12.03.1999

Die Kaderschmiede der französischen Nation

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Die Kaderschmiede der französischen Nation

Das Pariser Institut d'Études politiques ist eine Rarität: Welches Lehrinstitut kann schon von sich sagen, daß es fast alle Führungskräfte aus Politik und Verwaltung eines Landes ausbildet. Doch was 1872 als Überwindung verknöcherter Lehrinhalte begann und als „französischer Sonderweg“ selbst von Institutsangehörigen bissig kommentiert wurde, macht mittlerweile in zahlreichen alten und neuen Demokratien Schule. Schließlich hat die herrschende Weltordnung von einer solchen Institution nichts zu befüchten, die mit vornehmem Eifer die Legitimierung des herrschenden Denkens und der bestehenden Hierarchien pflegt.

Von ALAIN GARRIGOU *

Das im 7. Arrondissement von Paris ansässige Institut d'Études politiques (IEP) bezeichnet sich selbst als „Eliteschule“ und verteidigt zäh seinen Monopolanspruch auf die Ausbildung derer, die Frankreich regieren. Das Jahrbuch aller Institutsabsolventen, das in seiner Ausgabe von 1998 39691 Namen führt, bezeugt, daß das Image zu Recht besteht. Alle hochrangigen Staatsdiener kommen aus diesem Lehrinstitut, Staatspräsident, Premierminister und Parlamentspräsident haben an derselben Universität ihren Abschluß gemacht. Und dies gilt auch für die vorherige Regierung, obgleich diese aus dem heutigen Oppositionslager kommt. Getrost können wir davon ausgehen, daß auch nach dem nächsten Regierungswechsel, wie auch immer er ausfallen wird, die obersten Regierungskreise sich wieder im Jahrbuch werden auffinden lassen.

Wer meint, wir würden es uns mit den zitierten Beispielen zu einfach machen, mag einen Blick auf die personelle Zusammensetzung der Ministerien werfen. Auch hier sitzen auf den leitenden Positionen und an der Spitze der Hierarchie in erster Linie Diplomierte des IEP. Zumeist gilt dies auch für den Minister selbst. Einfacher wäre es vielleicht, zu fragen, wer nicht von dort kommt. Selbst bei einem Vergleich mit den Namen der obersten Staatsbeamten von Rechnungshof, Staatsrat und Finanzaufsichtsbehörde erübrigt sich ein Kommentar. Dasselbe Bild in der Privatwirtschaft: Ob im Bank-, Transport- oder Verlagswesen, in der Industrie, im Handel oder in den Medien – diese Hochschule bietet offenbar die unterschiedlichsten beruflichen Perspektiven.

Man mag einwenden, das IEP sei eben eine von mehreren Elitehochschulen, deren Existenz man kritisieren oder begrüßen kann. Dabei könnte man erwähnen, daß die Solidarbeziehungen der Ehemaligen untereinander weniger ausgeprägt sind als an den technischen Elitehochschulen; der Lehrplan scheint vielfältiger, die Bindungen zwischen den Studenten sind lockerer, und der Anwesenheitszwang hält sich in Grenzen. Zentral aber ist, daß das IEP nicht einfach das Führungspersonal irgendeines Unternehmens ausbildet, sondern den Zugang zur École nationale d'administration (ENA) monopolisiert, und also alle Beamten des gehobenen Dienstes und des staatlichen Führungspersonals durch die IEP hindurchmüssen.

Ein weiteres Grundmerkmal dieses Instituts ist die weite Streuung der Absolventen, die sich in sämtlichen Sektoren von Staat und Wirtschaft finden, unter den Politikern und Beamten des gehobenen Dienstes ebenso wie in den Führungsetagen von Wirtschaft und Medien. Vom Staatschef und seinen Ministern über die Ministerialdirektoren und –räte, die ihnen zuarbeiten, bis hin zu denen, die sie interviewen, mit Umfragen versorgen oder strategisch beraten – sie alle kommen mit allergrößter Wahrscheinlichkeit aus der Kaderschmiede IEP. Nicht alle 39691 Personen, die das Jahrbuch verzeichnet, gehören zur Elite, aber die Angehörigen der Elite stehen im allgemeinen in diesem Jahrbuch.

Der Name klingt vielversprechend im französischen Ohr. Für die Absolventen ist er so etwas wie ein Ausweis der Zugehörigkeit zur Macht, für die Studenten ist er ein Versprechen auf die Zukunft. Gegründet wurde die Institution als École libre des sciences politiques von Émile Boutmy im Jahr 1872, nach der militärischen Niederlage und der Pariser Commune. Als die École libre (“freie Schule“) im Jahr 1945 verstaatlicht wurde, benannte man sie folgerichtig neu, nämlich als Institut d'Études politiques de Paris. Sciences-Po „verband die Fondation nationale des sciences politiques und das Institut d'Études politiques de Paris“1 .

