12.03.1999

Die Verdatung der Lebenswelt als Erlösung vom geopolitischen Chaos

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Die Verdatung der Lebenswelt als Erlösung vom geopolitischen Chaos

VOR kurzem wurde in Frankreich ohne jede öffentliche Debatte ein Gesetz verabschiedet, das dem Fiskus Zugriff auf sämtliche Sozialversicherungsnummern gewährt. Geplant ist auch die Erstellung einer computergestützten polizeilichen Superdatei. Grund genug, um sich abermals Gedanken über die stets wiederkehrende Versuchung einer Totalerfassung der Gesellschaft zu machen. Die „freiheitvernichtende“ Faszination für den transparenten Bürger hängt dabei nicht allein mit der eindeutigen Tendenz der Staatsächte zusammen, alles und jeden zu kontrollieren. Sie hat ihren Ursprung auch in der allgemeinen Neigung, den Schwierigkeiten der direkten Auseinandersetzung die mediale Vermittlung vorzuziehen.

Von DENIS DUCLOS *

„Mir wurde gesagt, ich bräuchte in meinem Büro kein Wörterbuch, weil ich alles aus dem Web ziehen könne.“

„Ich habe herausgefunden, daß die Sekretärin unserer Abteilung problemlos den Papierkorb meines E-Mail-Programms leeren kann. Jeder denkt, sein Computer sei sein privates Ding und vor den Blicken anderer geschützt. Das Gegenteil ist der Fall.“ (Aussagen von mittleren Angestellten)

Der weitverbreitete Gebrauch des Computers in der Freizeit zeugt von dem Wunsch, in virtuelle Welten einzutauchen. Die Anstöpselung ans Netz ermöglicht den Kontakt und die Verschmelzung mit anderen Menschen in einer gedanklichen Kollektivwelt. So entsteht das Bild einer sich selbst regulierenden Maschine, die ein Deutungsmuster der Welt erzeugt, das sich auf den Körper und die Handlungen aller Lebenden anwenden läßt. Ihm will sich der Adept der informationsgesteuerten Gesellschaft (der Info-Anthrop) anverwandeln. Und er bereitet sich darauf vor in den – jedem demokratischen Ideal hohnsprechenden – Laboratorien des Herdenverhaltens, zu denen zahlreiche Großunternehmen längst mutiert sind. Er akzeptiert und nährt sich von der Idee einer die Körper bestimmenden automatischen Intelligenz, die wie die menschliche Intelligenz aus dem Zusammenspiel der Neuronen entsteht: Ein Geist, bestehend aus Körpern; ein Körper, der angeblich Geist ist.

„Beim geplanten Umzug der leitenden Angestellten vom Point-du- Jour1 darf jeder nur zwei Kartons mitnehmen. Wir werden in Großraumbüros untergebracht, und jeder bekommt einen Terminal. Es wird kein einziges Buch, kein Blatt Papier, kein persönliches Foto mehr geben. Überall nur makellose, leere Sauberkeit. Wir gliedern uns ein in die Armee der Namenlosen. Ich persönlich erlebe das als Herabsetzung, es erinnert mich an Brazil.“ (Renault-Manager)

„Reiner Körper, klares Denken“, verspricht die Scientology-Kirche ihren Anhängern. Als Kulturideal zeugt der Informatismus – eine Wortbildung in Anlehnung an „Darwinismus“ – von jenem Wunsch nach Beseitigung alles Unreinen, dessen Realisierung über die Auflösung alles Körperlichen vonstatten geht. Anders als im klassischen Phantasma, das Geld mit Abfall gleichsetzt, verleiht die ständige Aktualisierung der Gewinne und Verluste dem Zahlungsmittel Ewigkeitscharakter und verhindert seine Verwandlung in Müll (wie es noch immer geschehen kann, etwa wenn sich die Rubelpresse zu schnell dreht). Ein Klick auf den Papierkorb, und schon ist die Vernichtung perfekt. Nichts bleibt mehr übrig, kein Kadaver, keine sichtbare Grube. Endlich sind wir rein.

