12.03.1999

Appelle an Ankara sind nur fromme Wünsche

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Appelle an Ankara sind nur fromme Wünsche

VERSCHIEDENE Interessen wirkten zusammen, als der Kurdenführer Abdullah Öcalan nach seiner Flucht quer durch Europa in Nairobi landete, wo er in die Hände der türkischen Verfolger fallen mußte. Wie diese Interessen aussehen und was sie beeinflußt hat, ist im Detail noch unklar. Klar ist jedoch die Verantwortung der EU-Länder, die Öcalan weder aufgenommen noch vor Gericht gestellt haben. In Westeuropa leben 850000 kurdische Flüchtlinge. Aber was tun diese Länder, um dem Krieg gegen die Kurden Einhaltzu gebieten und dieser unterdrückten Minderheit zu einem Minimum an Selbstbestimmung zu verhelfen? Diese Frage stellt Kendal Nezan, ein unabhängiger kurdischer Intellektueller, der sich noch im November 1998 mit Öcalan in Rom unterhalten hat.

Von KENDAL NEZAN *

Nach viermonatiger Irrfahrt quer durch Europa wurde Abdullah Öcalan am Ende der türkischen Regierung ausgeliefert. Am 15. Februar wurde er in Kenia gefaßt und in die Türkei überführt, wo er seitdem in der Strafanstalt Imrali inhaftiert ist. Auf dieser Gefängnisinsel, die vorwiegend den zum Tode Verurteilten vorbehalten ist und wo 1960 der ehemalige demokratische Ministerpräsident Adnan Menderes und zwei seiner Minister hingerichtet wurden, soll auch das Urteil über den Führer der kurdischen Arbeiterpartei PKK, der seit 1984 einen bewaffneten Kampf führte, gesprochen werden.

Die Kurden fühlen sich in ihrer Gesamtheit gedemütigt und verhöhnt, und sie wiederholen bis zum Überdruß das Sprichwort, mit dem sie ihre schlechten Zeiten erklären: „Die Kurden haben keine Freunde.“ Für die meisten von ihnen ist der Führer der PKK, auf den eine regelrechte Menschenjagd veranstaltet wurde, zum Opfer einer türkisch-amerikanisch- israelischen Verschwörung geworden, und dies unter Beihilfe der griechischen und der kenianischen Regierung. Aus dieser Überzeugung resultierte ihre Wut und die Welle von bisweilen gewaltsamen Demonstrationen gegen die diplomatischen Vertretungen dieser Länder in Europa, im Nahen Osten und im Kaukasus. Diese Demonstrationen werden sich möglicherweise fortsetzen und radikalisieren. Als „Vorbeugemaßnahme“ hat Ankara innerhalb einer Woche fast 2000 kurdische und türkische Menschenrechtskämpfer festnehmen lassen und den internationalen Medien den Zugang zu den kurdischen Gebieten untersagt.

Dieselben europäischen Länder, die zahlreichen korrupten und blutrünstigen Diktatoren der südlichen Hemisphäre Aufnahme gewähren, haben vor dem Kurdenführer ihre Haustür verschlossen. Dabei spielte sowohl der Druck aus Washington eine Rolle als auch die Angst vor wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen der Türkei, insbesondere auf dem Gebiet der Waffenverkäufe. Die kenianische Führung, die einem Land am Rande des finanziellen Zusammenbruchs vorsteht und der die USA nach dem mörderischen Attentat auf die amerikanische Botschaft in Nairobi ihre laxe Haltung vorgeworfen haben, hat die ihr zugedachte Aufgabe bereitwillig erfüllt, zumal man ihr wirtschaftliche und politische Gegenleistungen versprochen hatte.