Die Beziehungen zur École nationale d'administration (ENA), die ursprünglich in den Räumlichkeiten des Instituts untergebracht war, bevor sie in ein Gebäude der Fondation nationale des sciences politiques in der Rue des Saints-Pères umzog, sind vielfältig und offensichtlich. Im Zuge der Ausweitung der Institutsaktivitäten bezog das IEP zusätzliche Räume in der Nähe seines Hauptsitzes und gründete Ableger in der Provinz. Das traditionell hohe Ansehen der „Freien Schule“ übertrug sich nach dem Umbruch im Jahr 1945 unmittelbar auf die neue Institution, die in ihren Selbstdarstellungen immer wieder die Kontinuität beschwört: „Sciences-Po“ wie das IEP gewöhnlich genannt wird, „entstand 1872, als Émile Boutmy die École libre des sciences politiques gründete, um die Ausbildung der Eliten Frankreichs zu erneuern“. Der gemeinsame Name rückte zur offiziellen Bezeichnung auf, die amtliche Benennung „Institut d'Études politiques de Paris“ verschwand.

Eine Entprivatisierung ohne Öffentlichkeit

NACH der Gründung 1872 gelang es der École libre des sciences politiques in kürzester Zeit, sich als unumstrittene Ausbildungs- und Rekrutierungsstätte für hochrangige Beamte in spe zu etablieren. Doch rief der Erfolg zwangsläufig Bestrebungen auf den Plan, das Institut zu verstaatlichen. Anläufe dazu gab es bereits unter Jules Ferry, später unter der Volksfront-Regierung. Als Schule der Großbourgeoisie verschrien und obendrein in Paris ansässig, geriet das Institut nach der Befreiung 1944 wegen seiner Haltung unter dem Vichy-Regime ins Kreuzfeuer der Kritik. Die belastenden Tatsachen waren unbestreitbar, aber nicht schwerwiegend; einige führende Persönlichkeiten des Instituts wie etwa der Direktor Roger Seydoux wurden offiziell als Widerstandskämpfer anerkannt. Gleichwohl hätte im „Prozeß“ gegen die Verwaltungsspitze der Dritten Republik und des Vichy-Regimes durchaus auch diese Institution, die sich rühmte, die meisten hohen Beamten ausgebildet zu haben, auf der Anklagebank sitzen können. Und man hätte folgendermaßen argumentieren können: Der Gründungsanspruch des Instituts, die Eliteausbildung nach der geistigen Niederlage von 1870/71 erneuern zu können, sei historisch gescheitert und folglich auch für die neue Zeit nach der Befreiung zweifelhaft.

Doch die dramatischen Zeitumstände und der drohende Bürgerkrieg sorgten dafür, daß diese Auseinandersetzung an „Sciences-Po“ vorüberging. Die Provisorische Regierung und General de Gaulle schonten die Verwaltungsspitze im Interesse einer Kontinuität, was der École libre des sciences politiques zugute kam. Am 20. Februar 1945 stellte der kommunistische Abgeordnete Georges Cogniot vor der Beratenden Versammlung den entsprechenden Antrag auf Verstaatlichung, während der Sozialist Pierre Cot sein Projekt einer École nationale d'administration wieder aufnahm, das er bereits unter der Volksfront-Regierung ins Gespräch gebracht hatte. Niemand zweifelte daran, daß die Linke bei den Wahlen zur Nationalversammlung eine satte Mehrheit erlangen würde. Die Verstaatlichung war unausweichlich; man mußte also Vorkehrungen treffen.

Die Verordnungen vom 9. Oktober 1945 gingen über die bloße Verstaatlichung einer Privatschule weit hinaus und initiierten vielmehr, unter Verweis auf den gerechten „Prozeß gegen unsere öffentlichen Verwaltungsinstitutionen“, eine umfassende Verwaltungsreform. So wurde zunächst einmal die Fondation nationale des sciences politiques gegründet, eine Stiftung mit hybrider Rechtsform: eine private Institution, „vom Staat gewollt und vom Staat eingerichtet“. Dabei bedeutete die Verstaatlichung für die ehemaligen Eigentümer nicht etwa eine Enteignung, sie unterstrich vielmehr den Erfolg ihrer Unternehmung. Dem Institut, das als „aktives Widerstandsnest gegen den Eindringling“ beschrieben wurde, wurde offiziell Wohlverhalten bescheinigt. Und die Stiftung erhielt den Auftrag, Vermögen und Haushalt des Institut d'Études politiques de Paris zu verwalten und „den Fortschritt und das Studium der Politik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu befördern“.