Die digitale Welt ist aber nicht nur rein – das Pixel entweder hell oder dunkel, der Binärzustand entweder „0“ oder „1“, Ein oder Aus –, sie versichert uns auch einer unbezweifelbaren Existenz, einer Existenz des Akkumulierens. Das Videospiel, das mit „Millionen von Farben“ und „dreidimensionalen Animationen“ aufwartet, ist gleichwohl nur ein Zählmechanismus, der die gewonnenen Punkte verzeichnet und gegebenenfalls zu anderen Zählebenen Zugang gewährt. Die Unersättlichkeit der menschlichen Bedürfnisse findet ihre Antwort hier nicht in einem konkreten Gegenstand, sondern in einem vielfältig sich verzweigenden Immer-mehr (Festplatten mit ausufernden Kapazitäten, Videospieler mit zahllosen Leben, Börsengewinne und –verluste im ewigen Auf und Ab usw.). Die Hölle für den elektronisch Kommunizierenden ist der Verlust des Grenzwerts, bei dem er mit dem Zählen beginnen kann. Nicht die Vernichtung eines Bilds oder Texts ist ein irreparabler Schaden, sondern der Verlust ihrer Spur. Befindet sich eine Person oder Datei nicht an ihrem Platz, kommt alles durcheinander, denn das Subjekt klammert sich an die Ordnerhierarchie und die logische Architektur als Beweis seiner eigenen Existenz. Es mag als Rädchen vereinnahmt und als numerierter Nutzer einer Rubrik (“Freiheit“, „Erotik“, „Börse“, „E-Commerce“, „Newsgroups“ usw.) ausgewertet werden – aber es existiert.

Das Binäre macht uns auf ewig berechenbar, und gleichzeitig zu Berechnern des Ewigen. Wo das blitzartige Umschalten zwischen „0“ und „1“ uns in die Lage versetzt, im Nu auf die verborgensten Informationen zuzugreifen, verlängert sich der Suchvorgang merkwürdigerweise ins Unendliche. Je einfacher er wird, desto langsamer, gewundener und unabschließbarer wird die Methode, um dies Einfache festzulegen. Je mehr physischer Speicher zur Verfügung steht, um so mehr zerbricht sich Microsoft über noch aufgeblasenere Shadok-Programme den Kopf, um die Kreativität immer schon als suspekt geltender Nutzer zu bremsen.2 Je mehr kommuniziert wird, desto größer der Bedarf an Chiffrierschlüsseln.

In dem Maße, wie die allgemeine Sicherheit und Risikolosigkeit sich als soziales Ideal der Kybernetik zu erkennen gibt, wird der eigentliche Sinn dieser Sicherheit deutlich: Der Akt darf nie zum Abschluß kommen. Nichts gleicht dem Stottern, der an Aphasie gemahnenden Unfähigkeit zur Tat so sehr wie die labyrinthische Erfahrung mit den „Bugs“: Findet sich keiner im Programm, steckt er mit Sicherheit in der Hardware. Ist auch die okay, treibt Sie der gestreßte Verkäufer zum Wahnsinn, indem er Ihnen das falsche Produkt verkauft. Wenn alles schließlich läuft, kommt von oben der Bescheid, sämtliche Computer des Unternehmens seien auszuwechseln, und der Spieler muß auf „Los“ zurück.

Die Trägheit des Subjekts

AUCH wenn der Kapitalismus sich laufend computerisiert, produziert er deshalb keineswegs intelligenter. Vielmehr ruht er sich auf seiner properen Buchhaltung aus, die keinen anderen Gegenstand hat als sich selbst. Er löscht aus seinen Speichern die Börsenkrise, um mit frischem Elan der nächsten entgegenzusteuern, genauso wie der Computerspieler nach dem x-ten, im Moment seines Eintretens schon vergessenen Tod seines virtuellen Helden das Programm einfach neu startet.

