12.03.1999

Die Internationale der Plünderer, Sektion Rußland

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Die Internationale der Plünderer, Sektion Rußland

VIERZIG Jahre lang hat sich der Westen Sorgen wegen der großen Macht der Sowjetunion gemacht. Heute ist es der Zerfall Rußlands, der beunruhigt – zumindest dem Anschein nach, denn die Mitverantwortung der G7, des Internationalen Währungsfonds und all derer, die nach der „Reform“ gerufen hatten, ist enorm. Wenn die Krise nach dem Zusammenbruch des „Kommunismus“ und der Perestrojka sich nun zu einer Katastrophe für das Land auswächst, dann geschieht das wegen des Raubzuges, den die neuen Oligarchien ud Mafias in Konkurrenz mit dem internationalen Finanzkapital und unter der schweigenden Komplizenschaft der Jelzin-Regierung auf das Land verübt haben.

Von FRÉDÉRIC F. CLAIRMONT *

Seit Boris Jelzin 1991 an die Macht kam, erlebt Rußland mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, dem Verfall der Staatsfinanzen und seinem allgemeinen nationalen Niedergang eine Entwicklung, die für die Geschichte des Kapitalismus im 20. Jahrhundert ohne Beispiel ist. Innerhalb von acht Jahren haben die Apparatschiks des Präsidenten, die neue Oligarchie und ihre amerikanischen Mentoren das Land ruiniert. Die Fakten liegen auf dem Tisch, und sie sind erschütternd.

Nach Angaben des „Zentrums für die Untersuchung des Lebensstandards“ leben 79 Millionen Russen, also 53 Prozent der Bevölkerung, unterhalb der Armutsschwelle, und ihre Zahl nimmt unerbittlich zu. 57 Prozent der nationalen Reichtümer befinden sich in der Hand von nur 2 Prozent der Bevölkerung. Die Außenverschuldung steht auf dem Rekordniveau von 180 Milliarden Dollar, die innere Verschuldung beläuft sich auf 161 Milliarden Dollar. Die „Superreichen“ und die transnationalen Gesellschaften haben unter Umgehung der Gesetze nahezu 180 Milliarden Dollar aus Rußland abgezogen, wobei die Riesensummen an firmeninternen Transfers noch dazugerechnet werden müßten. Die wissenschaftliche und technologische Infrastruktur des Landes liegt in Trümmern. Unbezahlte Arbeit ist, befördert durch die antiinflationistischen Rezepte des Internationalen Währungsfonds (IWF), zum täglichen Los von vielen Millionen Menschen geworden: Die Rückstände bei der Auszahlung der Gehälter lagen im Januar 1997 bei 11 Prozent und im vergangenen September bei 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). 1998 brachte die schlechteste Ernte seit 1945, die zwangsläufige Folge waren massive Agrarimporte, die 75 Prozent des Verbrauchs abdecken müssen. Der Rubel hat seine Rolle als Attribut der nationalen Souveränität eingebüßt; seine Bedeutung entspricht nur noch der Währung eines kolonialisierten Landes. Unangefochten beherrscht der Dollar das Wirtschaftsleben, bis hin zu den elementarsten alltäglichen Transaktionen. Das erklärt die allgemeine Rückkehr zum Tauschhandel, der heute in einem Umfang praktiziert wird, wie man es seit der Zeit des Bürgerkriegs (1918 bis 1921) nicht mehr kannte. Mit 58 Jahren ist die männliche Lebenserwartung – im Vergleich zu 74 Jahren für Kuba und 72 für China – auf das Niveau der Sahelzone gesunken. Diese erschreckende und keineswegs erschöpfende Aufzählung belegt die verheerende Bilanz, die aus der von Jelzin verfolgten Politik resultiert und die er im Namen der „Demokratie“, der „gesellschaftlichen Öffnung“ und des „Rechtsstaats“ durchgezogen hat.1

Seit 1991 haben Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen sowie das Prinzip völlig ungehemmter Marktfreiheit zu einer fortschreitenden Kriminalisierung der Wirtschaft und zur Bereicherung einer verschwindend kleinen Minderheit von Raubrittern und Halsabschneidern geführt. Die Impresarios dieser Konterrevolution bezeichnen Rußland als „Schwellen“-Land, ohne daß sie freilich erwähnen würden, was Rußland mit dem Überschreiten dieser Schwelle zurückgelassen hat. Diese Jünger des Neoliberalismus bekamen tatkräftige Hilfe von der US-amerikanischen Botschaft in Moskau, die kostenlos mehrere tausend Exemplare des 1944 erschienenen Buches von Friedrich von Hayek, „Der Weg zur Knechtschaft“, in russischer Übersetzung verteilte. Sie rekrutierten sich hauptsächlich aus den Kreisen des neuen Kapitals (Sergej Kirijenko und Anatoli Tschubais) und der alten sowjetischen Nomenklatura (Wiktor Tschernomyrdin). Nachdem man sie „Reformpolitiker“ getauft hatte, durften sie den Segen der Führungskreise der Vereinigten Staaten, der Weltbank und des IWF genießen – jener Kräfte also, die den „Konsens von Washington“ verkörpern.