Die Rolle Athens in dieser Angelegenheit ist weitaus verschwommener. Der angebliche „Verrat“ an Öcalan löste in der öffentlichen Meinung Griechenlands, die in weiten Teilen prokurdisch ist, ein wahres Erdbeben aus, und Ministerpräsident Kostas Simitis mußte drei seiner Minister opfern, darunter den Außenminister Theodoros Pangalos. Bisher konnten die Behörden keinerlei befriedigende Erklärung dafür geben, aus welchen Beweggründen sie Öcalan am 2. Februar nach Kenia geschickt hatten. In ein Land also, von dem man weiß, daß es eine Spielwiese der israelischen Nachrichtendienste und für US-amerikanischen Druck ausgesprochen anfällig ist. Auch über die Bedingungen, unter denen die griechischen Diplomaten Öcalan den kenianischen Behörden überlassen haben, liegen keine klaren Aussagen vor. Türkische Zeitungen spekulieren, Athen könnte sich zur „Übergabe“ von Öcalan bereitgefunden haben, als Gegenleistung dafür, daß Amerikaner und Türken der Aufstellung der von Zypern gekauften russischen S-300-Raketen auf Kreta zustimmen.

Die USA, die seit dem aufsehenerregenden Fiasko ihrer geheimen Operationen im Irak im Jahre 1996 danach trachten, eine neue Strategie zum Sturz des irakischen Regimes zu entwickeln, brauchen mehr denn je die Kooperationsbereitschaft des Nato-Mitglieds Türkei, und dies insbesondere für die Benützung der Militärbasis von Incerlik. Um Ankara einen Gefallen zu tun, hat Washington die PKK auf die Liste terroristischer Organisationen gesetzt, obwohl die PKK bisher noch kein einziges Attentat gegen US- amerikanische Ziele unternommen hat. Und nebenbei bemerkt: Ist nicht der einst so verunglimpfte Exterrorist Jassir Arafat heute ein guter Freund von Präsident Bill Clinton?

„Mein Volk wird mich rächen“

Für die USA stellt die PKK auch ein Haupthindernis für die Umsetzung der Friedensvereinbarung dar, welche 1998 unter der Ägide von Madeleine Albright zwischen den zwei wichtigsten kurdischen Parteien des Irak getroffen wurde. Denn Syrien und der Iran benützen die PKK, um sich der Pax americana zu widersetzen. Noch allgemeiner gesagt: In den Augen der US-amerikanischen Regierung sind die Kurden „verloren und nicht mehr zu retten“; man betrachtet sie als „Feinde, die vernichtet werden müssen“. Und dies alles mit dem Ziel, die fortschreitende Demokratisierung des türkischen Regimes und seine Integration in die europäische Union zu fördern.

Israel behauptet, nicht direkt an der Operation gegen Öcalan beteiligt gewesen zu sein. Und doch war es der israelische Geheimdienst Mossad, der im Oktober 1998 die türkische Regierung zuerst von der Ankunft des Kurdenführers in Moskau unterrichte. Bekannt ist auch, daß israelische Berater die türkischen Spezialeinheiten betreuen, die gegen die PKK kämpfen. Am 4. Februar 1999 schrieb der sehr einflußreiche Kolumnist William Safire in der New York Times von einer Zusammenarbeit der amerikanischen und israelischen Geheimdienste, um den „bösen Kurden Öcalan“ festzunehmen.

Im Gegensatz zu ihren osmanischen Vorgängern, die sich aus Achtung für den Gegner darauf beschränkten, die rebellischen Kurdenführer zu deportieren, haben die türkischen Machthaber alle Anführer der kurdischen Aufstände des 20. Jahrhunderts zum Tod verurteilt und gehängt. Wenn sich die heutige Regierung an diese Tradition hält, die von Kemal Atatürk höchstpersönlich eingeleitet wurde, müßte Öcalan nach einem rein formalen Prozeß im April 1999 nach Artikel 125 des Strafgesetzes wegen Hochverrats zum Tod verurteilt und hingerichtet werden. Es sei denn, der internationale Druck wäre außergewöhnlich stark – oder der Kurdenführer würde kapitulieren, womöglich unter der Einwirkung von Drogen, die seine durch die Irrfahrten der letzten Monate ohnehin geschwächte Persönlichkeit zerstören.