Forscher haben den kolossalen Zeitverlust berechnet, den die Computerisierung der Gesellschaft mit sich brachte. Doch fasziniert, wie wir angesichts der Produktivitätszuwächse durch die „wohlinformierten“ Technologien waren, wollten wir von der bewegungslosen Zeitblase, in die sich diese Zugewinne wie in ein Faß ohne Boden ergießen, nichts wissen. Und zwar wollen wir deshalb nichts von ihr wissen, weil wir eine uneingestandene Leidenschaft für jenen Zustand der Inaktualität hegen – diese Trägheit des Subjekts, die durch die lineare Programmschleife mit der endlosen Wiederkehr des Gleichen garantiert wird.

Vorgeblicher Zweck der Computerisierung ist Leistungssteigerung. Tatsächliches Resultat ist eine ungeheure Gleichschaltung der Menschen im Takt von 233 Megahertz. Der Menschen soll ebenso hart und leer werden wie eine Festplatte, umstandslos Befehle annehmen und löschen, statt der Apparatschik-Sprache nun die Sprache gedruckter Schaltkreise beherrschen, er soll fehlerlos ausführen, was man ihn zu tun heißt, und als überaltert abtreten, sobald auch nur ein Anflug von Menschlichkeit hinter der mentalen Taylorisierung durchschimmert.

Da hatte die Apparatschik-Sprache wenigstens den Vorteil, daß man sich verhaspeln konnte.

„Als Ausgangspunkt betrachte ich eine allgemeine Einschätzung über die Zeitumstände, unter denen wir leben – sie läßt sich mit einem Wort zusammenfassen: Befriedung, oder – wenn man auf die Bedeutungsnuance des Synonyms Wert legt, worüber sich diskutieren läßt: Beruhigung.“3

Von Beruhigung zu sprechen, wenn die Serie ökologischer, ökonomischer und – bedingt durch die ultraliberale Hypnose – sozialer Mißstände nicht abreißt, scheint der Sachlage nicht gerecht zu werden. Tatsächlich stehen sich Zivilgesellschaft und Militärmacht gegenüber, irren in Europa und anderswo Menschen umher, die nirgends einen Ort und keine Aufenthaltspapiere ihr eigen nennen, fliegen die Steine der verschiedenen Intifadas bisweilen in unmittelbarer Nähe der artigen Demonstrationen französischer Schüler durch die Luft: Wer wollte das Beruhigung nennen? Dennoch trifft die Einschätzung ins Schwarze.

In einem weit umfassenderen Sinn als die von Marcel Gauchet notierte „Konfliktvermeidung im postrevolutionären Zeitalter“ erscheint „Beruhigung“ in unserer global orientierten Gesellschaft als einschläferndes Harmonieideal, als Mechanisierung des Geists, als Dahindämmern des Subjekts, kurz: als Funktionsbedingung der allgemeinen Ordnung.

Dieser Traum (einer Minderheit?) nährt sich von den Katastrophen der wirklichen Geschichte, die getragen sind von technischer Übermächtigkeit, Spekulation, Umweltverschmutzung, Armut. Je stärker die Bedrohung durch letztere wird, um so größer auch die Sehnsucht, den Streit zwischen ungezügeltem Liberalismus einerseits und Etatismus andererseits durch eine „technische“ Abmilderung ihrer jeweiligen „Auswüchse“ endlich beizulegen. Diese Hoffnung hegen die Anhänger des Profits ebenso wie die Befürworter staatlicher Regulierung. Wenn man nur brav ihren Rezepten folge, werde die Menschheit schließlich ohne Störungen, ohne Unterschiede, ohne panikartige Ängste, ohne Fehlinterpretationen, kurz: ohne Subjekte funktionieren. Daß die Marktpartei dabei den Regulierern den Rang abläuft, erklärt sich aus dem Umstand, daß erstere das mechanische Ideal, das unser globales Unbewußtes längst beherrscht, für sich zu vereinnahmen wußte. In der Tat wäre ein System, in dem das Vermögen der achtzig reichsten Personen der Welt das Bruttoinlandsprodukt von China übersteigt, nicht überlebensfähig, wenn nicht eine Mehrheit glauben würde, daß der freie Markt, gebührlich reguliert, eines Tages doch noch eine ausgewogene Entwicklung und gerecht verteilten Wohlstand zeitigen werde.