Heute ist Jelzin zwar immer noch da, aber die „Reformen“ und die „Reformer“ sind inzwischen vollständig diskreditiert.2 Zwar ist es noch zu früh, um vorauszusagen, ob der im August 1998 zum Premierminister bestellte Jewgeni Primakow genügend innere und äußere Machtfaktoren aufbieten können wird, um den totalen Zusammenbruch des Landes zu verhindern. Jedenfalls gibt es keinerlei Anhaltspunkte für den Glauben, die wirtschaftliche und soziale Lage könnte rasch besser werden. Nach den Voraussagen der Economist Intelligence Unit dürfte das BIP Rußlands im Jahre 1999 um 6 Prozent schrumpen.3

Horrende Summen verflüchtigten sich

AUSLÄNDISCHE Multis haben sich über die Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen ganze Wirtschaftssektoren der ehemaligen Sowjetunion angeeignet. Das gilt weitgehend für die zentralasiatischen Erdölreserven, besonders in Kasachstan und Tadschikistan. Rußland selbst wurde vom internationalen Kapital auf den Rang eines simplen Rohstofflieferanten zurückgestuft, der den ausländischen Firmen unbeschränkten Zugriff auf seine erdöl- und erdgasproduzierende Industrie einräumen muß. Die US-amerikanische Doktrin der „offenen Tür“ – die im 19. Jahrhundert etwa das forderte, was heute das Multilateralen Abkommen über Investitionen (MAI) durchsetzen soll – wurde auf modern frisiert und zur Verhandlungsgrundlage mit der neuen Moskauer Führungskaste erklärt, die darin die Chance zur weiteren Bereicherung und Absicherung ihrer Macht erblickt. Diese Liquidation des nationalen Reichtums zu Schleuderpreisen ging einher mit einer entschlossenen Strategie von westlichen Banken, Versicherungen, Spekulationsfonds und allen möglichen Pensions- und Investitionsfonds, die das gesamte russische Finanzsystem durchdrungen haben.

Blockiert durch chronische Schulden und Haushaltsdefizite, ist Rußland – auch aufgrund fehlender adäquater Kontroll- und Reglementierungsmechanismen – völlig außerstande, einer Kapital- und Steuerflucht ungeahnten Ausmaßes entgegenzuwirken.4 Igor Afanassjew, Absolvent einer bedeutenden amerikanischen Business-School, benennt die eigentliche Wurzel der Mißstände: „Man muß verstehen, daß unsere Schwierigkeiten keineswegs vom Fehlen hochqualifizierter Wirtschaftsprüfer oder sonstiger Finanzfachleute herrühren. Wir haben davon eine ganze Menge mit durchaus beachtlichem Fachwissen. Der Kern des Problems besteht auch nicht in der mangelnden Integrität oder der moralischen Haltlosigkeit der Einzelpersonen. Unsere Erfahrung erweist, daß das System selbst durch all die unvorstellbaren und sorgsam vertuschten Plünderungs- und Unterschlagungsaktivitäten völlig zerfressen ist. Verwaltung und Politik haben bislang keinerlei taugliche Instrumente für die Finanz- und Haushaltskontrolle entwickelt, die Gründe dafür liegen auf der Hand.“ Jelzins Rußland gehört in dieselbe Kategorie wie Zaire oder Nigeria, die von ihren Machthabern ausgeplündert wurden.