Darüber hinaus wurde die Stiftung offiziell mit der Oberaufsicht über die Ausbildung der Beamten für den höheren Dienst betraut, wobei die entsprechenden gesetzlichen Regelungen äußerst kompliziert und kaum zu durchschauen sind. Weitere Gelder zur Finanzierung der Stiftungsaktivitäten flossen aus einem Sonderfonds des Regierungschefs. Die Zusammensetzung des Stiftungsrats garantierte, daß die Erben der Gründer, vornehm als „Geber unentgeltlicher Zuwendungen“ bezeichnet, die Kontrolle über das Institut behielten. Die personelle Erneuerung des Stiftungsrats fand alle zehn Jahre durch Kooptation statt, und der Präsident mußte aus den eigenen Reihen gewählt werden.

Konkret sah das so aus, daß die früheren Institutsleiter auch nach der Verstaatlichung ihre Stellen behielten; Roger Seydoux wurde in seiner Eigenschaft als Direktor 1947 von Jacques Chapsal abgelöst, der seit 1939 das Amt des Generalsekretärs bekleidet hatte. André Siegfried wiederum, der bedeutendste Intellektuelle der École libre, aus dem protestantischen Bildungsbürgertum stammend und sowohl Professor am Collège de France als auch Mitglied der Akademie, wurde zum Präsidenten der Stiftung ernannt. So konnten die etablierten Eliten den Wettlauf um die Kontrolle des Instituts rasch für sich entscheiden und ihre zwischenzeitlich gefährdete Stellung festigen. Die rechtliche Verstaatlichung entpuppte sich als trügerischer Schein. Zu lebenswichtig war für die etablierte Elite die Kontrolle über die Ausbildung des staatlichen Führungspersonals, als daß man sie der konkurrierenden (linken) Elite überlassen wollte, von der man annahm, daß sie bei den Parlamentswahlen die Mehrheit erringen würde.

Der Königsweg zur Machtelite

NACH der Gründung der École libre des sciences politiques hatte der Erfolg nicht auf sich warten lassen. Bereits 1879 erklärte Émile Boutmy vor dem Verwaltungsrat, die Schlacht sei gewonnen: „Die Schule hat ihre Effizienz in allen Aufnahmeprüfungen wiederholt unter Beweis gestellt und genießt schon heute ein regelrechtes Monopol.“ Nach der Verstaatlichung 1947 konnte sich die Schule nicht mehr offen ihrer Monopolstellung rühmen, da diese nicht den Normen einer Demokratie entsprach. Zwischen 1947 und 1969 jedoch zeigten die Ergebnisse der Aufnahmeprüfung zur École nationale d'administration (ENA) keinerlei Veränderungen: 77,5 Prozent der Zugelassenen besaßen einen Abschluß des Institut d'Études politiques de Paris (IEP). Und berücksichtigt man all jene Bewerber, die zwar einen anderen Abschluß gemacht haben, am IEP jedoch eine Art Vorbereitungskurs zur ENA-Aufnahmeprüfung absolviert haben, erhöht sich der Anteil auf über 90 Prozent. 1996 waren nach Angaben des Instituts 46 der 51 Studenten, die die ENA-Aufnahmeprüfung für externe Bewerber bestanden, Absolventen des IEP.

Die Effizienz des Instituts beschränkt sich indes nicht auf die Eintrittsvorbereitung zur ENA. Im Jahr 1996 verkündete „Sciences-Po“ weitere Erfolge: 13 der 28 Neueinstellungen beim Commissariat des Armes, 2 von 3 Abgeordneten in Nationalversammlung und Senat, 24 der 48 Zugelassenen zur École nationale de la Santé, 23 der 41 Neueinstellungen bei der Banque de France, 37 der 64 neueingestellten Franzosen bei der Europäischen Union (insgesamt 300) und 19 der 121 Zugelassenen zur École nationale de la Magistrature.

Im Hinblick auf die ENA konnte Sciences-Po seine Monopolstellung also wahren. Zwar wurden die anderen Institute für politikwissenschaftliche Studien in den achtziger Jahren mit zusätzlichen Finanzmitteln ausgestattet, um die Studenten in eigens dafür gegründeten Kursen auf die ENA-Aufnahmeprüfung vorzubereiten, doch an den prozentualen Verhältnissen hat sich dadurch nichts geändert. Zudem genießt das Pariser Institut den Vorteil, daß sich die Verwaltungen, aus denen es seine Hochschullehrer rekrutiert, vor Ort befinden. „Da die Studenten des IEP von Paris mehrere Jahre lang von Männern dieses Typs unterrichtet und bei den Aufnahmeprüfungen von denselben oder von deren Kollegen bewertet werden, sind sie gegenüber den Kandidaten, die dieses geistige und kulturelle ,Gepäck' nicht besitzen, mit Sicherheit privilegiert.“2