Wegen der Neigung des Ökonomismus zu destruktiver Instabilität kann das Ideal unserer Zeit schlußendlich nur Stabilität heißen. Als Verbraucher wie als Entscheidungsträger sind wir aufgerufen, die Schwankungen unserer Meinungen und Gefühle in eine vorhersehbare Regelmäßigkeit unserer Handlungsweisen zu kleiden. Dreihundert Jahre nach Hobbes sollte es doch möglich sein, eine geeignete wissenschaftliche Formel zu finden, um die menschlichen Neigungen in einen festen Rahmen einzubinden, ohne ihnen dabei allzu viel Gewalt anzutun.

Seit langem schon vertreten liberale Philosophen wie Albert Hirschmann die Ansicht, der Markt bezwecke, die Leidenschaften schematisch zu erfassen und an eine gewisse Regel rückzubinden; die Spieltheorie eines John von Neumann ihrerseits geht davon aus, daß vollständige Information das Handeln der Akteure besser regelt als Zwang, selbst wenn dieser ethischer Art sei. Nach Auffassung von Norbert Wiener, der diese Hoffnung bereits Ende der vierziger Jahre als Programm der Kybernetik formulierte, könne allein eine mathematische Maschine im Dienst des unvermeidlichen Weltstaats die wahre kommunikative Natur des Menschen herausprozessieren und ihn vor dem Chaos retten, in das ihn seine subjektiven Streifzüge unweigerlich stürzen.

Die Formel der „Betäubungs-Infokratie“ von heute, die in ihren groben Linien auf Wiener zurückgeht, besteht aus drei miteinander zusammenhängenden Elementen: dem binären Denken, der chemischen Betäubung des Subjekts und der Datenpolizei.

„Die Welt der Produktion, das heißt der Techniken und des Markts, hat gezeigt, daß erstmals in der Geschichte der Menschheit die Hypothese eines Stillstands des Denkens möglich ist und daß eine Abwesenheit des Symbolischen nicht unbedingt zum Stillstand des Lebens führt.“4

Der Mensch als Subjekt, als für seine Taten verantwortliches Wesen, steht in einer vom „Funktionieren“ faszinierten Zeit nicht länger im Ruch der Heiligkeit, sondern erscheint als Störfaktor, und dies sowohl im Bereich der Staatsgewalt (politische Entscheidung) wie auch auf dem Feld der Begierde (Warenkonsum). Wie der Theoretiker des Neoliberalismus Friedrich von Hayek ausführt, verstärkt der Bürokrat die Instabilität des Produktionsbereichs, indem er diesen zunehmend auf dem Altar pharaonischer Ausgaben opfert, die mit dem realen Bedarf, den mangels Marktbezug keiner mehr kennt, in keinem Zusammenhang stehen. Doch schon zeigt der freie Verbraucher einer durch den Fortschritt entfesselten Produktion (was Wiener so sehr fürchtete), wie unvorhersehbar seine Gelüste sind, und reißt die Wirtschaft im Schlingerkurs seiner Leidenschaften mit sich fort. Die Versuchung ist daher groß, das Subjekt überhaupt als Grundursache aller Unsicherheit an den Pranger zu stellen.

Die große intuitive Einsicht unserer Zeit – von Wiener bis Gauchet, aber auch schon bei Bakunin – ist, daß das Symbolische, jenes Dispositiv, das wir zwischen uns setzen, um uns selbst zu verorten, die Menschheit voll und ganz determiniert. Der mit dieser Intuition einhergehende Irrtum besteht indes in der Annahme, Symbolisches lasse sich à la carte fabrizieren und je nach gewünschtem Menschheitstypus oder anvisiertem Persönlichkeitsprofil zusammenbasteln. Um die Subjektivität wiederherzustellen oder weiterzuentwickeln, würde es genügen, so der falsche Schluß, ein „Vernunftprinzip“ zu konstruieren, eine kleine Maschine, die nach strengen Regeln Metaphern ausspuckt, ein organisierendes Signifikantensystem, das nach gemeinsamer Übereinkunft von jedem zu benutzen sei. Es würde genügen, diese Signifikanten, wie Jean- Pierre Changeux meint, mit der Wahrheitsfähigkeit wissenschaftlicher Aussagen zu versehen, und schon wäre die Lüge als Quelle allen Übels gebannt. Für die angewandte, die Datenwelt organisierende Philosophie ist das Wunder der „guten Symbolik“ indes bereits vollbracht, und zwar in Gestalt der kybernetischen Revolution, die die Ja-Nein-Sprache von „0“ und „1“ verallgemeinert, jeder Zweideutigkeit den Garaus macht und dank Rückkoppelungsschleife einen kumulativen Lernprozeß ermöglicht.