In ähnlicher Richtung argumentiert Benjamin Sukalow, der Vorsitzende des Moskauer Rechnungsprüfungsamts, der in einem Gespräch mit der BBC andeutete, daß von den 168 Millionen Dollar, die für die Finanzierung eines Exportprogramms von Kampfflugzeugen des Typs Mig 29 nach Indien bestimmt waren und über das Finanzministerium angewiesen wurden, nicht ein einziger Cent beim Empfänger, dem Moskauer Kombinat für Flugzeugbau, angekommen ist. Von den für den Wiederaufbau in Tschetschenien bereitgestellten 3 Milliarden Dollar haben ebenfalls nur 150 Millionen unversehrt ihren Bestimmungsort erreicht. Niemand weiß, oder will wissen, wie sich diese Summen verflüchtigen konnten. Die Kassenbücher verraten weder die Namen der Personen, die für die Verteilung der Gelder verantwortlich waren, noch die dabei befolgten Kriterien. Aber das ist für die vielen Menschen in Rußland, die sich nur um das tägliche Überleben kümmern können, ohnehin völlig unerheblich.

Zwar wurde Juri Jurkow, der Leiter des Goskomstat (was etwa dem deutschen Statistischen Bundesamt oder dem französischen Insee entspricht), wegen Unterschlagung öffentlicher Gelder verhaftet. Doch war das kaum mehr als ein Tischfeuerwerk, denn Jurkow gehört, glaubt man den Aussagen der Fahndungsbeamten des Finanzministeriums, eher zu den „kleinen Fischen“. Außerdem sind diese Beutezüge – bei all ihrer Unverschämtheit – völlig harmlos angesichts der zig Milliarden Dollar, die das in Rußland und in anderen ehemaligen Staaten der UdSSR niedergelassene ausländische Kapital systematisch beiseite schafft.

An den Schalthebeln dieser methodisch betriebenen Ausweidung eines ganzen Landes sitzt eine kleine Clique erpresserischer Kapitalisten, die sogenannten Unverwundbaren, die sich unverfroren selbst als „Oligarchen“ bezeichnen. Ein Vergleich mit den legendären amerikanischen „Räuberbaronen“ der Jahrhundertwende, den Vanderbilt, Harriman, Carnegie, Morgan oder Rockefeller, ist durchaus verfehlt. Zwar waren letztere ebenfalls skrupellose Ausbeuter und eingefleischte Gewerkschaftsfeinde. Doch sie haben zumindest ihren Beitrag zum Aufbau der produktiven Infrastruktur im Goldenen Zeitalter des amerikanischen Kapitalismus zwischen 1865 und 1914 geleistet.5 Die russischen Oligarchen hingegen sind ein rein parasitärer Haufen, dem in sämtlichen westlichen Botschaften Moskaus dennoch alle Türen offen stehen.

In einer Rede vor russischen Kapitalisten erklärte der kommunistische Parteichef Gennadi Sjuganow seinen Zuhörern den Haß, den Millionen Mitbürger ihnen entgegenbringen, mit folgenden Worten: „Zu Beginn dieses Jahrhunderts haben es Ihre Vorgänger nicht verstanden, Macht und Besitz zu teilen, eine Notwendigkeit, die dem westlichen Abendland schon vor zweihundert Jahren aufgegangen ist. Wegen dieser mangelnden Einsicht haben sie Kopf und Krone eingebüßt. Sie, meine Herren, befinden sich heute in genau der gleichen Situation.“6 Wobei die erwähnte Machtteilung, die „vor zweihundert Jahren“ die Bourgeoisie gewährt habe, natürlich nur eine rhetorische Finte ist, um einem schwerreichen Publikum bittere Einsichten bekömmlicher zu verabreichen.

Zu den herausragenden Vertretern dieser Superreichen zählt Boris Beresowski (den Freunde wie Feinde auch Boris Oligarchowitsch nennen), Kreditgeber und Intimus von Boris Jelzin und dessen Tochter Tatjana Djatschenko, deren Vermögen er vervielfacht hat. Unter Ausnutzung seiner Position als Exekutiv-Sekretär der GUS-Staaten hat er seine wirtschaftliche Macht auf alle Bereiche des Wirtschaftslebens ausdehnen können: Medien, Immobilien, Energie, Banken und Finanzdienstleistungen, Versicherungen, Automobile, Nahrungsmittelimporte, Groß- und Einzelhandel, Hoch- und Tiefbau usw. Seine Investitionen in Europa und den Vereinigten Staaten belaufen sich auf Milliarden Dollar. Zu nennen wären aber auch weitere Personen ähnlichen Kalibers: Wladimir Potanin vom Konzern Onexim-Bank, Michail Chodorowski (Rosprom-Jukos), Wladimir Gussinski (Financier und Eigentümer von Konglomeraten), Wagit Alekperow (Lukoil), Rem Wjachirew (Gasprom), Wladimir Bogdanow (Surgutneftgaz) und Alexander Smolenski (SBS Agro). Die Bank von Smolenski avancierte von einem Tag auf den anderen zum bedeutendsten Finanzinstitut des Landes mit 2200 Zweigstellen in 81 Regionen und einer Kundschaft von 5,7 Millionen privaten und 1500 institutionellen Anlegern.7

