Das dritte Leben der Roten Khmer
SEIT am 25. Dezember letzten Jahres zwei führende Repräsentanten des ehemaligen Pol-Pot-Regimes nach Kambodscha zurückkehrten, schwelt die Debatte im Lande, wie mit diesen Staatsmördern nun zu verfahren sei. Die widersprüchlichen Äußerungen der heutigen Politiker machen deutlich, daß in Kambodscha ein Grundkonsens über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit noch nicht hinreichend verankert ist. Zwar geistern zuweilen Vorschläge eines internationalen Tribunals oder eines Sondergerichtshofs durch den Raum dochwerden sie von den führenden Poltikern stets rasch wieder zurückgezogen.
Von unserem Korrespondenten RAOUL MARC JENNAR *
Am 25. Dezember 1998 fahren zwei Wagen am Grenzposten Pailin von Thailand kommend über die Grenze nach Kambodscha. Khieu Samphan und Nuon Chea, die sich bis dahin im Schutz der thailändischen Armee aufgehalten haben, kehren samt ihren Familien in ihr Land zurück. In völliger Freiheit. Als „gewöhnliche Staatsbürger“1 , wie es in einem Briefwechsel mit Premierminister Hun Sen heißt. Vor zwanzig Jahren fungierte Khieu Samphan als Staatschef in dem Regime, das sich „Demokratisches Kampuchea“ nannte und dessen starker Mann Pol Pot hieß. Nuon Chea war damals Präsident der Versammlung der Volksvertreter. Vor zwanzig Jahren eroberte die vietnamesische Armee, flankiert von zwanzigtausend kambodschanischen Rebellen-Soldaten, das Kambodscha der Roten Khmer, um das Pol-Pot-Regime zu stürzen.
Was in Kambodscha derzeit stattfindet, ist ein wahres politisches Erdbeben. Die Rede, die Premierminister Hun Sen aus Anlaß der Rückkehr hielt, steht im völligen Widerspruch zu seinem bisherigen Vorgehen, denn seit er sich im Juni 1977 als stellvertretender Kommandant eines Regiments an der vietnamesischen Grenze gegen Pol Pot auflehnte, war er immer als entschiedener Gegner der Roten Khmer aufgetreten. Nun fragt er plötzlich: „Ist es im Interesse unseres Landes, diese beiden Personen ins Gefängnis zu bringen, oder führt das zu einem neuen Bürgerkrieg? (...) Heute geht es nicht um ein Tribunal, sondern um Versöhnung.“
Diese Haltung überrascht, denn Hun Sen erinnert seit 1979 unermüdlich an das Leiden des kambodschanischen Volkes unter dem Pol-Pot-Regime und behauptet von sich, nie ein Roter Khmer im Sinne Pol Pots gewesen zu sein.2 Er will sich sogar gegen dessen Regime aufgelehnt haben, weil Pol Pot das politische Projekt verraten habe. Im übrigen bezieht die Kambodschanische Volkspartei (CPP) von Hun Sen ihre historische Legitimation gerade aus dem Kampf gegen die Roten Khmer und rechtfertigte noch im Juli 1997 die Ausschaltung Prinz Norodom Ranariddhs mit der Notwendigkeit, die Rückkehr der Roten Khmer an die Macht zu verhindern.3
Am 1. Januar 1999 korrigierte Hun Sen allerdings seine Äußerungen gegenüber den beiden Rückkehrern und erklärte, die Initiative zu einem Gerichtsverfahren – gegen das er nichts mehr einzuwenden habe – könne nur nicht von ihm selbst ausgehen. Diese Erklärung ist wenig überzeugend, wenn man weiß, daß die kambodschanische Justiz keineswegs unabhängig ist und daß die Exekutive der Staatsanwaltschaft die Einleitung eines Gerichtsverfahrens durchaus vorschreiben kann. Noch im Januar plädierte der Premierminister für ein internationales Tribunal, das die Verantwortung aller Personen untersuchen soll, die von 1975 bis 1998 „die Roten Khmer“ sowie die „zwischen 1970 und 1975 begangenen Verbrechen“ unterstützt haben.4 Dieses Ja zu einem Tribunal ist in Wirklichkeit ein Nein, denn niemand kann ernsthaft annehmen, daß die betroffenen Länder wie die Vereinigten Staaten, China oder Thailand sich für ein Tribunal einsetzen, das auch über ihre damalige Unterstützung der Roten Khmer zu urteilen hätte.
Auch König Norodom Sihanouk vollzog jüngst eine Kehrtwendung: Während Hun Sen glaubte, Sihanouk, der Vater der „nationalen Versöhnung“, würde die Öffnung gegenüber den Roten Khmer unterstützen, verkündete dieser, er werde keine Amnestie für die beiden Rote-Khmer- Führer gewähren. Er erklärte sogar, er selbst würde ein internationales Tribunal befürworten und sich diesem auch stellen.