DER trotz aller Naivität verführerische Reiz des binären Ideals beruht indes auf einem simplen Trick: binär ist nur die Form der Aussage, nicht ihr Inhalt. Man verlangt von jedem Subjekt „nur“, daß es sich seine Tätigkeit ebenso wie die seiner Mitmenschen als eine Folge von Ja-Nein- Entscheidungen imaginiert. Jede Kontroverse wird durch die Zerlegung komplexer Sachverhalte in eine Aneinanderreihung einfachster Elemente aus dem Weg geräumt. Die persönliche Synthese erregt Mißtrauen, weil sie die Gefahr von Machtmißbrauch in sich birgt. Von Vertrauen keine Rede mehr: Unbarmherzig wird die Reihe bis zu dem Punkt zurückverfolgt, an dem man sich entscheiden muß, wobei eventuell ein inquisitorisches Verfahren zur Anwendung kommt, das der berühmt- berüchtigten Suche nach dem „vergrabenen Trauma“ recht ähnlich sieht. Steht der angenommene Sachverhalt einmal fest und besteht zum Streiten kein Anlaß mehr, dann bleiben disziplinierte Funktionsträger zurück, die nur mehr über die geeignete Methode diskutieren, anhand derer sie all jene Ja-Nein-Fragen schematisch zuordnen, deren Wichtigkeit andere Kollegen binärer Wahl bestimmt haben.

Dieser Kartesianismus billigster Ausführung trat zunächst als amerikanisches Exportprodukt in Erscheinung und demonstrierte den Willen der Vereinigten Staaten, alle Abweichungen in entfernten Regionen automatisch und zentral zu ermitteln. Angesichts des vom Liberalismus in Aussicht gestellten Absterbens des Staats bestand Bedarf an einer Ersatzdisziplin zur Behandlung jener unwägbaren Ausreißer im menschlichen Verhalten, die sich dem Markt, dem Recht oder der diplomatisch-militärischen Funktionszuweisung widersetzen. In diesem Sinn hat die binäre Normierung für die globalen Supervisoren den Vorteil, daß sie in leicht (maschinen-)lesbarer Form Informationen über das Tun und Lassen der lokalen Bevölkerungsgruppen zur Verfügung stellt. Aus der Sichtweise einer neuerlichen absoluten Herrschaft sind die Menschen offenbar leichter daran zu gewöhnen, sich beim Ausfüllen von Formularen, bei geschäftlichen oder politischen Verhandlungen und bei der Bewertung persönlicher Eigenschaften und Kompetenzen an ein und dieselben gleichförmigen Regeln zu halten. Es ist leichter, die Menschen in Kompilatoren von Nullen und Einsen zu verwandeln, als sie in einem Stadion in Reih und Glied aufzustellen und jedem ein Teilstück des überdimensionalen Führerkonterfeis in die Hand zu drücken. Die alte Methode des Totalitarismus barg noch zu viele Risiken: Schließlich konnte es geschehen, daß sich der Träger des Bildteils mit der „Warze auf der Nase des Führers“ falsch plazierte. Das wäre der ideale Job für Woody Allen gewesen. Zur „0“ oder „1“ zu mutieren oder ein Kästchen im Fragebogen anzukreuzen, der die meisten möglichen Situationen eines vorwegbestimmten Lebensrahmens auflistet, kann dagegen jeder. Wenn der Antagonismus auf einen Fehler reduzierbar ist, werden Fehler selten und Vergehen behandelbar; man braucht nur die Korrektur zu programmieren und den „Gehirncomputer“ neuzustarten.

