Südafrika nach Mandela
DER achtzigjährige südafrikanische Präsident Nelson Mandela wird im Mai 1999 nicht mehr für die Präsidentschaftswahlen kandidieren. Sein wahrscheinlicher Nachfolger Thabo Mbeki und die neue Nationalversammlung übernehmen von der aus den Wahlen von 1994 hervorgegangenen Regierung eine düstere Bilanz. Das Ende des Apartheidregimes schien die letzte Etappe der dreißig Jahre zuvor auf dem Schwarzen Kontinent eingeleiteten Entkolonialisierung zu sein und wurde vom ganzen Kontinent bejubelt: Eine „Wiedereburt Afrikas“, wie sie die neue Regierung verkündete, schien greifbar nahe. Doch die Wirtschaftskrise, der Widerstand der südafrikanischen Gesellschaft und das außenpolitische Lavieren (die gescheiterten Vermittlungsversuche im ehemaligen Zaire, die gefährliche Militärintervention in Lesotho usw.) sind erhebliche Hindernisse auf dem Weg des afrikanischen Giganten.
Von unserem Korrespondenten CLAUDE WAUTHIER *
Soweto ist eine Stadt, die zum Symbol geworden ist: Johannesburgs Vorstadt für die Schwarzen, zu Zeiten der Apartheid errichtet, ist ein riesiges Schachbrett aus schnurgeraden Straßen, gesäumt von kleinen Häusern, die einander gleichen wie ein Ei dem anderen. In Soweto und in den beiden Schwesterstädten Alexandra und Lenasia leben rund 2,5 Millionen Menschen. In der letzten Zeit hat man in diesem geradlinigen geometrischen Gebilde ein großes improvisiertes Slumquartier errichtet, original mit Baracken aus Pappwänden und Wellblech: Die Reiseveranstalter haben Exkursionen nach Soweto ins Programm genommen.
Nach dem obligaten Halt beim Haus von Nelson Mandela, das neu gestrichen und mit einem kleinen Souvenirladen ausgestattet wurde, in dem man T-Shirts mit dem Bild des Präsidenten kaufen kann, hält der Minibus an einer staubigen Allee an der Grenze zum Elendsviertel. Der Reiseleiter führt die Touristen in eine der Baracken. In der Mitte des einzigen Raumes, den sich mehrere Menschen teilen, thront, umgeben von den üblichen Gebrauchsgegenständen, ein batteriebetriebener Fernseher. Selbstredend erwartet man in Soweto weder fließendes Wasser noch elektrischen Strom.
In seiner Parlamentsrede vom 4. Februar 1999 in Kapstadt strich der südafrikanische Staatschef den Fortschritt heraus, der unter seiner Regierung erzielt wurde: fließendes Wasser für 3 Millionen Wohnungen, elektrischer Strom für 2 Millionen und Telefonanschlüsse für 1,3 Millionen Familien. Er erwähnte aber auch, daß die weiße Bevölkerung den derzeitigen Veränderungen äußerst reserviert gegenübersteht, weshalb sich die Regierung Ende vergangenen Jahres gezwungen gesehen hatte, ein Gesetz zur positiven Diskriminierung der Schwarzen in den Unternehmen zu verabschieden.
Mandela räumt ein, daß der Kampf gegen Kriminalität und Korruption bisher keine befriedigenden Resultate gebracht hat: „Wir haben zwar schon große Fortschritte erzielt, aber der Weg zu einem besseren Leben ist noch weit.“ Worauf es sich Tony Leon – als Chef der Demokratischen Partei (DP) einer der führenden Vertreter der Opposition – nicht nehmen ließ, darauf hinzuweisen, daß seit dem Regierungsantritt des ANC 20000 südafrikanische Staatsbürger ermordet wurden.