Als am 17. August 1998 die Finanzkrise ausbrach, hatten all diese feinen Leute, die einen Großteil des Bankensektors, der Versicherungen und Finanzdienstleistungen kontrollieren, eine ideale Ausgangsposition, um die wertvollen Devisenreserven Rußlands an sich zu reißen. An die berühmten Worte von Martin Luther King anknüpfend, hatte Smolenski keine Skrupel zu proklamieren: „Ich habe einen Traum, nämlich den, zum größten russischen Superbankier zu werden, auf der gleichen Stufe mit der Bank of America.“ Zusammen mit sechs weiteren Magnaten hatte er Jelzins letzten Wahlkampf und Wahlsieg finanziert. Heute hat sich das Blatt gewendet, und Smolenski gesteht nicht ohne Bitterkeit, daß „die Leute den Worten und Garantien der Zentralbank, der Regierung und des Staates nicht mehr trauen.“

Am 7. Oktober 1998 haben die Opfer einer ungerechten Sozialordnung durch ihre massiven Demonstrationen deutlich gemacht, daß sich neue soziale Kräfte formieren, die sehr wohl imstande wären, die Oligarchen und sonstigen „Reformatoren“ hinwegzufegen. Deren Pfründen sind keineswegs unangreifbar, und was früher privatisiert wurde, kann ohne weiteres auch wieder entschädigungslos in Gemeineigentum überführt werden. Durch die Figur Jelzin sind die Oligarchen nicht mehr komplett geschützt, und auch von den amerikanischen Medien werden sie nicht mehr so vergöttert wie früher.8

Das Dollarimperium der Oligarchen hat freilich noch eine Fassade der Legalität vorzuweisen, was man von den Vermögen der russischen Mafia nun ganz und gar nicht mehr behaupten kann. Eine saubere Unterscheidung zwischen dem Bereich der Wirtschaftskriminalität und einem angeblich legalen russischen oder ausländischen Sektor ist allerdings kaum möglich, denn die Aktivitäten der Oligarchen und der Mafia sind allenthalben verschränkt. Nach Einschätzung eines britischen Börsenmaklers „würden die Off- shore-Steuerparadiese ohne die russischen Kapitalzuflüsse nicht so rosige Zeiten erleben.“

„Nur die kleinen Leute zahlen Steuern“ – dieser berühmte Ausspruch von Leona Helmsley, Herrscherin über ein Immobilienreich von New Yorker Elendsquartieren, die 1987 wegen Steuerbetrug angeklagt wurde, kennzeichnet treffend auch die Situation in Rußland. Alle finanziellen Aktiva, die in einem Vergleichsverfahren noch als Substanz herhalten könnten, wurden bereits von den lokalen Oligarchen und der Moskauer Clique internationaler Finanzmagnaten geplündert. Für diese veruntreuten Vermögenswerte hat nunmehr der Steuerzahler aufzukommen. Der Sektor der Finanzdienstleistungen ist für Betrugsmanöver aller Art besonders geeignet. Das gilt etwa für den Versicherungssektor, wo sich die meisten der 2000 Gesellschaften lieber auf so einträgliche Aktivitäten wie Steuerflucht und unerlaubten Kapitalexport konzentrieren, statt ihre Zeit mit der Bearbeitung von Schadensmeldungen oder dem Einzug der Prämien zu verschwenden. So können sich etwa Arbeitgeber durch kurzfristig abgeschlossene Versicherungsverträge darum drücken, die Einkommens- und Lohnsteueranteile für ihr Personal abzuführen. Eine andere beliebte Methode ist der Abschluß von „gezinkten“ Rückversicherungen, um Beträge verdeckt ins Ausland zu transferieren. Ohne die aktive Beihilfe ausländischer Spekulations- und Investitionsfonds hätte man derartige Geschäfte allerdings kaum in derart großen Dimensionen durchführen können.

Schon bevor der große Krach vom 17. August 1998 die Zahlungsunfähigkeit Rußlands vollends offenbarte, stand fest, daß Verschuldung und Defizite eine unhaltbare Höhe erreicht hatten. Mit seiner generösen Nachsicht gegenüber Spekulanten und seiner – vom IWF verordneten – Politik der astronomischen Zinsen, die alle Liquidität aus dem Land absaugte, hatte Jelzin den Rubel buchstäblich zugrunde gerichtet. In den Tagen und Monaten vor dem Schwarzen Montag flehte das Regime die Fonds auf Knien an, sie möchten die Katastrophe noch einmal abwenden.