In Anerkennung der Tatsache, daß das menschliche Gehirn fähig ist, die Funktionsweise eines Rechners nachzuahmen, modelt die Binärideologie den Menschen zum Programm, um ihn als Sicherheits-, Diagnose- und Produktionsfaktor zu installieren. Indem der einzelne neben der Maschine maschinenartiges Verhalten annimmt – nicht mehr in seinen Gesten, wie noch zu Zeiten des Taylorismus, sondern in seinem Kopf, durch gemeinsame Übernahme des Neusprech – vollzieht er einen weiteren Schritt im Prozeß der Zivilisation, insofern er die sozialtechnische Integrationsabsicht nun nicht mehr mit einem Vertrauensproblem belastet.

Weitab vom Medienspektakel hat sich diese Kultur der Justierung der Subjekte zu leistungsfähigen Funktionsträgern still und heimlich bereits auf zahlreichen Berufsfeldern breitgemacht. So basiert etwa das in alle Welt exportierte amerikanische Psychiatrie-Handbuch „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) auf dem sogenannten Entscheidungsbaumverfahren, das wie folgt funktioniert: Wenn Symptom x = ja und wenn nicht Symptom x = nein, dann Syndrom z. Ebenfalls Verwendung findet der logische Baum bei der Planung von industriellen Großbaustellen und bei der „Risikoanalyse“ von Industrieanlagen mit hohem Gefahrenpotential. Darüber hinaus dient er in zunehmend mehr universitären Studiengängen zur Formulierung der Prüfungsbögen. Obwohl die Übersetzung einer gegebenen Situation in eine Liste von Ja-Nein- Parameter zu einer Verarmung der darzustellenden Realität führt, wird die immer breitere Anwendung des Entscheidungsbaumverfahrens mit angeblichen Qualitätsverbesserungen gerechtfertigt.

Wenn das endlich befriedete Leben dank der binären Justierung des Denkvermögens die Oberhand behalten soll, so behauptet gleichwohl niemand, daß dies ohne Stimulierung der menschlichen Hardware möglich sei. In einer Art erweiterten Informationstheorie stehen Körper und Großhirn über das Stammhirn in Verbindung, so daß sich in den Denkprozeß unvermeidlich immer wieder Gefühle einmischen. Doch daran soll die Sache nicht scheitern, denn die Computerisierung des Menschen kann sich problemlos verschiedener Palliativa (Linderungsmittel) bedienen. Im übrigen würde die durch Injektion von Molekülen hervorgerufene körperliche Lust, so sie gesellschaftlich kontrolliert wird, die soziale Befriedigung verlängern, zu der die binäre Reduktion der Symbolik führen soll. Das auf Lustgewinn programmierte Gehirn soll dazu gebracht werden, auch Binärinformationen als Quelle von Befriedigung zu erkennen. Um dies zu erreichen, werden seine natürlichen Reaktionen wie Appetit, Trunkenheit oder Aggressivität auf Situationen umgepolt, in denen die Binärnorm mit Lustgewinn assoziiert ist. Beispiele für solche Assoziationen sind Videospiele und Surfen im Internet.

Doch reicht die vom Bildschirm ausgehende Hypnose nicht aus, um eine vollständige kybernetische Lusterfüllung zu erzielen. Bekanntlich isoliert das Sitzen vor dem Bildschirm die Menschen im selben Maß, wie sie Teil einer abstrakten Netzgesellschaft werden. Streß, Angstzustände und Depression sind die Folge, und dies wiederum erfordert eine präzisere pharmakologische Behandlung. Die neurologische Forschung ist damit beschäftigt, das Nervensystem zu pazifizieren und sozial akzeptable Anpassungsprozesse in Gang zu setzen (zumindest gewinnt man diesen Eindruck bei der Lektüre von Sciences et Avenir oder The American Scientific). Prozesse wären dann wegen ihrer zu hohen Konfliktträchtigkeit nicht mehr gefragt, Schuld würde abgeschafft: Schon bald könnte jeder sein Doping à la carte wählen, und gefahrlose Befriedigung träte an die Stelle von toxischen oder moralischen Vergehen. Während der Friede im symbolischen Bereich durch die Erlernung von computerorientierten Rückkoppelungsschleifen geregelt würde, beträten wir mit Blick auf den Körper ein Zeitalter, in dem wir ihn, dessen bionische Sprache wir nun endlich verstehen, ohne Gewaltanwendung dazu bringen können, seinen hartnäckigen libidinösen Widerstand gegen alle Sozialhygiene aufzugeben. Die Sozialpolitik würde sich schließlich durchsetzen, indem sie Konsumbegierden und phobische Widerstände, Aggressivität und Passivität mittels informationstechnischem Management versöhnte.