Die wachsende Kriminalität ist einer der wunden Punkte der „Regenbogennation.“1 Obwohl ihr Weiße wie Schwarze gleichermaßen zum Opfer fallen, hat die Debatte über die Bekämpfungsmethoden eine rassistische Wendung genommen, angeheizt dadurch, daß diverse Stimmen die 1995 demonstrativ abgeschaffte Todesstrafe wiedereinführen wollen.2 Als im April 1998 ein betrunkener weißer afrikanischer Farmer ein sechs Monate altes schwarzes Baby tötete, nahmen die Spannungen dramatisch zu.
Das unsichere Klima verschafft den privaten Wachschutzfirmen zunehmend Aufträge. Alle wohlhabenderen Weißen statten ihre Wohnungen mit Alarmanlagen aus. Als letzter Schrei gilt ein am Auto montierter Flammenwerfer. Die privaten Wachgesellschaften verfügen mit etwa 300000 Wächtern und Beschäftigten inzwischen über mehr Personal als die Polizei (134000 Beamte).3 Auch im nichtweißen Milieu ist eine wachsende Zahl von Privatmilizen zu verzeichnen.
Auf dem Land zählt der Verein zur Selbstverteidigung Mapogo – von einem Schwarzen gegründet, der die Auspeitschung von Delinquenten propagiert – knapp achtzig Filialen. In Kapstadt haben sich einige schwarze Muslime zu der Organisation „Das Volk gegen Gangstertum und Drogen“ (Pagad) zusammengeschlossen. Diese bekämpft offen die Polizei und schreckt auch vor Attentaten nicht zurück, um das Land, wie sie verkündet, „unregierbar zu machen“. Die Pagad steht im Verdacht, für Bombenanschläge verantwortlich zu sein, die als Vergeltungsmaßnahmen für die US-amerikanischen Luftangriffe im Sudan und in Afghanistan im vergangenen August verübt wurden.
Vor diesem Hintergrund mußte die Rivalität zwischen den politischen Gruppierungen zwangsläufig zu blutigen Auseinandersetzungen führen, insbesondere in KwaZulu (der ehemaligen Provinz Natal), wo sich vor den allgemeinen Wahlen von 1994 die Kämpfer des Inkatha-Häuptlings Mangosuthu Buthelezi und die Anhänger des ANC einen regelrechten Guerillakrieg geliefert hatten.
Am militantesten sind inzwischen die Kämpfer der Vereinigten Demokratischen Bewegung (UDM). Bei dieser kürzlich gegründeten Organisation handelt es sich um eine multirassische Partei unter der gemeinsamen Führung des Schwarzen Bantu Holomisa, der den linken Flügel des ANC angeführt hatte, und des Weißen Rolf Meyer, eines Überläufers aus der Nationalpartei des ehemaligen Präsidenten Frederik de Klerk.4 Im Juli 1998 eskalierten die Feindseligkeiten zwischen ANC und UDM, und bei Zusammenstößen in der Nähe von Richmond wurden über vierzig Menschen getötet. Nach der Ermordung eines der „Warlords“ von Richmond, der vom ANC ausgeschlossen worden und zur UDM übergelaufen war, kam es im Januar dieses Jahres zu erneuten Gewaltausbrüchen; ein Dutzend Tote waren die Folge.
Mit der Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Lage nimmt die Gewalt zu. Das 1994 gestartete Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramm brachte nur mäßigen Erfolg. 1997 wurde es vom GEAR (Growth, Employment and Redistribution) abgelöst, doch auch dieses Programm konnte seine Versprechen nicht erfüllen. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sank von 2,4 Prozent im Jahre 1997 auf unter 1 Prozent im Jahre 1998. Die Inflation der Landeswährung Rand – der in den letzten zehn Jahren insgesamt 50 Prozent seines Werts einbüßte – hat sich im letzten Sommer weiter beschleunigt.