Der damalige Zentralbankchef Sergej Dubinin hatte in einem verzweifelten Stützungsmanöver für den Rubel die 1,5 Milliarden Dollar eines vom IWF gewährten Ergänzungsdarlehens aufgebraucht. Täglich floß 1 Milliarde Dollar aus dem Land ab. George Soros mußte eingestehen, bei der Spekulation mit russischen Wertpapieren 2 Milliarden Dollar verloren zu haben. Der große Philanthrop darf ob dieser Verluste auf unser Mitgefühl rechnen, wenn wir auch anmerken wollen, daß er sie wohl verschmerzen kann angesichts der fast 20 Milliarden Dollar, die er zuvor seit dem Amtsantritt Jelzins in Rußland abkassieren durfte.9

Der Nichtbedienung von Staatsanleihen (GOK) im Wert von 40 Milliarden Dollar hatte zunächst eine Panik, dann eine Lähmung des Bankensystems erzeugt und einen Schock an den Finanzmärkten ausgelöst.10 Die Gold- und Devisenreserven der Zentralbank waren durch erfolglose Interventionen zur Stützung der Währung ausgezehrt worden. Von den Anfang 1997 noch vorhandenen 20 Milliarden Dollar sind heute gerade noch 8 Milliarden übrig. Am Tag nach dem Krach brachte die Financial Times die Schlagzeile: „Hoffnung der Moskauer in den Kapitalismus zunichte gemacht“. Aber nicht nur die Moskauer hatten ihren Glauben verloren. Die geplünderten Sparer schrien wie aus einer Kehle: „Man hat uns bestohlen. Gebt uns unser Geld zurück!“

Irina Grigorjewna, eine Kinderärztin aus Kostroma, die seit Monaten kein Gehalt mehr bezogen hatte, meinte bei einem Interview, während sie in einem Haufen vom Roten Kreuz verteilter gebrauchter Kleidungsstücke wühlte: „Sie können sich nicht vorstellen, wie demütigend das ist. Ich bin weder alkohol- noch drogenabhängig und auch nicht obdachlos. Zwanzig Jahre lang war ich als Ärztin tätig, aber ich kann mich nicht mehr ernähren.“ Als man ihr das schmale Lebensmittelpaket aushändigt, sagt sie mit Tränen in den Augen: „Ich weiß wirklich nicht, was ich diesen Winter essen werde, ich habe Angst, daß wir verhungern.“11 Der Taxifahrer Juri Litwinow kommentiert die Lage so: „Wir besitzen nur noch zwei Dinge, einen Potemkinschen Präsidenten und eine Potemkinsche Währung. Die einzige echte Währung ist der Dollar. Wir sind kolonisiert, und die, die uns regieren, sind Kollaborateure der ausländischen Mächte.“ Wen wundert es da noch, daß unter Jelzins neuer Ordnung die Geburtenrate beträchtlich gesunken ist und die Bevölkerung Rußlands jährlich um 600000 Personen schrumpft.

Im Gefolge der Abwertung haben sich die ausländischen Investoren auf Dauer aus Rußland abgesetzt. Adam Elstein, Finanzdirektor der Moskauer Filiale der New Yorker Bankers Trust (die gerade von der Deutschen Bank geschluckt wurde), analysiert die Auswirkungen dieses Vertrauensverlustes: „Eine Umschuldung wird von den meisten Ausländern als Zahlungsausfall ausgelegt werden. Unter dieser Voraussetzung würden sie auf absehbare Zeit eher Nuklearabfälle essen als russische Obligationen kaufen.“ Auch die Versicherung von Premierminister Jewgeni Primakow (“Wir zahlen unsere gesamten Schulden zurück“) ändert nichts daran, daß die Investoren auf geraume Zeit ausbleiben werden.

Was wäre ein russischer „New Deal“?

