durch Einsatz von Produkten aus anderen Bereichen erweitert. Auch wenn die einzelnen Firmen ihren Sitz an verschiedenen Orten haben, gibt es eine Nachrichtenzentrale; in den Räumen, wo früher allein die Redaktion der Zeitung saß, werden heute die Nachrichten für den gesamten Konzern produziert: Hier befinden sich ein Fernsehstudio, Hunderte von Computerterminals und eine hochmodern ausgestattete Abteilung für Foto- und Grafikbearbeitung.

Die tatsächliche Integrationsarbeit leisten die Reporter und Redakteure, denn sie müssen gleichzeitig die Inhalte für alle Geschäftsbereiche des Unternehmens liefern.3 Das führt uns zu der Frage: Welche Folgen hat diese Integration verschiedener Medienfunktionen für die journalistischen Arbeitsabläufe, und wie wirkt sich dies wiederum auf die Beschaffenheit der Nachrichten aus?

Erste Antwort: Die Journalisten haben mehr Arbeit, daher bleibt ihnen weniger Zeit zum recherchieren oder schreiben, und sie liefern zwangsläufig oberflächlichere Analysen. Als Herbert Gans und Todd Gitlin in den siebziger und achtziger Jahren die Arbeitsbedingungen US-amerikanischer Journalisten erforschten, fanden sie heraus, daß der extreme Zeitdruck, unter dem die Nachrichtenproduktion immer mehr stand, sich automatisch auf die Qualität der Nachrichten niederschlug – insbesondere beim Fernsehen, wo die Beiträge am schnellsten produziert werden müssen.4 Dieser Befund stammt noch aus der Zeit, als Journalisten – auch bei Tribune – alle Beiträge jeweils nur für ein Medium verfaßten.

Heute sieht es in der Tribune-Zentrale ganz anders aus. Tag für Tag produzieren die dortigen Mitarbeiter acht Varianten und drei Ausgaben der Zeitung, sieben TV-Nachrichtenprogramme und zahllose Internet-Beiträge. Zwar haben die Zeitung, das Internet und die örtlichen TV- Nachrichtenshows jeweils ihren eigenen Redaktionsstab, aber es existieren keine festen Kompetenzbereiche. Bei Tribune hat man mit dem Synergieprinzip ernst gemacht. Vor fünf Jahren gab es nur Zeitungsjournalisten in der Nachrichtenzentrale, und noch heute stellen sie das Kernstück des Unternehmens dar. Aber weil der Zeitungsmarkt inzwischen knapper und die Konkurrenz bei den TV- und Internet-Nachrichten intensiver geworden ist, hat Tribune die Rolle des Nachrichtenredakteurs umdefiniert: Er muß jetzt für mehreren Medien gleichzeitig arbeiten.

Anzeigen für die Vorstadt

EIN Journalist schreibt also bis Redaktionsschluß an einer Zeitungsgeschichte, anschließend präsentiert er das Thema im Fernsehen, um es dann noch fürs Internet zu bearbeiten, indem er neues Material einfließen läßt und Links zu anderen Artikeln und Websites vorschlägt. Für Tribune bedeutet diese Mehrfachverarbeitung eine Kostensenkung bei gleichzeitiger Effizienzerhöhung. Für die Journalisten dagegen bedeuten die zusätzlichen Verpflichtungen, daß ihnen Zeit zum Recherchieren, Übermitteln und Schreiben fehlt. Zudem müssen sie neue professionelle Fertigkeiten erwerben (zum Beispiel telegenes Auftreten) und ihren Schreibstil so ändern, daß ihre Texte für die verschiedenen Medien tauglich sind.

Die Veränderungen im Produktionsprozeß haben also Folgen für Nachrichten wie Nachrichtenmacher. In Frankreich gab es jüngst eine Debatte über die Fernsehnachrichten, in welcher kritisiert wurde, daß die Nachrichten im Fernsehen zu kurz und folglich zu oberflächlich seien.5 Die Zeitungen verfügten über viel mehr Platz, um eine Geschichte zu präsentieren. Aber die zunehmende Verzahnung der Nachrichtenproduktion in den Konzernen stiehlt den Redakteuren nicht nur die Zeit, die sie zum Schreiben fundierter Geschichten benötigen, sondern nötigt sie zunehmend auch noch zu telegerechten Schreibstilen, weil das Fernsehen als profitableres journalistisches Medium im Management höher rangiert. Es besteht also die Gefahr, daß der oberflächliche Bildschirmjournalismus auf den Zeitungsjournalismus übergreift.