Diese Baisse begünstigt die Exportwirtschaft und den Tourismus, schreckt jedoch die ausländischen Investoren ab. Sie gefährdet die Wiederankurbelung einer Wirtschaft, die bereits vom Verfall des Goldkurses schwer angeschlagen ist. Südafrika ist nach wie vor der größte Goldproduzent der Welt, obwohl die weniger rentablen Minen inzwischen geschlossen wurden. Die Lage der Weltwirtschaft läßt den Pessimismus der wohlhabenden Südafrikaner noch weiter anwachsen; das gilt vor allem für diejenigen, die ihr Geld an der Börse investiert haben, also für den vorwiegend weißen Mittelstand.5
FAST 10 Prozent der Unternehmen, die an der Börse von Johannesburg notieren, gehören heute schwarzen Unternehmern, und die Wirtschaft setzt auf die Herausbildung einer schwarzen Mittelschicht. Ben Turok, Ökonom und Abgeordneter des ANC, erläutert Absicht und Wirklichkeit: „Wir sind nicht daran interessiert, daß ein paar schwarze Geschäftsleute in den Kreis der weißen Privilegierten vordringen, weil ihre Unternehmen an die Börse gegangen sind... Die Regierung ist bestrebt, die Ungleichheit zu verringern und den Wohlstand umzuverteilen. Die bisher erzielten Resultate sind allerdings nicht unbedingt überzeugend.“6
Im Rahmen des GEAR sollten 400000 Arbeitsplätze geschaffen werden, statt dessen ist die Arbeitslosigkeit weiter angestiegen. 1995 waren 30 Prozent der aktiven Bevölkerung arbeitslos, Ende 1998 lag die Arbeitslosenrate bei 35 Prozent – eine der höchsten der Welt. Die schwarze Bevölkerung ist wesentlich stärker betroffen, in der Altersgruppe der 18- bis 25jährigen ist jeder zweite arbeitslos. Die Behörden machen zudem verschärft Jagd auf illegale Einwanderer, die vorwiegend aus den Nachbarländern stammen: In den ersten acht Monaten des Jahres 1998 wurden 100000 Immigranten festgenommen.
Erst im letzten Juli regte sich Widerstand gegen diese fatale Entwicklung: Der Kongreß der Kommunistischen Partei (SACP) – die mit dem ANC schon immer verbündet war und zwei Minister in der Regierung sowie achtzig Abgeordnete in der verfassunggebenden Versammlung stellt – wandte sich gegen die vom GEAR propagierte Fortsetzung der Privatisierung staatlicher Unternehmen und gegen die Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Nelson Mandela und später auch Vizepräsident Thabo Mbeki, der vor den Wahlen von 1994 diskret von der SACP zum ANC übergewechselt war, bezeichneten die Kritik als „beleidigend“ und forderten die SACP auf, die Regierung zu verlassen. Doch zu den Vorwürfen der Kommunistischen Partei gesellten sich alsbald die Vorwürfe des mächtigen Gewerkschaftsbunds Cosatu (1,5 Millionen Mitglieder), des zweiten Verbündeten des ANC: Die große Mehrheit der südafrikanischen Bevölkerung habe bis heute noch nicht vom Ende der Apartheid profitiert Das Dreierbündnis von ANC, SACP und Cosatu ist aus dieser Krise lädiert hervorgegangen.
Die großen Wahlmanöver haben bereits begonnen, obgleich es keine Zweifel gibt, daß der designierte Kronprinz Thabo Mbeki das Rennen machen und der Afrikanische Nationalkongreß die Mehrheit in der Nationalversammlung behaupten wird – zur Zeit hält er 252 von 400 Sitzen. Wird der ANC sich Bündnispartner aus dem rechten Spektrum suchen, um den Sympathieverlust bei seinen alten Verbündeten wettzumachen? Mbeki fährt schlauerweise auf zwei Gleisen: Er ging zwar das Risiko einer Annäherung an die Inkatha ein, köderte aber zugleich den linken Flügel, indem er nicht nur Winnie Mandela, sondern auch den Führern der SACP und der Cosatu sichere Plätze auf der ANC-Liste einräumte. Der ANC wird sich aber nicht nur mit der Inkatha, der SACP und der UDM messen müssen, sondern auch mit der Nationalpartei.