Doch ungeachtet der Tatsache, daß das legale Doping die subjektive Anpassung erleichtert, muß der Mensch in seine Mutation zum „Binärwesen“ erst noch einwilligen. Er muß sich das System einverleiben wollen in Körper und Geist, so daß sie zu einer neuen Natur verschmelzen. Er muß seine „Neuformatierung“, wie es in Managementschulen heißt, als unabdingbare Notwendigkeit einsehen. Und er muß – in einem ganz anderen, aber durchaus benachbarten Bereich – akzeptieren, daß er fortan transparent ist, daß er für seine Schränke keinen Schlüssel mehr hat und die Tür offen lassen muß, wenn er eine Studentin zur Sprechstunde empfängt – damit „positiv“ erwiesen ist, daß sie sich nicht der Gefahr eines Traumas infolge einer eventuellen Vergewaltigung durch den Professor (oder irgendeinen anderen „symbolischen Vater“) aussetzt.

Für den Info-Anthropen, der zum Speichern und Verbreiten seiner eigenen Informationen zunehmend aufs Netz zurückgreift – der neue Macintosh-Computer „iMac“ besitzt kein Diskettenlaufwerk mehr –, besteht das virtuelle Objekt weniger im Besitz von Dingen als in der mystischen Teilhabe an etwas Transparentem. Wenn ich zum Binärwesen mutiere, muß ich mir klarmachen – obwohl mich niemand zu dieser notwendigen Einsicht zwingt –, daß diese Symbolik letztendlich die Bedingung der technologischen Demokratie ist und ich den Dingen daher keine allzu große persönliche Bedeutung beimessen sollte.

Das anspruchsvollste aller Moralurteile – Freud hätte gesagt: das unerbittlichste Über-Ich – erhebt sich demnach genau dort, wo das Befriedungsprojekt glaubte, jegliches Moralurteil durch einen extrem unpersönlichen Automatismus ersetzen zu können. In einem ungeheuerlichen Dressurakt soll sich ein jeder den Anforderungen der universellen Kommunikationsmaschine anpassen. Der stumme Zwang dieses kulturellen Wandels wird von den Eliten gefördert, die jenseits aller zivilbürgerlichen Legitimität ein Normenreich errichten, das um so prägender wirkt, als es unsichtbar bleibt; dieser Wandel vollzieht sich eher durch einen gemeinsamen Traum als durch irgendein Komplott von Microsoft oder der OECD.

Ein Blick auf die allgegenwärtigen ISO-Normen der International Organisation for Standardisation (ISO) mag dies erläutern. Auf den ersten Blick handelt es sich dabei lediglich um Normenvorschläge für Hersteller, um auf dem staatlich schwer kontrollierbaren Weltmarkt Mißtrauen abzubauen. Sie sollen von möglichst vielen Unternehmen akzeptiert werden, damit man überall auf dem Markt dieselben Qualitätskriterien vorfindet. ISO-Normen garantieren, daß bei der Herstellung von tiefgefrorenen Fertiggerichten ganz bestimmte hygienische Verfahren beachtet werden oder daß ein Lehrer in seinem Unterricht nach festgelegten pädagogischen Kriterien verfährt. Diese weitgehend binäre Kodifizierung, die auf Veranlassung internationaler Wirtschaftsinstitutionen erarbeitet und für Europa in Brüssel durchgesetzt wird, ist Teil eines allgemeinen „Zertifizierungstrends“ und drängt sich nun auch denen auf, die eigentlich nicht daran gebunden sind.