Die Verantwortlichen müssen mit äußerst begrenztem Personal mehrere Medien gleichzeitig mit Inhalten versorgen, und da am Ende eines Tages der Stoff in jedem Fall vorhanden sein muß, wählen die Redakteure oft Themen aus, die ohne großen Aufwand zu recherchieren sind. Dabei fallen investigative Reportagen, also lange Beiträge, die ausführliche Recherchen erfordern, fast automatisch unter den Tisch.6 Dabei hatten in der Vergangenheit gerade diese Textarten den Ruhm des US-amerikanische Journalismus begründet. Die Chefredakteure geben dem hohen Erwartungsdruck der Manager nach und schränken die beruflichen Freiheiten und Möglichkeiten der Journalisten zunehmend ein. Das bedeutet für den Leser, daß er immer weniger ernsthafte, anspruchsvolle Informationen erhält.

Aber warum lassen sich die Journalisten das alles bieten? Zum einen ist dieser neue Typ von Journalist in den Journalistenschulen längst Ausbildungsziel geworden. Wichtiger noch ist aber der enorme Konkurrenzdruck, zumal die Journalisten kaum organisiert sind. Jobs in Nachrichtenkonzernen wie Tribune sind so begehrt, daß sich Hunderte von erfahrenen Journalisten um einen der Einjahresverträge bewerben, um danach mit viel Glück und Ausbooterei einen der festen Jobs zu ergattern, die das Unternehmen nach der einjährigen Probezeit einem von zehn Reportern bietet. Doch auf welche Themen kann man sich fortan noch konzentrieren, wenn man für Zeitungen schreiben, für das Fernsehen berichten und außerdem für das Internet produzieren soll? Welches sind die wichtigsten eigenen Fähigkeiten, die man weiterentwickeln muß? Hier und da wird noch Wert gelegt auf die Qualität des Schreibens, doch die Zeitung wird immer fernsehähnlicher, und der Journalist muß seine Qualifikationen an diesen Maßstäben ausrichten.

Wenn die neue Technologie die Qualität der Nachrichten schon nicht erhöht, wie verhält es sich dann mit jener Verbesserung der Zugänglichkeit, von der so oft die Rede ist? Schließlich gilt das „global village“ von informierten Bürgern (in Silicon Valley heißt der citizen heute schon „netizen“) gemeinhin als eine der wichtigsten Errungenschaften der neuen Medienindustrie: Längst können wir Zeitungen im Internet lesen und empfangen BBC, TV5 oder CNN weltweit per Satellit.

Theoretisch dienen die digitalen Technologien durchaus einer kosmopolitischen Informationskultur. Doch in Wirklichkeit setzen die großen Nachrichtenkonzerne die neuesten Techniken gerade für gegenteilige Zwecke ein: Sie zerlegen das Nachrichtenpublikum in immer kleinere Einheiten, um jedem seine kleine Nachricht aus der Straße, Gegend oder Region nach Postleitzahlengebieten anbieten zu können.7 Egal, ob das Medium Fernsehen, Internet oder Zeitung heißt: die Nachrichtenkonzerne züchten sich Zielgruppen heran, indem sie durch gezieltes Marketing lokale Interessen herausdestillieren und bedienen.

Vor zwanzig Jahren machte die Chicago Tribune von sich reden, weil sie das gesamte Stadtgebiet in acht Zonen aufteilte und für jede Zone eigene Lokalseiten produzierte. Durch die neuen Herstellungs- und Drucktechnologien konnte diese Diversifizierung erhöht werden, so daß die Zeitung heute für jede der acht Zonen in und im Umkreis der Stadt nicht nur eigene Lokalseiten druckt, sondern sogar verschiedene Titelseiten, mit eigenen Fotos und Schlagzeilen, die der jeweiligen Leserschaft angepaßt sind. Vor kurzem hat man die Stadt sogar noch weiter aufgeteilt: Versuchsweise produzierte man eine Wochenausgabe für einen ausgewählten Telefonbezirk (etwa 75000 Menschen), nachdem man dort intensiv Marktforschung betrieben und die lokalen Interessen und Besonderheiten ermittelt hatte.

Stadtsoziologen argumentieren vielfach fundiert, daß gerade der Lokalzeitung eine hohe Integrationsfunktion zukommt, da sie die unterschiedlichen Stadtviertel zu einer sozialen und politischen Gemeinschaft schmiede. Auch wenn die verschiedenen Zeitungen auf unterschiedliche Lesergruppen zielten, würden sie durch das Aufgreifen gesamtstädtischer Themen zu einem gemeinsamen Bürgerbewußtsein beitragen.