DER amerikanische Bankier und Industrielle Thomas Wainwright formuliert es so: „Nehmen wir an, die Investoren kehrten zurück. Wohin sollen sie mit ihrem Geld? Für wen würden sie produzieren? Der internationale Markt ist in einer Depression, und die ausländischen Konkurrenten würden die in Rußland gefertigten Produkte durch alle möglichen protektionistischen Maßnahmen abweisen.“ Stahl und Aluminium sind nur zwei von vielen bedeutenden Exportartikeln Rußlands, die von solchen Antidumpingmaßnahmen bedroht wären. Auch wenn man irgendwelche Scheinkompromisse erfinden wird, steht von vornherein fest, daß der Hauptteil des heutigen Schuldenbergs nie abgetragen wird, weil Rußland die notwendigen zig Milliarden Dollar ganz einfach nicht hat. Und die Annahme, man könnte diese Summen durch Exporte erwirtschaften, grenzt ans Lächerliche.

Die Großmeister des globalen Finanzsystems wissen über die Gründe für den Niedergang Rußlands bestens Bescheid. Andrew Ipkendaz vom Crédit Suisse First Boston (CSFB) stellt heute entrüstet fest, daß „die russischen Eliten das Kapital des Landes ausgeplündert und den Großteil ihrer Einkünfte ins Ausland transferiert haben“. Kein Kommentar kommt ohne das Wort „Plünderung“ aus. Doch wem will man weismachen, daß ein kriminelles Vorhaben dieses Ausmaßes ohne Mitwirkung des internationalen Kapitals hätte gelingen können? Es ist ein schlechter Witz, jetzt so zu tun, als hätte der CSFB, eine der 21 großen in Rußland vertretenen internationalen Banken, nicht selbst bis an den Hals in den legalen oder illegalen Devisengeschäften gesteckt. Aus Rußland wurden ungeheure Summen herausgeschleust, und die Banken machten damit gigantische Gewinne, wie ihre Bilanzen für die Jahre 1993 bis 1997 beweisen. Und sie waren es auch, die in erster Linie von der Verdopplung der Aktienwerte zwischen 1996 und 1997 profitiert haben.

Dennoch sind die Schuldzuweisungen verständlich, die internationale Spekulanten gegenüber ihren ehemaligen lokalen Partnern vorbringen. Wenn sie die Einstellung der russischen Zahlungen anprangern, haben sie einen historischen Präzedenzfall im Auge: die vor 1914 vom Zarenregime aufgenommenen Kredite, die von den sowjetischen Behörden nie zurückgezahlt wurden (wobei die Umgebung des Zaren mindestens ebenso korrupt war wie Jelzins Machtapparat). Man erinnere sich nur daran, daß seinerzeit das gesamte französische Kleinbürgertum – russische Staatspapiere wurden von rund 1,6 Millionen Personen gezeichnet – seine Ersparnisse unbedingt in russischen Staatsanleihen anlegen wollte.

Die „russischen Gaunereien“, um den Ausdruck aus einer 1910 verfaßten Analyse von Eugène Letailleur aufzugreifen, sind heute so aktuell wie damals (wobei allerdings diese „Gaunereien“ weniger russischen als internationalen Ursprungs waren): „Wir haben ein riesiges Kapital, ein ungeheures Vermögen, entstanden aus den Mühen und Entbehrungen einer ganzen Generation von Franzosen, unter vernunftwidrigen Annahmen angelegt; jetzt erkennen wir – und man sollte sich in diesem Punkt keine Illusionen machen: Falls der Zorn der Rache die Autokratie hinwegfegt, steht es sehr schlecht um unsere Milliarden.“12 Auf dem Höhepunkt der Belle Epoque trafen solch prophetische Warnungen bei der französischen Führungsschicht allerdings auf taube Ohren.

Bis 1914 hatte Frankreich zwischen 11,3 und 16,2 Milliarden Franc in russische Staatsanleihen mit einer Verzinsung von 4 bis 5 Prozent investiert. Was man den kleinen Wertpapierinhabern tunlichst verschwieg, obwohl die Führungskreise genau Bescheid wußten, war die Tatsache, daß die russische Regierung mehr als die Hälfte ihres Budgets in Rüstungsausgaben steckte und sich seit Beginn der neunziger Jahre am Rande des Staatsbankrotts bewegte. Nach der Oktoberrevolution wollte keiner für diese Schulden einstehen, und bis heute ist kein Centime dieser Riesensummen zurückgezahlt worden.13 Wie Harry Dexter White in seiner bahnbrechenden Monographie14 ermittelt, hat Frankreich dem verbündeten Rußland während des Ersten Weltkriegs 23 Milliarden Franc geliehen. Diese Summe entsprach damals zwei Dritteln seiner Netto- Auslandsinvestitionen, wobei die Kriegsanleihen noch gar nicht inbegriffen sind. Daraus ergeben sich Verluste in der sechsfachen Höhe des Betrags, der nach dem Krieg von 1870 als Entschädigung nach Deutschland geflossen war.