Zusätzlich verstärkt wird dieser Vorteil durch die Existenz privater Kurse. Bereits 1969 wetterte der Direktor der ENA: „Es ist ein Skandal, daß Kollegen aus unseren illustren Institutionen ebenso wie Ministerialbeamte gegen Bezahlung Kurse geben. Früher war das kostenlos, heute muß man dafür bezahlen. Ich glaube, hier ist die Regierung gefordert, dieser Praxis, die die Studenten aus der Provinz demoralisiert, einen Riegel vorzuschieben.“ Nichts deutet darauf hin, daß dieser Brauch verschwunden wäre. Die Studenten aus der Provinz und die Absolventen der Pariser Universitäten und Grandes Écoles strömen weiterhin in die Vorbereitungskurse des IEP von Paris, um bessere Chancen zu haben, richtiger: um, wie sie meinen, überhaupt eine Chance zu haben, die ENA-Aufnahmeprüfung zu bestehen. Allerdings hat Sciences-Po auf Drängen des Bildungsministeriums vor kurzem beschlossen, die Vorbereitungskurse den eigenen Studenten vorzubehalten.

Die IEP-Abteilung „öffentlicher Dienst“ stand, da sie auf die ENA und die Beamtenlaufbahn vorbereitete, lange Zeit in dem Ruf eines Königswegs. Doch da die Zahl der Stellen notgedrungen begrenzt ist, entwickelte die Institution weitere Studiengänge. Dabei baute die Direktion vor allem auf die Beschäftigungsmöglichkeiten, die sich den Absolventen in der Privatwirtschaft eröffnen. Die Abteilung „Wirtschaft und Finanzen“ (Ecofi) hat mitterweile Züge einer neuen Managementschule angenommen.

Die zunehmende Trennung zwischen den einzelnen Institutsabteilungen und die Diversifizierung der Lehrinhalte bedrohte die Einheit der Institution offenbar so sehr, daß eine Reform gerechtfertigt erschien. Die sogenannte „Reform Lancelot“ brachte zwei Neuerungen: den Ausbau der allgemeinbildenden Fächer, zumal der Geschichte, und eine Ausdifferenzierung der Studienangebote und Wahlfächer. Die neuerliche Betonung des Sprachunterrichts und der Informatik sowie die Organisation von Auslandsaufenthalten und Betriebspraktika weckt Assoziationen an eine Business School. Der ständige Hinweis der Institutsleitung, sämtliche Absolventen würden sogleich einen Arbeitsplatz finden, stützt diese Vermutung.

Kein Monopol hat Bestand, wenn es nicht Anstrengungen unternimmt, etwaige Konkurrenz im Keim zu ersticken. Jedesmal, wenn die Schaffung eines konkurrierenden Instituts für politikwissenschaftliche Studien im Raum Paris im Gespräch war, hat das IEP eine Art Vetorecht geltend gemacht. Und die IEPs in der Provinz, die unter der Schirmherrschaft des Pariser IEP stehen, hängen finanziell wie symbolisch von der Fondation nationale des sciences politiques ab. Das wichtigste Mittel zur Sicherung der eigenen Monopolstellung ist und bleibt jedoch die alte, aber noch immer wirksame Strategie von Émile Boutmy: Die Rekrutierung des Lehrkörpers aus hochrangigen Beamten zahlte sich nicht nur bei der Vorbereitung auf die diversen Aufnahmeprüfungen aus, sondern verschaffte der École libre des sciences politiques auch ein weitgespanntes Netz von Unterstützern.

Seit der Gründung der École nationale d'administration (ENA), deren Studenten hauptsächlich aus Sciences-Po kommen, hat sich das Netz der Unterstützer im gehobenen Dienst erheblich erweitert und umfaßt, da das politische Führungspersonal inzwischen hauptsächlich aus ENA- Absolventen (“Enarchen“) besteht, nun auch zahlreiche führende Persönlichkeiten aus der Politik. Kein Wunder also, daß es der Institution an finanziellen Mitteln nicht mangelt, daß sie pro Student zehnmal soviel ausgibt wie eine Universität. Und wenn trotz der diversen Geldquellen aus dem Budget des Bildungsministeriums, aus einem Sonderhaushalt und aus dem Abgabenfonds zur Förderung der beruflichen Bildung und der Lehrlingsausbildung ein Defizit auftritt, können die politisch Verantwortlichen nur schwer ihre Unterstützung verweigern.