Mehrere westliche Länder haben an die Regierung in Ankara appelliert, sich an die Regeln eines gerechten Prozesses zu halten. Doch sind dies bloß fromme Wünsche, wenn man die Tatsache bedenkt, daß die Justiz dieses Staates den Intellektuellen Ismail Besikci wegen seiner Schriften über die Kurden zu zweihundert Jahren Gefängnis verurteilen konnte. Auch die Appelle zugunsten eines gerechten Urteils für die kurdischen Abgeordneten im Jahre 1994 konnten nicht verhindern, daß diese wegen ihrer Gesinnung zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurden. Im übrigen werden dieselben Staatsanwälte und Richter des Gerichtshofes für Staatssicherheit, die für die Verurteilung dieser kurdischen Abgeordneten verantwortlich waren, auch über Öcalan zu Gericht sitzen. Und zwar nach Gesetzen und Verfahrensweisen, die mit den europäischen Menschenrechtskonventionen unvereinbar sind, die von der Türkei selbst unterschrieben wurden.

Diejenigen, die es vergessen haben sollten, wollen wir daran erinnern, wie sich die Hinrichtung des legendären Anführers der kurdischen Rebellion von 1937, Seyit Riza, abgespielt hat. Dieser war am 5. September 1937 in die Hände der türkischen Truppen gefallen. Um das Ereignis zu feiern, beschloß Atatürk, sich am 30. November in die Region zu begeben, offiziell um eine Brücke über den Euphrat einzuweihen. Ihsan Sabri Caglyangil, der am Ende der siebziger Jahre Präsident der Republik werden sollte, hatte damals durch seine Nachrichtendienste erfahren, daß lokale Honoratioren bei dieser Gelegenheit den „Vater der Nation“ mit der Bitte um das Leben des Verurteilten „belästigen“ wollten. In seinen Memoiren schreibt er: „Auf der Stelle wurde ich von der Regierung entsandt, um zu erreichen, daß die Verurteilten, welche gehängt werden sollten, noch vor dem Besuch Atatürks hingerichtet würden.“1

Nach seiner Ankunft am Freitag abend, 27. November, begibt sich Caglayangil zum Staatsanwalt, der ihm erklärt, daß der Gerichtshof nicht an einem Samstag, also einem Feiertag, zusammentreten könne. Auf den Rat des stellvertretenden Staatsanwalts, eines ehemaligen Studienkollegen, sucht er den Gouverneur auf, der den Ersten Staatsanwalt „beurlaubt“. Hierauf wendet er sich an den Richter, der seinerseits bestätigt, daß er – laut Gesetz – das Gericht nicht vor Montag, 30. November, einberufen kann. Dennoch wird dieses noch in der Nacht zum Montag zusammengeholt, und zwar in einem Saal, der von Sturmlampen erleuchtet ist. Entsprechend den erhaltenen Anweisungen verurteilt das Gericht den Kurdenführer und sechs seiner Anhänger zum Tode.

Das Urteil ist unwiderruflich, und General Abdullah Pascha, die oberste militärische Autorität der Region, hat die Bestätigung dieses Urteils im voraus auf einem nichtamtlichen Stück Papier unterzeichnet. Die sieben Verurteilten werden also um drei Uhr morgens zu dem Gerüst mit den Galgen geführt, das auf einem von den Scheinwerfern der Polizeifahrzeuge erleuchteten Platz errichtet ist. Der alte Kurdenführer, ein fünfundsiebzigjähriger Mann, steigt auf das Gerüst, stößt den Henker zurück, legt sich selbst den Strick um den Hals und schreit: „Ihr seid noch nicht fertig mit den Kurden. Mein Volk wird mich rächen!“ Am nächsten Tag beginnt Atatürk sein Besuchsprogramm. Unter Wahrung der Form ist Recht gesprochen worden, man hat die kurdische Rebellion „endgültig in den Griff bekommen“.

