Die Börse bricht
Von IGNACIO RAMONET
DIE verheerende Schockwelle der Finanzkrise, die am 2. Juli 1997 von Thailand ihren Ausgang nahm, ist noch lange nicht verebbt, auch wenn sie derzeit eine Pause einzulegen scheint. Angesichts der zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtungen steigt die Gefahr kaskadenartiger Katastrophen. Nach dem Zusammenbruch der meisten ostasiatischen Währungen und dem folgenden wirtschaftlichen Kollaps der Region, zumal Indonesiens, erlitt am 17. August 1998 der russische Rubel starke Kursverluste, und im vergangenen Januar folgte der brasilianische Real. Die Hälfte der Weltwirtschaft steckt in einer Systemkrise; und ob die andere Hälfte, zu der auch die Europäische Union gehört, den Krisenvirus in Schach halten kann, ist mehr als zweifelhaft. Fragt sich nur, welche Dominosteine als nächste umfallen werden.
Die dringendsten Befürchtungen gelten China, vor allem da Japan, das auch von der Rezession betroffen ist, jüngst beschlossen hat, den Wechselkurs der Landeswährung zu senken. Die Abwertung des Yen destabilisiert die gesamte Region und führt automatisch zu einer Überbewertung der chinesischen Währung. Früher oder später wird Peking daher gezwungen sein, den Yuan abzuwerten, auch wenn Premierminister Zhu Rongji immer wieder das Gegenteil versichert.
Der Kurseinbruch hat für den Export Chinas negative Folgen, denn Japan ist für Peking einer der wichtigsten Abnehmer. Das Land nimmt ein Viertel der chinesischen Ausfuhren auf, die nun durch wettbewerbsfähigere Erzeugnisse aus anderen asiatischen Ländern Konkurrenz erhalten. Die chinesischen Exporte, die zu 60 Prozent nach Asien fließen, sind 1998 bereits um 9,2 Prozent gefallen, mit entsprechend negativen Wachstumsfolgen. Nachdem die Wachstumsrate in den vergangenen zwanzig Jahren stets die 10-Prozent-Marke überschritt, erreichte sie 1998 nach offiziellen Angaben kaum 8 Prozent und lag in Wirklichkeit unter 5 Prozent. Die Auslandsdirektinvestitionen fielen im vorigen Jahr sogar um 25 Prozent.1
Die Reichtumsunterschiede in diesem „kommunistischen“ Land sind proportional gesehen größer als in den USA, und die laufende Umstrukturierung der staatseigenen Unternehmen äußert sich in Massenentlassungen und verdeckter Arbeitslosigkeit: In den Städten haben 30 Millionen Arbeiter ihren Arbeitsplatz verloren, und auf dem Land sind 160 Millionen Bauern überzählig. Die staatlichen Behörden entdecken, daß der Aufbau des Kapitalismus ohne Demokratie ein äußerst riskantes Unterfangen ist. Infolge der endemischen Korruption und Vetternwirtschaft macht sich Unzufriedenheit breit. Da die Zahl neuer Arbeitplätze nicht ausreicht, um die Entlassungswellen aufzufangen, versucht die Regierung, durch eine massive Erhöhung der Staatsausgaben die Wirtschaft zusätzlich anzukurbeln (mit 1000 Milliarden Dollar bis 2001).
Die Verunsicherung in der Bevölkerung führt zu höherem Vorsorgesparen und einem drastischen Konsumrückgang. Der Absatz im Einzelhandel fällt, die Immobilienblase platzt, Konkursanmeldungen und Betriebsschließungen nehmen zu, Deflation macht sich breit (die Preise sind im vergangenen Jahr um 1,5 Prozent gefallen). Trotz Devisenkontrolle haben 1998 schätzungsweise 30 Milliarden Dollar das Land verlassen. Das Bankensystem bricht unter dem Druck zweifelhafter Forderungen zusammen, die sich auf 25 Prozent der Gesamtverbindlichkeiten belaufen. Pleiten häufen sich. Im Oktober 1998 mußte die Guangdong International Trust and Investment Corporation (Gitic), das Aushängeschild des Kapitalismus der reichsten chinesischen Provinz, Kanton, Konkurs anmelden. Weitere 240 Finanzinstitute (Itics), in denen Unterschlagungen an der Tagesordnung sind, wurden von den großen Rating-Agenturen Standard & Poor's und Moody's unter Aufsicht gestellt.
ZWAR schützt die eingeschränkte Konvertibilität des Yuan China vor der Spekulation, doch eine Abwertung im Laufe dieses Jahres bleibt nach wie vor wahrscheinlich. Dies würde den fest an den US-Dollar gebundenen Hongkong-Dollar unter Druck setzen, in der gesamten Region eine neue Abwertungsspirale auslösen und in mehreren Schlüsselregionen der Welt das wirtschaftliche Gleichgewicht gefährden.
Zumal China nicht mehr der einzige Dominostein ist, der zu kippen droht. Äußerst besorgniserregend ist die Situation auch in den Vereinigten Staaten, dem derzeitigen Motor der Weltwirtschaft. Die nachlassende Wirtschaftstätigkeit in Asien und vor allem in Lateinamerika, das 20 Prozent der US-Exporte aufnimmt, hat verheerende Konsequenzen. Als US-Notenbankpräsident Alan Greenspan im vergangenen Herbst die Rettung des Spekulationsfonds Long Term Credit Management organisierte, senkte er gleichzeitig den Zinssatz, um den Banken Luft zu verschaffen. Die Börse, deren „irrationale Auswüchse“ er anprangerte, als der Dow Jones die 6500-Punkte-Marke ansteuerte, fühlte sich zu neuen Höchstleistungen angespornt und näherte sich der Schwelle von 10000 Punkten.
Bei den Amerikanern entsteht dadurch der Eindruck, daß sie sogar im Schlaf immer reicher werden. Sie sparen nicht mehr und verschulden sich über alle Maßen. Während die Investitionstätigkeit nachläßt, nehmen die Einfuhren ständig zu. Das Handelsbilanzdefizit für 1999 wird wahrscheinlich über 200 Milliarden Dollar liegen, und die Auslandsverschuldung hat die 2000-Milliarden-Dollar-Marke erreicht. Schätzungen zufolge ist die New Yorker Börse, gedopt durch billiges Geld, um 25 Prozent überbewertet. Eine Abwertung des Dollar gilt als sehr wahrscheinlich. Diverse Kenner halten einen massiven Einbruch an der Wall Street für unausweichlich.2 Wie wird sich dies auf die Wirtschaft weltweit und insbesondere auf die Wirtschaft der EU-Länder auswirken? Werden wir uns dem Teufelskreis einer allgemeinen Deflation und weltweiten Rezession entziehen können?