Die Institution, die sich ihrer Fähigkeit zu pädagogischen Neuerungen rühmt, erinnert immer wieder gern an ihre kühnen Gründerzeiten. Gegründet wurde die private Initiative ursprünglich als Alternative zu den verknöcherten, konservativen Universitäten. Die im wesentlichen historisch orientierten Lehrinhalte bezogen sich in erster Linie auf die Zeitgeschichte. Nach und nach fanden weitere Neuerungen Eingang, etwa die „Methodenkonferenz“ (Gruppenarbeit), die in der Zwischenkriegszeit zwingend vorgeschrieben wurde. Die Verordnungen von 1945 rühmten diese Pädagogik, und die IEPs erhielten den Auftrag, ihren bisherigen Weg weiterzuverfolgen, „die Studenten mit den Arbeits- und Vortragsmethoden vertraut zu machen und in die konkreten Probleme der Verwaltung und des gesellschaftlichen Lebens einzuführen“.

Brillant verkauftes Breitspurwissen

DIE Ausbildung von Sciences-Po steht in dem Ruf, oberflächliches Wissen und die Fähigkeit zu brillanter Darstellung zu vermitteln. Sie ist das widersprechende Echo der ursprünglichen Ambition, virtuose Ausdrucksfähigkeiten mit umfassender Bildung zu verbinden. Wenn es eine für die Institution gleichsam emblematische Übung gibt, dann ist es die „große mündliche Prüfung“ (grand oral oder grand O), die man am Ende des Studiums vor einer Jury ablegt, nachdem man sich die ganzen Jahre darauf vorbereitet hat, und die auf das grand O der École nationale d'administration vorbereitet. Dabei wird im Grunde gar nicht das fachliche Wissen geprüft, etwa in Jura oder Ökonomie, obwohl dies von den Mitgliedern der Jury abhängt, denn die rhetorischen Fähigkeiten des Prüflings werden noch bei einer anderen, eher mondän ausgerichteten als wissensorientierten Übung auf die Probe gestellt.3 Das grand O ist in erster Linie ein Initiationsritual, das so mancher Prüfling in unvergeßlicher Erinnerung behält, wieder und wieder in allen Einzelheiten, Frage für Frage und Sekunde um Sekunde memoriert und Zeit seines Lebens zum Besten gibt. Doch die Verordnungen und Erlässe von 1945 betonen auch den wissenschaftlichen Auftrag der Institution, denn auf eine intellektuelle Legitimation kann keine Elite-Ausbildung verzichten.

Mit ihren traditionellen Lehrinhalten Jura, Geschichte, Geographie und Ökonomie – den früheren politischen und Geisteswissenschaften – empfahl sich die École libre des sciences politiques als Schule der Macht. Später traten moderne Wissenschaftszweige als US-amerikanische Übernahmen in Erscheinung, allen voran die Meinungsforschung. Sie umfaßte sämtliche neueren Erkenntnisse, auf die sich die Regierung bei ihrer Arbeit stützen konnte. Diese jungen, aufstrebenden Wissenschaften wurden von den etablierten Eliten und der Staatsgewalt nun in Regie genommen.

Wichtigstes Lehrfach blieb jedoch die Geschichte. Man muß sich vor Augen halten, welche Neuerung es bedeutete, als Émile Boutmy die Zeitgeschichte ins Zentrum des Studiengangs rückte. Indem er die alte humanistische Bildung durch die Kenntnis zeitgenössischer Tatsachen ersetzte, brach er mit einer jahrhundertelangen Tradition der Elite-Ausbildung. Keineswegs sicher ist indes, ob er gleichzeitig auch mit der alten Pädagogik der exempla brach, derzufolge zeitgeschichtliche Kenntnisse in erster Linie als Vorbereitung auf künftige Führungsaufgaben erworben werden. Dieser Art von legitimistischem Wissen geht es eher um die Erörterung von Haupt- und Staatsaktionen als um den neuesten Stand historischer Forschungen.

Der Erfolg der Institution hing angesichts ihres Auftrags in entscheidendem Maße davon ab, daß sie rhetorische Fähigkeiten und methodisches Arbeiten zur Erstellung von Dossiers vermittelte. Diese Fertigkeiten haben mit wissenschaftlicher Erkenntnis in der Tat recht wenig, mit einem Wissen, das sich praktisch verwerten und zur Legitimationsbeschaffung verwenden läßt, indes sehr viel zu tun. Gleichwohl konnte die Institution auf die Wissenschaft nicht ganz verzichten, denn ohne sie läßt sich keine Machtinstanz legitimieren, kein Verdienst bewerten.

