12.03.1999

Apokalyptische Realitäten

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Apokalyptische Realitäten

DIE Mauer des Schweigens zu durchbrechen, die hinter den offiziellen Erklärungen aufragt, ist nicht einfach. In Algerien kommt der Lüge eine so tragende Rolle zu, daß man selbst den Indiskretionen mißtraut. Unter solchen Umständen nimmt es nicht Wunder, daß die Aufgabe, die Wirklichkeit unverhüllt darzustellen, auf die Literatur übergegangen ist. Yasmina Khadra zum Beispiel orientiert sich an den Formen des amerikanischen Kriminalromans der zwanziger und dreißiger Jahre, um sozialen Fragen durch polizeiliche Ermittlungen auf den Grund zu gehen.

Über die Autorin weiß man nichts, es gibt keine biographischen Angaben, kein Gesicht. Aber das ist nichts Neues, schließlich sind Pseudonyme bei Krimiautoren keine Seltenheit: Wer sich im Dreck wälzt, beschmutzt seinen Namen, und es sind nicht gerade harmlose Niederungen, in die Yasmina Khadra (“grüne Jasminblüte“) in ihren Romanen hinabsteigt.

Von den ersten Zeilen an wird der Leser in die apokalyptische Realität Algeriens gestoßen, so daß ihm die Luft wegbleibt, und nach ein paar Seiten ist er in eine vergiftete Atmosphäre von Verbrechen und Prostitution eingetaucht, wo Armut und Überfluß dicht beieinander liegen, wo sich Terroristen und zwielichtige Geschäftemacher herumtreiben. Keine soziale Schicht kommt hier gut weg, und es bleibt kein Hoffnungsschimmer: Die Guten müssen alle sterben – weil der liebe Gott sie zu sich rufen will und weil die Bösen sie lieber tot sehen möchten. Das alles wird mit der Hellsichtigkeit dessen beschrieben, der sich keine Illusionen über die Menschen macht, aber auch nicht darüber verzweifelt, daß die Welt sich verändert. Was bleibt, ist der Glaube an die Gerechtigkeit.

Aber wer könnte in der Trilogie Yasmina Khadras1 von Gerechtigkeit sprechen? Der Erzähler ist, ganz in der Tradition des Kriminalromans, ein Polizist, der Kommissar Brahim Llob (“der Kern“). Was ihn antreibt, ihn reden, handeln und leiden läßt, ist sein Idealismus: Er ist unbestechlich und geradezu besessen von der Idee der Gerechtigkeit. Im Algerien der neunziger Jahre wirkt dieser Polizist damit wie ein Fossil. Er kämpft allein gegen alle, und es dauert nicht lange, bis er vom einfachen Diener der Justiz zum selbsternannten Richter wird, weil einfach niemand an den Ergebnissen seiner Ermittlungen interessiert ist. Seine Fälle beginnen stets mit scheinbar unbedeutenden Tatbeständen und führen am Ende in das Dickicht politischer Machenschaften. So ist jede dieser Geschichten nach dem Prinzip der Puppen in der Puppe gebaut.

Der Roman „Morituri“ beginnt ganz harmlos. Kommissar Llob soll die verschwundene Tochter des schwerreichen Ghoul Malek wiederfinden. Ob die Tochter in Gefahr schwebt, will unser Held wissen. „Gefahr, was ist das?“ antwortet der Vater. Zur gleichen Zeit werden einige Intellektuelle ermordet, und Llob findet heraus, daß die Anschläge von einem Schriftsteller namens Sid Lankabout (der unter dem Namen Abou Kalypse – „Apokalypse“ – veröffentlicht) in Auftrag gegeben wurden. Das Motiv: „Wenn ich all diese degenerierten Figuren sehe, die unsere Städte übervölkern, all diese amerikanisierten Jugendlichen und die Intellektuellen, die uns mit aller Gewalt eine Kultur aufzwingen wollen, die uns fremd ist (...), dann halte ich mich an das, was Goebbels getan hätte, wäre er Thomas Mann begegnet: Ich ziehe meine Waffe.“2