Die PKK gibt sich keinen Illusionen hin und bereitet ihre Anhänger bereits auf ein verhängnisvolles Ende vor, indem sie folgende Worte hervorhebt, die Öcalan zugeschrieben werden: „Mein Tod wird der kurdischen Sache noch mehr dienen als mein Leben.“ Ein Präsidentschaftsrat der PKK, zu dem insbesondere Cemil Bayik, die Nummer zwei der Organisation, sowie „Apos“ Bruder Osman Öcalan und Murat Karayalcin gehören, hat am 18 Februar im kurdischen Sender MED-TV ein Communiqué verlesen lassen, das zur „Ausweitung des Krieges auf alle zivilen und militärischen Ziele in der Türkei und in Kurdistan und zur Fortsetzung der friedlichen Demonstrationen im Ausland“ aufruft.

Die Vertreter dieser neuen Richtung meinen in der Tat, daß „alle Mitglieder der PKK von nun an wie Fedajin leben und kämpfen werden“, daß „die Türkei keinen Grund hat, sich zu freuen“, und daß „ihr Öcalan bald bitter fehlen wird, der doch alles getan hat, um zu verhindern, daß der Konflikt zwischen seinen Anhängern und der türkischen Armee zu einem türkisch- kurdischen Krieg ausartet.“ Die Presse der PKK veröffentlicht zu diesem Thema regelmäßig Leitartikel, die zu einer Radikalisierung des Kampfes aufrufen. Der Tenor dieser Artikel lautet: Da die Welt für die Kurden zur Hölle geworden ist, machen wir sie doch zu einer Hölle für die Türken und ihre westlichen Verbündeten! Jeder Kurde möge zu einer wandelnden Bombe werden, bis unser Opfer den Menschen in aller Welt endlich die Augen für die kurdische Tragödie öffnet.

Es wäre falsch, diese der Verzweiflung entspringenden Drohungen auf die leichte Schulter zu nehmen. Tausende, vielleicht Zehntausende Kurden sind durchaus bereit, blinde Gewalttaten zu begehen. Aber die Türkei bleibt taub gegenüber den elementarsten Forderungen, zu denen beispielsweise die Anerkennung der sprachlichen Rechte gehört. In einer Erklärung in der Tageszeitung Milliyet hat Präsident Süleyman Demirel jegliche Öffnung der türkischen Kurdenpolitik abgelehnt und gesagt, den Kurden das Recht auf eigene Schulen und Medien in ihrer Sprache zuzugestehen könne nicht in Frage kommen, weil dies zur „Teilung des Landes“ führen würde. Nach der Meinung seines Premierministers, eines „linken“ Ultranationalisten, der für die Invasion in Zypern im Jahr 1974 verantwortlich ist, wird Öcalans Ergreifung „endgültig zur Lösung der angeblichen Kurdenfrage führen, die doch nur von ausländischen Zentren in die Welt gesetzt wurde“.

Etwa 850000 Kurden leben heute in den verschiedenen westeuropäischen Ländern. Der ständige, durch den Krieg verursachte Zustrom an Flüchtlingen macht es immer schwieriger, die öffentliche Ordnung zu wahren. Angesichts dieser Tatsachen muß es eigentlich im Interesse der westlichen Regierungen liegen, in Ankara zu intervenieren. Sie allein können die Türkei dazu zwingen, den 15 Millionen Kurden dieses Landes einen annehmbaren Status zuzuerkennen. Dieser könnte übrigens duchaus dem Status ähnlich sein, den die internationale Kontaktgruppe gerade Serbien aufzuzwingen versucht, wo es darum geht, 1,8 Millionen Kosovo-Albaner zu schützen. Von einer westlichen Politik, die „mit zweierlei Maß mißt“, haben die Kurden inzwischen genug. Sollen sie denn – an der Schwelle zum 21. Jahrhundert – das einzige Volk der Welt mit einer ähnlichen zahlenmäßigen Bedeutung bleiben, dessen Existenzrecht nicht anerkannt wird?

dt. Dorothea Schlink-Zykan

* Präsident des Kurdischen Instituts in Paris

Fußnote: 1 Ihsan Sabri Caglayangil, „Anilarim“ (Memoiren), Istanbul (Yilmaz Yayinlari) 1990.

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von KENDAL NEZAN