Ein Professor beschrieb den Übergang zum Doktorandenstudium denn auch als Bruch und regelrechte Konversion: „Es geht nun nicht mehr (oder nicht mehr ausschließlich) um Verstehen, Lernen und die Fähigkeit, erworbenes Wissen geschickt und elegant in neuen Konstellationen zu reproduzieren, sondern es wird immer häufiger darum gehen, eigenständig Forschung zu betreiben und die Ergebnisse nach den üblichen sozialwissenschaftlichen Kriterien auszuwerten. Oder, um es auf den Punkt zu bringen: Von nun an ist wissenschaftliches Arbeiten gefordert.“ Das inhaltlich verschulte, formal moderne Wissen ist also für die Mehrzahl der Studenten bestimmt, die entweder ins Berufsleben eintreten, eine Aufnahmeprüfung für die Beamtenlaufbahn anstreben oder in andere, fachlich spezialisierte Elitehochschulen überwechseln wollen; Wissenschaft im eigentlichen Sinne ist nur für eine Minderheit geboten, die ihre Studien an der Institution fortsetzen will. Der Gegensatz könnte schärfer nicht sein.

Das Institut wird häufig gerühmt, es habe das Erbe des politischen Liberalismus zeit seines Bestehens bewahrt und weitergetragen. Eine Untersuchung der Klausurarbeiten aus der Zwischenkriegszeit hat diese Ansicht widerlegt und gezeigt, daß die Institution durchaus zu orthodoxem Denken nötigt. Nur sind diese Zwänge kaum sichtbar, da man sich den Anforderungen stillschweigend beugt und, indem man die Weltoffenheit der Institution rühmt, nur seine eigene geistige Unabhängigkeit herauszustreichen sucht. Niemand kann beim Schreiben eines Referats oder einer Hausarbeit davon absehen, daß die Kriterien für ausgezeichnete Leistungen innerlich verwandt sind mit den institutionalisierten Vorstellungen einer gemäßigten Demokratie.

Die Institution vertritt durchaus ihre eigene Ideologie. Vielleicht enthält bereits die Festlegung als Elitehochschule implizit dieses politische Programm der gemäßigten Demokratie, in der, um eine Formulierung von Montesquieu aufzunehmen, „das niedere Volk durch die Vornehmsten aufgeklärt und durch die Gemessenheit gewisser Persönlichkeiten im Zaum gehalten werden muß“. Die Verteidigung der Demokratie realisiert sich hier gerade in einer habituellen Denunziation jeglichen Extremismus, dessen linke und rechte Ausprägungen gleich viel gelten. Auf die Kritik der totalitären Regime folgte nach deren Untergang die Stigmatisierung des Populismus, ein willkommener Anlaß, um abermals zu bekräftigen, daß die Demokratie dem unwissenden Volk ausgeliefert wäre, würde sie durch die Vermittlung der Eliten nicht in gemäßigte Bahnen gelenkt (vgl. untenstehenden Kasten).

Die Machtübergabe an der Spitze der Institution erfolgt, wie es heißt, nach „Brauch des Hauses“. Dieser Brauch stammt noch aus der Zeit der École libre des sciences politiques. Émile Boutmy blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1906 Institutsdirektor, sein Nachfolger, Baron von Eichtal, übte das Amt bis 1936 aus, als er bereits über neunzig Jahre alt war, und nach einer Zeit der Wirren (von der Volksfront-Regierung 1936 bis zur Befreiung 1944) bekleidete von 1947 bis 1979 Jacques Chapsal das Amt des Direktors.

Eine Wahl, die fast keine ist

JEDER neue Direktor wird, nach Absprache mit den Hauptverantwortlichen des Instituts, von seinem Vorgänger ernannt. So auch 1986, als Alain Lancelot nachrückte: Der scheidende Direktor verkündete seinen Rücktritt und gab bei dieser Gelegenheit den Namen seines Nachfolgers bekannt. Der Präsident des Direktoriums, François Goguel, wies darauf hin, wie begrenzt der an der Ernennung beteiligte Personenkreis ist. „Im Hinblick auf die Frage des Nachfolgers hat sich [der scheidende Direktor] mit dem Verwaltungsratsvorsitzenden der Fondation nationale des sciences politiques, René Rémond, abgesprochen und im Einvernehmen mit Michel Gentot die Ansicht geäußert, die geeignetste Person für den Posten des Direktors sei Alain Lancelot, der als Professor der Philosophie und Hochschullehrer seine ganze Laufbahn in der Rue Saint-Guillaume verbracht hat.“