Die Zahlungsausfälle, die Abwertung, das Moratorium und die sozialen Ausgleichsleistungen, die in ihrem Gefolge anfallen, werden die Haie der internationalen Finanz den Russen weder vergessen noch vergeben. Allmählich zeichnet sich der Weg ab, den Primakow einschlagen will, sofern es seine inneren und äußeren Gegner zulassen. Und diese Gegner sind nicht ohne Grund höchst unruhig geworden. Der Handlungsspielraum des Premierministers ist stark durch einen internationalen Kontext eingeengt, der sich durch Überinvestition, Überproduktion und zügellose Spekulation auszeichnet. Das Zutrauen der Investoren ist auf einem Tiefpunkt angelangt, wie die von den Zentralbankiers mit dem Mut der Verzweiflung beschlossenen Zinssenkungen beweisen. Die euphorischen Prediger des liberalen Paradieses glauben mittlerweile selbst nicht mehr an ihre Zaubermittel, wie man beim letzten Weltwirtschaftsforum in Davos erfahren konnte.

Das amerikanische „Modell“ wird überall in Frage gestellt. Die Business Week, ein Sprachrohr des amerikanischen Big Business, schreibt unheilverkündend: „Das System des freien Marktes ist in die Defensive geraten (...) und wird zunehmend als Feind des Wachstums betrachtet. Immer mehr Länder ziehen sich zurück.“15 Ein Beweis dafür ist die Beerdigung des MAI, in dem diese Ideologie ihre vollkommenste Gestalt annehmen sollte.

Die verheerende Krise in Ostasien und Lateinamerika und das schrumpfende Wachstum in Europa machen der russischen Regierung zusätzlich zu schaffen, so wie der Börsenkrach von 1929 die Lage der Sowjetunion verschärft hatte. Auch die zunehmend ausgeprägten Divergenzen zwischen den Vereinigten Staaten, Europa und Japan werden sich das eine Mal positiv, das andere Mal negativ auf Primakows Kurs auswirken. Dank seiner Erfahrungen aus jahrzehntelanger Tätigkeit im Geheimdienst und Verfassungsschutz agiert der Premier wie ein vorsichtiger Stratege, der sich die einzelnen Teile eines Puzzles zusammensucht, um sie dann zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen. Dafür braucht er Zeit, aber gerade die ist knapp. Dennoch ist er schneller vorangekommen, als es seine Kritiker behaupten, in wohlbedachten Schritten und stets bemüht, seine innenpolitische Basis zu konsolidieren. Seine Hauptziele sind: ein erneutes Wirtschaftswachstum ohne inflationären Schub, und auf längere Sicht eine Entkolonialisierung Rußlands und die Wiedergewinnung der nationalen Souveränität.

Zur Zeit führt Primakow einen gnadenlosen Kampf gegen Boris Beresowski, den größten Oligarchen des Landes, womit er dessen Beschützer Jelzin ein unmißverständliches Signal gibt. Gegen Beresowski laufen mehrere Ermittlungsverfahren, Anfang März hat er bereits seinen Posten als geschäftsführender Sekretär der GUS verloren. Als der Premierminister beschloß, 95000 Gefangene zu amnestieren, „um in den Haftanstalten Platz für die wegen Wirtschaftskriminalität verurteilten Personen zu schaffen“, sollte dem Oligarchen aufgegangen sein, daß dieses Schicksal demnächst auch seine Person ereilen könnte. Die Entscheidungen, die zur Rettung Rußlands nötig sind, setzen eine Stärkung des öffentlichen Sektors und die Wiedereinführung eines Minimums an zentraler Planung voraus. Diese Marschrichtung macht nur dann einen Sinn, wenn sie mit der erneuten Verstaatlichung der wichtigsten Finanz- und Industriesektoren einhergeht, die Jelzins Clique auf Betreiben des amerikanischen Außenministeriums und seiner Washingtoner Filialen IWF und Weltbank gerade privatisiert haben. Die Verschärfung der weltweiten Krise mündet unvermeidlich in einen schweren Interessenkonflikt. Primakows Mannschaft weiß genau, daß zentrale Planung, auch in neuen institutionellen Formen, nicht ohne eine rigorose Kontrolle der Devisen und des Außenhandels funktionieren kann. Umgekehrt sind diese Maßnahmen eine Vorbedingung für die Rückkehr zu einem positiven Wachstum. Um ihre volle Wirksamkeit zu entfalten, müssen sie mit einer radikalen Neuorientierung der Währungs- und Kreditpolitik und mit selektiven Preiskontrollen gekoppelt werden. Und dies alles im Dienste des Schlüsselziels, den Kolonialstatus des Rubel und die Durchdringung der russischen Wirtschaft durch den Dollar zu beenden.