JEDER gute Romancier hätte es dabei belassen. Damit wäre schon genug gesagt über diesen Aspekt der Kriminalität in Algerien: die einen Intellektuellen lassen andere Intellektuelle ermorden. Aber die Autorin führt weitere Intrigen ein und deutet an, daß es vielleicht noch viel schlimmere Machenschaften gibt. Im Fortgang der Geschichte erfährt Llob von einem zwielichtigen Informanten, daß er sich hinters Licht führen ließ, als er Abou Kalypse verhaftete. Also sucht er noch einmal den Mann auf, der ihn auf die Spur des Schriftstellers gebracht hatte – Ghoul Malek. Dieser erläutert dem Kommissar, wie der Krieg in Algerien geführt werden muß, damit die Dinge wieder ins Lot kommen, daß Späne fallen, wo gehobelt wird und man sich nicht über das Schicksal der Unglücklichen aufregen darf, die zum Wohle der Allgemeinheit geopfert werden.

In diesen Geschichten wird das Bild einer Gesellschaft gezeichnet, in der Gangstermethoden und Verbrechen in allen sozialen Schichten zum normalen Verfahren geworden sind, um sich durchzusetzen und die Gegner in Schach zu halten. Doch was uns die Autorin vor allem zeigen will, ist die undurchschaubare Situation, die aus all den widernatürlichen Interessenverbindungen entstehen kann.

Im Roman „L'Automne des chimères“ gerät Kommissar Llob in eine heikle Situation. Seine Vorgesetzen nehmen Anstoß an seiner Fähigkeit, die Dinge beim Namen zu nennen, und zwingen ihn, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Er wird zum höchsten Vorgesetzten bestellt, der ihm unverblümt mitteilt, wie sehr er ihn haßt. Und in dieser Szene, als der Erzähler seine Erniedrigung schildert, erfahren wir, was die Krise der algerischen Gesellschaft ausmacht: „Er stand auf. Massig und wohlbeleibt überragte er mich, stellte mich in den Schatten. Er war der Chef. Und bei uns ist es keine Frage der Fähigkeiten, wer die Macht hat. Entscheidend ist letztlich nur, wer das größte Drohpotential besitzt.“3

IN den drei Romanen von Yasmina Khadra geht es um weit mehr als nur die Kriminalgeschichten. Sie zeigen in aller Deutlichkeit, wie ein Volk zu leben gezwungen ist, dem seine Rechte genommen wurden. Letztlich bietet die Autorin die sehr genaue Schilderung einer Krise aller Werte: Worauf können die Menschen noch hoffen, wenn weder auf den Gesellschaftsvertrag noch auf das Recht Verlaß ist? Indem sie exemplarisch vorführt, daß das Recht keinen Ort mehr hat, oder jedenfalls nicht mehr durchsetzbar ist, macht Yasmina Khadra klar, wie sich die menschliche Existenz mit einem Mal auf den Überlebensinstinkt reduziert. Und wenn das Überleben zum einzigen Ordnungsprinzip wird, dann hat sich eine Gesellschaft von der Idee des Gemeinwohls verabschiedet.

FATMA ZOHRA ZAMOUMHistorikerin, Spezialgebiet Kunstgeschichte. Ihr erster Roman „Á tous ceux qui partent“ erscheint 1999 bei L'Harmattan (Paris).

Fußnoten: 1 Yasmine Khadra, „Double blanc“, „Morituri“, „L'Automne des chimères“; alle drei erschienen bei Éditions Baleine, 1997 und 1998. 2 s. „Morituri“, a.a.O., S. 129 f. 3 s. „L'Automne des chimères“, a.a.O., S. 30.

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von FATMA ZOHRA ZAMOUM