Ein institutsfremdes Mitglied des Direktoriums wunderte sich daraufhin mit gespielter Naivität, daß nur ein Kandidat zur Wahl stehe und daß bei der Auswahl des neuen Direktors die Zielsetzungen der Schule nicht argumentativ im Zentrum stünden. Diese Bemerkungen wurden als grobe Beleidigung empfunden, wie in jenen fröhlichen Runden, in denen jeder Widerspruch und jede Übertretung des unausgesprochenen Einverständnisses unweigerlich als fehlender Takt angesehen wird. Die Ermahnung zu größerem Anstand folgt auf dem Fuße: Ein anderes Direktoriumsmitglied „bedauert, daß die Diskussion eine derartige Wendung nimmt“, und findet es „beklagenswert, daß gewisse Bemerkungen den Anschein erwecken, als habe das Direktorium die Wahl manipuliert“. Der Kandidat wurde mit 22 Jastimmen bei 4 Enthaltungen gewählt. Erstmals war nun ein Hochschullehrer Direktor des Instituts geworden. Doch es sollte auch das letzte Mal sein: Als Lancelot vom Senatspräsidenten, dessen Berater er war, 1996 in den Verfassungsrat berufen wurde, fiel die Wahl des Nachfolgers wie gewöhnlich auf ein Mitglied des Staatsrats.

Von den 1200 Personen, die 1996/1997 am Institut lehrten, sind nur sehr wenige fest angestellt: 25 Universitätsprofessoren, ein paar Assistenten, insgesamt nur rund 40 Hochschulangehörige. Diese Besonderheit ist bemerkenswert, auch wenn sie in der Tradition der alten École libre steht. Die Dreiteilung des Lehrkörpers in Hochschulangehörige, Beamte und Dozenten aus der Privatwirtschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß nur wenige Institutslehrer regulär angestellt sind. Im Unterschied zu den Hochschullehrern, die nach den Regeln des universitären Auswahlverfahrens ernannt werden, werden die nebenberuflichen Dozenten, die die große Mehrheit des Lehrkörpers bilden, von der Institutsleitung ausgewählt. Damit hat die Direktion einen unmittelbaren Zugriff auf die Lehre am Institut. Zwar wird die Leitung sich wohl kaum mit jeder einzelnen Ernennung befassen, doch kann sie bei der Wahl der Universitätslehrer, die über eine institutsfremde Legitimation und damit eine gewisse Unabhängigkeit verfügen, ihre Wünsche geltend machen.

Diese Einstellungspolitik der Institutsleitung erklärt die erstaunliche Tatsache, daß das Institut bei keinem Ministerium um Personalzuweisung bitten muß, was den Ministerien nur recht sein kann. Die Qualitäten dieses Systems sind oft hervorgehoben worden, verfügt das Institut auf diese Weise doch über ein immenses Reservoir an Kompetenzen. Für die nebenberuflichen Dozenten sind die Vorteile eines Lehrauftrags am Institut offenkundig weniger materieller als symbolischer Natur: Unabhängig vom Universitätsabschluß kann man so den Titel eines Professors oder Assistenten von Sciences-Po vor sich hertragen. Die Institution besitzt mithin ein staatlich konzessioniertes Ausnahmerecht zur Prägung symbolischer Münzen. Man kann sich vorstellen, daß sich die Dozenten aus der Politik der Institution heraushalten, denn erstens sind sie nicht genügend ins Institutsleben eingebunden, und zweitens verdanken sie ihre Ernennung der Direktion.

Soziale Auslese, ein Kavaliersdelikt

DAS Klientelsystem ist mit ein Grund für die Machtstellung von Sciences-Po innerhalb des Staates, denn die von der ENA unter Vertrag genommenen hochrangigen Beamten sind zu einem Gutteil Absolventen von und später Lehrer bei Sciences-Po. Seit ihrer Verstaatlichung ist die Verhandlungsmacht der Institution im selben Maße gestiegen, wie sie das staatliche Führungspersonal ausbildete. Die für sie geltenden gesetzlichen Bestimmungen und die vertraglichen Beziehungen mit den Behörden lassen sich weitgehend beeinflussen, wie ein ehemaliger Direktor des Instituts mit Genugtuung herausstrich: „Unser Institut besitzt von allen französischen Hochschulen die größte Autonomie, denn wir dürfen uns rühmen, die für uns geltenden Erlässe selbst verfaßt zu haben.“ (Michel Gentot, 1985). Die Institution entwirft, entscheidet, verfaßt; die öffentliche Hand unterzeichnet.