Nach Meinungsumfragen könnte die Nationalpartei die Hälfte ihrer Sitze an die DP (7 Abgeordnete) verlieren, die Nachfolgerin der Fortschrittspartei PFP, die zu Zeiten der Apartheid die liberalen Weißen vereinte. Wie viele Stimmen die SACP nach ihrem turbulenten Kongreß erlangen wird, ist nicht vorauszusehen. Nelson Mandela genießt nach wie vor das Vertrauen der schwarzen Bevölkerung, und Thabo Mbeki konnte sich als Staatsmann profilieren.
Unterdessen hat der ANC in dem Streit um die Veröffentlichung des Berichtes der „Wahrheits- und Versöhnungskommission“7 , deren Vorsitz der anglikanische Erzbischof und Träger des Friedensnobelpreises Desmond Tutu innehatte, an Prestige eingebüßt. Die Kommission untersuchte neben den Greueln und Folterungen, die von der Polizei während der Apartheid-Zeit begangen wurden, auch die schweren Unterdrückungsmaßnahmen, die der ANC in seinen externen Lagern an jenen Kämpfern verübte, die er als Doppelagenten verdächtigte. Der ANC unterstellte der Kommission daraufhin „unlautere Absichten“ und versuchte erfolglos, die Veröffentlichung des Berichtes hinauszuzögern, bis Nelson Mandela ihn „so wie er war, mit all seinen Mängeln“, öffentlich anerkannte.
Auch wenn Nelson Mandela ein großes Beispiel ist, hat er sich mittlerweile die Feindschaft zweier Staatsmänner zugezogen, für die er, wie man denken sollte, eigentlich hohe Wertschätzung besitzt: die des ehemaligen südafrikanischen Staatschefs Frederik de Klerk und die von Robert Mugabe, dem Präsidenten Simbabwes. De Klerk, mit dem Mandela 1993 gemeinsam den Friedensnobelpreis verliehen bekam, hat soeben eine Autobiographie veröffentlicht, in der er die tiefe gegenseitige Abneigung schildert.8 Die heimliche Rivalität mit Mugabe, die zuletzt in der unterschiedlichen Haltung gegenüber dem kongolesischen Präsidenten Laurent-Désiré Kabila zum Ausdruck kam, reicht hingegen weit zurück.9
Während des Kalten Krieges wurde der ANC von der Sowjetunion unterstützt, die ZANU (Nationale Afrikanische Union von Simbabwe) Robert Mugabes dagegen von Peking. Die ZANU stand in Südafrika auf seiten des Panafrikanischen Kongresses, der dem ANC die Führungsposition im Kampf gegen die Apartheid streitig machte. Bis 1990 war Mugabe einer der führenden Vertreter der gegen die süafrikanische Apartheidregierung gerichteten Staatenfront, doch dann, nach Mandelas Freilassung drängte ihn dieser in die zweite Reihe zurück.
In Anbetracht all dessen ließ die Intervention der südafrikanischen Armee in Lesotho im September 1998 den Argwohn aufkommen, Pretoria wolle das kleine Königreich, in dem derzeit ein gewaltiges System von Staudämmen gebaut wird, mit dem Ziel annektieren, die eigene prekäre Wasserversorgung zu verbessern. Interessanterweise schloß sich nur Botsuana der südafrikanischen Intervention an. Botsuana wiederum hat einen verdeckten Konflikt mit Namibia10 , welches gemeinsam mit Simbabwe und Angola der Regierung von Laurent-Désiré Kabila zu Hilfe geeilt war. Die innerhalb der Entwicklungsgemeinschaft Südliches Afrika (SADC) bestehende Kluft zwischen den Partnern Simbabwe-Namibia einerseits und Südafrika-Botsuana andererseits ist ein schlechtes Vorzeichen für die Zukunft der regionalen Ordnung, die von Südafrika stark dominiert wird. Zu den Prioritäten auf der Tagesordnung von Thabo Mbeki wird sicherlich gehören, den Groll seiner Partner im südlichen Afrika zu besänftigen.
dt. Andrea Marenzeller
* Journalist