Doch nicht nur in Chicago lesen die Vorstadtbewohner (selbst wenn sie in der Innenstadt arbeiten) in der Zeitung ihres Vororts kaum noch Beiträge über das Leben in der City; und die Bewohner aus dem Norden der Stadt erfahren für gewöhnlich nichts über die Ereignisse im Süden. Was immer im Nachbarbezirk geschehen mag, es erregt so wenig Interesse, als sei es auf einem anderen Kontinent geschehen – außer, wenn es sich um Sensations- oder Skandalgeschichtchen handelt. Doch derart gezielte Marktsegmentierungen strukturieren nicht nur den Zeitungsmarkt. Das Internet liefert zwar Wissenswertes aus aller Welt, doch die meisten Nutzer suchen in erster Linie Auskünfte über und für die eigene kleine Welt. Entsprechend boomen die Nachrichtenanbieter mit lokaler Ausrichtung. Diese Nachrichtendienste erfreuen sich in den USA weitaus größerer Beliebtheit als die internationalen Nachrichtendienste (in englischer Sprache, ganz zu schweigen von den fremdsprachigen). Mindestens ebenso interessant ist sicher, daß Tribune zunehmend versucht, auch im Fernsehbereich das Publikum zu segmentieren – mit dem Ziel, sich auch hier ein spezifisches, auf die eigene Welt bezogenes Publikum mitsamt den darauf abzielenden Anzeigenkunden heranzuziehen.

Vor zehn Jahren unterhielt die Zeitung noch 12 Inlandskorrespondenten und 32 Auslandskorrespondenten. Heute hat sie nur noch 6 inländische Büros und 27 im Ausland. Das entspricht einer allgemeinen Tendenz im Lande. Statt über die nationalen oder internationalen Vorfälle umfassend zu berichten, schickt die Redaktion ihre Reporter in die wohlhabenden Vorstädte, um die begüterten Amerikaner als Leserschicht bei der Zeitung zu halten.

Die digitale Revolution hat folglich vor allem die Produktion und Distribution von Nachrichten beeinflußt. Ein Strukturwandel des journalistischen Arbeitsfeldes ist ausgeblieben, aber die kommerzielle Logik wirkt sich auf das traditionelle Arbeitssethos aus. So klagt der ehemalige Redaktionsleiter der Chicago Tribune: „Früher hatte der Journalismus immer die Funktion, die Menschen zu bilden, aber heute ist er in den Augen der Medienkonzerne nur noch eine Lizenz, die wie jede andere Lizenz in erster Linie Profit abwerfen soll.“ Und sein heutiger Nachfolger äußert sich ähnlich: „Ich bin nicht etwa ein Herausgeber einer Zeitung, sondern Manager einer Informationsfabrik.“8

Diese Haltung prägt längst die gesamte Profession. Überall in den USA dulden oder unterstützen die Chefredakteure heutzutage, daß die traditionellen Grenzen zwischen Redaktion und Marketing verschwinden. Mit anderen Worten: Im Journalismus ist die Trennung von Staat und Kirche aufgehoben, und dieser gefährliche Wandel birgt das Potential für eine dramatische Gegenreaktion: Je mehr Nachrichtenpräsentation und Marktstrategien miteinander verschmelzen, desto deutlicher tritt die kommerzielle Natur der Medienindustrie zutage, was wiederum kollektive Desillusionierung und Proteste provozieren könnte. Aufgrund der vielen Skandale ziehen nicht nur in den USA immer mehr Medienbeobachter die Glaubwürdigkeit der Nachrichten in Zweifel und fragen offen, ob Journalisten ihre Berufsbezeichnung noch verdienen.9

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

* Forscher an der University of California, Berkeley.

Fußnoten: 1 Zu den besten Untersuchungen zu diesem Thema gehört Manuel Castells, „La Société en résaux“, Paris (Fayard) 1998; zu den populärsten Nicholas Negroponte, „Total digital“, München (Goldmann) 1997. 2 Vgl. z.B. Alain Accardo (Hrsg.), „Journalistes précaires“, Bordeaux (Éditions le Mascaret) 1998. 3 Vgl. Ken Auletta, „Synergy City“, American Journalism Review (http://ajr.newslink.org/special/ guide.html). 4 Vgl. Herbert Gans, „Deciding What's News“, New York (Vintage) 1979, und Todd Gitlin, „The Whole World is Watching“, Berkeley (University of California Press) 1980. 5 Vgl. Pierre Bourdieu, „Über das Fernsehen“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1998. 6 Vgl. Serge Halimi, „Un journalisme de racolage“, Le Monde diplomatique, August 1998; sowie Neil Hickey, „Money lust: how pressure for profit is perveting journalism“, Columbia Journalism Review, New York, Juli/August 1998. 7 Vgl. Yves Eudes, „Essor des chaines hyperlocales aux Etats-Unis“, Le Monde diplomatique, Februar 1994, und Quentin Hardy, „The small screen gets even smaller in some US towns“, The Wall Street Journal Europe, 8. Juni 1998. 8 Zitiert nach Ken Auletta, a. a. O., bzw. Joseph S. Coyle, „Now the editor as marketer“, Columbia Journalism Review, Juli/August 1998. 9 Bezüglich der Vereinigten Staaten vgl. vor allem die Zweimonatsschrift Extra!, hrsg. von der Vereinigung Fairness and Accuracy in Reporting (Fair), 130 West, 25th Street, New York, NY 1001.

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von ERIC KLINENBERG