Schöne neue Datenwelt

DIESER Trend reicht von der zentralen Speicherung aller Kreditkartennummern zur Überprüfung der Volljährigkeit beim Zugriff auf bestimmte Websites bis hin zum weltweiten Verbot, in Atomkraftwerken Wein zu trinken, und vom Quiz, das in der Universität an die Stelle der klassischen Abschlußarbeiten tritt, bis hin zum Protokoll der Online- Hilfe für Surfer. Keine private oder öffentliche Tätigkeit, die sich nicht den vertraglichen Regelungen der internationalen Moralkodizes beugen müßte.

Und der Info-Anthrop spielt das Spiel bereitwillig mit. Je mehr er die Gewißheit gewinnt, der Binärglaube verheiße Erlösung vom geopolitischen Chaos, um so weniger akzeptiert er den Einspruch materieller oder psychologischer Instanzen. Gegen dieses vergangenheitsverhaftete Andere hegt er ein starkes Ressentiment, es soll verschwinden, wie der Neandertaler durch den Homo sapiens verdrängt wurde. In dem Maße, wie sich der Info-Anthrop dem Imaginären der großen Zahl anverwandelt, wünscht er die Auslöschung aller Identitäten, die die Vereinheitlichung der Protokolle verzögern und das Erlernen der neuen koine (Gemeinsprache) verlangsamen, die ihm als Einheitssymbolik eines einheitlichen Weltgehirns gilt. Früher oder später wird sich der neuronale und kognitive Kreuzzug autoritärer und eroberungssüchtiger Parolen erdreisten. Eine weltumspannende Disziplin profiliert sich da, die alle Ungläubigen, ob sie wollen oder nicht, in eine neue Kultur einzuspannen sucht, die dank der Leichtigkeit ihres Kommunikationsverkehrs und der strengen Einheitlichkeit ihrer Sprache endlich fähig sein soll, sich selbst in ihrer Unterschiedlichkeit zu erfassen. Die „neue Persönlichkeit“ unserer Zeit wird sich also weder zwanglos noch – wie man schon bald sehen wird – ohne Gleichschaltung durchsetzen. Der unvermeidliche Preis jener „Beruhigung“? Oder der Beweis dafür, daß sich die Subjektivität gegen ihre Reduktion auf ein System von Signifikanten sperrt und die rebellischen Köpfe und Körper daher durch Repression zur Räson gebracht werden müssen?

Das Pazifizierungsideal, das Moral und binäre Logik, Gerechtigkeit und transparente Information miteinander verschweißt, ist der Vernunftgesellschaft vielleicht weniger Freund, als es den Anschein haben mag. Vielmehr soll, wie bei jedem kollektiven Machtgenuß, Mißliebiges zum Schweigen gebracht werden. Der Moralterror und der versteckte Antiintellektualismus, der in der Anschauung der Welt als Computerprogramm wiederkehrt, entspringen beide der gleichen rührend primitiven Illusion, die es für möglich hält, daß der unbewußteste aller Wünsche in Erfüllung gehen könnte: sich vom Unbehagen der Kultur zu befreien, indem man dessen Ursache beseitigt – den lebendigen, sprechenden Körper, der sich nicht fügen mag.

dt. Bodo Schulze

* Soziologe, Forschungsleiter am Centre national de la recherche scientifique (CNRS), Paris, Autor von “Nature et démocratie des passions“, Paris (PUF) 1996.

Fußnoten: 1 Der Unternehmenssitz von Renault befindet sich 34, quai du Point-du-Jour in Boulogne-Billancourt (Hauts-de-Seine). 2 Dazu Bernard Lang, „Freie Software für alle“, Le Monde diplomatique Januar 1998. 3 Marcel Gauchet, „Essai de psychologie contemporaine. I. – un nouvel Ûge de la personnalité“, Le Débat, Juni 1998. 4 Marie-José Mondzain, Le Monde, 8. September 1998.

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von DENIS DUCLOS