Die Verstaatlichung sollte angeblich die soziale Selektivität der École libre des sciences politiques korrigieren, der man immer wieder vorgeworfen hatte, sie sei von und für die Pariser Bourgeoisie geschaffen worden.4 Im Zentrum der Kritik stand, daß die Institution praktisch nur den höheren Schichten offenstehe, daß die hohen Studienkosten nur von den Reichsten bezahlbar seien, daß das Institut die Ausbildung der Beamten des höheren Dienstes monopolisiere. Diese Kritik erscheint seit der öffentlich-rechtlichen Stellung des Instituts nur um so gerechtfertigter. Die Institution hingegen war stets bemüht, diese Vorwürfe zu entkräften. Bereits die École libre machte geltend, Studenten aus bescheidenen Verhältnissen erhielten ein Stipendium, und wie eine Untersuchung des Instituts zeige, hätten nicht nur Angehörige der höheren Schichten Zugang. Seit den sechziger Jahren haben Mitglieder des Instituts wiederholt Studien veröffentlicht, die das Image der sozialen Selektivität korrigieren sollten. Doch können die Interpretationen des statistischen Materials nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Institution mit Blick auf die schulische und soziale Herkunft der Studenten noch immer äußerst selektiv wirkt, im Gegensatz zu den Universitäten, deren Studentenzahlen erheblich zugenommen haben.

Der Studentenstreik 1995 gegen die „Reform Lancelot“ entzündete sich an der Abschaffung der Instituts-Stipendien für sozial Schwache und die Erhöhung der Einschreibegebühren von 800 auf 5600 Franc. Die Institutsleitung gab an, sie wolle den Studenten damit einen Anreiz bieten, ein Darlehen aufzunehmen, das sie nach Beendigung ihrer Studien ja problemlos zurückzahlen könnten, da sie ausnahmslos sofort eine Stelle finden würden. Ohne Widerspruch zu fürchten, rechtfertigte der Direktor die Sparmaßnahmen mit der privilegierten sozialen Herkunft der Studenten und den guten Studienbedingungen. Als Demokratisierung konnte man diese Anleihe bei den Business Schools allerdings schwerlich verkaufen.

Dem offiziell verkündeten Ziel einer Öffnung für breitere Schichten steht die Vorstellung im Wege, eine Schule der Macht dürfe nur begrenzt Studenten aufnehmen und bedürfe einer räumlichen Anbindung. Während andere Elitehochschulen an den Stadtrand oder in die Provinz verlagert wurden, residiert Sciences-Po weiterhin in den alten Räumlichkeiten im 7. Arrondissement. Eine Institution, deren Aufgabe in der Reproduktion der Machtelite besteht, hat sich nach gängiger Auffassung in unmittelbarer Nähe der politischen Institutionen, der Ministerien und Parlamentsgebäude, zu befinden.

Die Kontinuität der Institution und die effektive Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Reproduktionsfunktion steht im Spannungsfeld zwischen der Aufrechterhaltung der institutsinternen Machtstrukturen einerseits und der wissenschaftlichen Geltung der Institution andererseits. Die restriktive Einstellungspolitik der Direktion trägt zwar dazu bei, diese der Reproduktion der gesellschaftlichen Elite förderlichen Machtstrukturen zu bewahren, doch nur um den Preis einer Schwächung der Institution selbst und auf absehbare Zeit auch ihrer Legitimationsfähigkeit. Ob der Einsatz institutsfremder Dozenten die geringe Zahl festangestellter Hochschullehrer kompensieren kann, ist höchst zweifelhaft. Gegenüber den französischen und ausländischen Universitäten, die diese politischen Imperative der Machtreproduktion nicht zu berücksichtigen haben, läuft das Institut jedenfalls Gefahr, als wissenschaftliche Institution den Anschluß zu verlieren.

Für die Gesellschaft bergen die beschriebenen Strukturen weit größere und unmittelbarere Gefahren. Wie sollen alternative Lösungsansätze für drängende gesellschaftliche Probleme auch nur denkmöglich sein, wenn die gesamte Elite in denselben Denk- und Handlungsweisen ausgebildet wird? Die Gemeinsamkeiten, die es so sehr erleichtern, sich gegenseitig zu verstehen und oft auch zu denselben Schlußfolgerungen zu gelangen, führen zu eingefahrenem Routinehandeln und isolieren gegenüber dem Rest der Welt.

dt. Bodo Schulze

* Professor für Politologie an der Universität Paris-X- Nanterre.

Fußnoten: 1 Dazu Gréard Vincent, „Sciences-Po, histoire d'une réussite“, Paris (Editions Orban) 1987. 2 Vgl. Jean-Luc Bodiguel, „L'école nationale d'administration“, Paris (Editions de la Presse nationale des sciences politiques) 1978. 3 Dazu den Bericht von Pierre Bourdieu, „La Noblesse d'État: grandes Écoles et esprit de corps“, Paris (Editions de Minuit) 1989. 4 Vgl. Christophe Charle, „Entre l'Élite et le pouvoir“, Le Débat 64, März/April 1991.

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von ALAIN GARRIGOU