Primakow kündigt immer wieder öffentlich an, er wolle einen New Deal einleiten. Sicher denkt er dabei an die Worte Franklin D. Roosevelts bei seiner zweiten Regierungserklärung von 1937, die auf die himmelschreienden sozialen Ungleichheiten im Gefolge der großen US- amerikanischen Depression hinwiesen: „Unsere Erfolge werden sich nicht an dem zusätzlichen Wohlstand derer messen, die schon viel besitzen, sondern an dem, was wir denen bringen, die wenig haben, um ihren Bedürfnissen zu genügen.“

Entgegen der liberalen Mythen, die den New Deal umranken, darf man nicht vergessen, daß die Krise des Kapitalismus der dreißiger Jahre nur durch einen Rüstungswettlauf und den darauf folgenden Krieg überwunden wurde. Diese Lehre müssen sich Primakow und seine Freunde vor Augen halten, wenn sie sich daranmachen, Entwicklungsmodelle für ein Rußland am Rande des Abgrunds zu entwerfen.

dt. Margrethe Schmeer

* Wirtschaftswissenschaftler

Fußnoten: 1 Nach UN-Angaben erbringt die russische Wirtschaft heute 1,1 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes (BIP). Diese Zahl muß in Relation gesehen werden zu den Zahlen für den Vorderen Orient und Nordafrika (1,9 Prozent), die europäischen Transformationsländer und Zentralasien (2,4 Prozent), Lateinamerika und die Karibik (6,1 Prozent) und Asien-Pazifik (10,6 Prozent). 2 Zum wirtschaftlichen und politischen Führungspersonal Rußlands siehe Nina Baschkatow, „Demokraten, Autokraten und graue Eminenzen“, Le Monde diplomatique, März 1998. 3 The Economist, 16. Januar 1999. 4 Rußland ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Die Gesamtverschuldung von Staaten, Unternehmen und Privathaushalten beläuft sich weltweit auf mehr als 33000 Milliarden Dollar und wächst fünfmal schneller als die Produktion und der Welthandel. 5 Matthew Josephson, „The Robber barons“, New York (Harcourt Brace) 1934. Charles and Mary Beard, „The Rise of American Civilization“, Bd. 2 The Industrial Era. New York (Macmillan's) 1937. 6 The Los Angeles Times, 3. September 1998. 7 Washington Post Service, 5./6. Juli 1996. 8 Siehe Time, 15. Juli 1996. 9 Rußland wird von den internationalen Spekulanten trotz ihrer dort gemachten Riesengewinne zum Sündenbock abgestempelt. Sanford Weill, Vorstandsvorsitzender der Citigroup Inc., klagte vor dem Council of International Investors: „Ich habe letztes Jahr persönlich 600 Millionen Dollar verloren.“ Weill ist einer der reichsten Financiers der Welt. 10 Im Gefolge der russischen Zahlungsunfähigkeit mußte auch die Ukraine erklären, daß sie ihre inneren Schulden nicht mehr bedienen kann. 11 Siehe Financial Times, 12. November 1998. 12 Lysis (Eugène Letailleur), „L'Escroquerie russe: politique et finance d'avant guerre“, 1910 verfaßt, 1920 erschienen bei Payot, Paris. 13 Am 26. November 1996 erzielten die Präsidenten Jelzin und Chirac eine Vereinbarung, die eine Entschädigung für die aktuellen Inhaber (egal ob es sich um Erben der geschädigten Sparer handelt oder nicht) in Höhe von 1 Prozent des ursprünglichen Nominalwerts der Wertpapiere vorsieht. Die Begünstigten, für die der russische Staat 2,2 Milliarden Franc bereitstellen wollte, sollten sich bis zum 5. Januar 1999 melden. Sie haben sich in einem Verein zusammengefunden, der derzeit 15000 Mitglieder zählt. Siehe dazu Le Monde, 8. und 11. Januar 1999. 14 Harry Dexter White, „The French International Accounts 1880-1913“, Harvard University Press 1933. White war zusammen mit Keynes einer der geistigen Väter des Bretton-Woods-Abkommens. 15 Business Week, 14. September 1998. 16 Le Monde, 4. Februar 1999.

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von FRÉDÉRIC F. CLAIRMONT