Karma und politische Verantwortungslosigkeit
NORODOM SIHANOUK hatte zwar zwischen 1970 und 1979 selbst einen blutigen Konflikt mit den Roten Khmer ausgetragen. Aber nach der vietnamesischen Intervention von 1978/79 hatte er selbst der 1982 gebildeten Koalitionsregierung des Demokratischen Kampuchea vorgestanden, obwohl in dieser Regierung, die alle Oppositionskräfte gegen das Regime in Phnom Penh vereinigte, die Roten Khmer die stärkste Kraft waren.5
Sihanouk selbst hatte am 17. Dezember 1988 in Paris erklärt: „Khieu Samphan ist ein Mörder, aber er ist kein Verräter.“ Und er hatte sich persönlich dafür eingesetzt, daß in dem Pariser Abkommen von 1991 das Wort „Genozid“ nicht vorkam. Seit er wieder als König in Amt und Würden ist, wiederholt er regelmäßig, daß „ein Frieden ohne die Roten Khmer nicht möglich“ sei. Im Juli 1994 weigerte sich der damalige Staatschef, ein Gesetz zu unterzeichnen, das die Bewegung der Roten Khmer für illegal erklärte.6 Und noch am 3. Juni 1998 empfing er in seiner Eigenschaft als „Vater der nationalen Versöhnung“ den früheren Außen- und Agrarminister des Pol-Pot-Regimes, Ieng Sary, der auch für den Tod von Sihanouks Kindern und Enkelkindern verantwortlich war. Doch heute hat sich die Haltung des Königs radikal gewandelt.
Der dritte, der eine Kehrtwendung vollzog, war der Oppositionsführer Sam Rainsy. Während seiner ganzen politischen Laufbahn hatte er für eine Reintegration der Roten Khmer plädiert, und (wie Sihanouk und Hun Sen) mit ihnen in der Koalitionsregierung sowie im Obersten Nationalrat zusammengearbeitet (einem Organ, das im Pariser Abkommen geschaffen wurde, um die internationale Legitimität Kambodschas zu wahren). Bezeichnend war auch, daß er im Juli 1994 das Anti-Khmer-Gesetz bekämpfte, auch wenn er ihm um der Regierungsdisziplin willen am Ende zustimmte. Als seine Partei bei den Parlamentswahlen von 1998 im Bezirk Pailin7 die Mehrheit erhielt, erklärte Rainsy den Erfolg mit seinem Versöhnungskurs. Doch kaum war Hun Sen von der Idee eines internationalen Tribunals gegen Khieu Samphan und Nuon Chea abgerückt, wurde Rainsy zu ihrem entschiedensten Befürworter.
Man kann das alles als puren Opportunismus sehen. Aber anderseits ist in der kambodschanischen Gesellschaft wie im Staatsapparat ein allgemeiner Verfall der Werte zu verzeichnen. Vor allem die Haltung von Hun Sen wurde sehr verschieden gedeutet. Am polemischsten reagierte die Opposition, die ihn als einen zweiten Pol Pot hinzustellen versuchte und behauptete, Hun Sen habe keinerlei Interesse an einer Aufklärung seiner Vergangenheit. Diese Deutung ignoriert jedoch die Arbeiten verschiedener Historiker wie auch die Äußerungen von Hun Sen selbst, der sich wiederholt bereit erklärt hat, vor einem internationalen Tribunal zu erscheinen.
Diese Erklärung reicht also nicht aus. Die Vorstellung, es gäbe einen Vertrag zwischen dem Volk und seinen frei und regulär gewählten Vertretern, ist der politischen Kultur Kambodschas völlig fremd. Noch immer dominiert ein auf persönlichen Beziehungen beruhendes Feudalmodell – darüber können auch moderne Autos, Computer und Handys nicht hinwegtäuschen. Kambodscha gehört zur Gruppe der therawadischen Gesellschaften (mit Birma, Laos und Thailand), die durch den südlichen Buddhismus (hinayana, d.h. „kleines Fahrzeug“) inspiriert sind, der sich auf die Originaltexte bezieht. Aber dieser Buddhismus ist aufgesetzt, und darunter ist die Gesellschaft zutiefst von Animismus und insbesondere von javanischen Mythen durchdrungen. Und in ihm haben sich auch Spuren des Hinduismus erhalten, wie sie etwa im Verhältnis der Roten Khmer zur Macht erkennbar sind. Das politische System, das aus diesen kulturellen Prägungen entstand, ist alles andere als ein Rechtsstaat: Die Gesellschaft wird nicht durch das Gesetz strukturiert, sondern durch den Unterwerfungsakt unter einen Clanchef.
Hun Sen genießt heute den Triumph seiner Politik, die auf die Zerschlagung der Roten Khmer abzielte. Sie findet ihre Krönung in der Rückkehr der beiden wichtigsten Stellvertreter Pol Pots. Dieser Mann, der den unheilvollen Einfluß der Polpotisten rastlos bekämpft hat, ist fürs erste am Ziel. Er hat das geschafft, woran die Vietnamesen, die UNO und vor allem Norodom Sihanouk gescheitert sind. Er allein hat dem Land den Frieden gebracht, und jetzt genießt er den Triumph, daß ihm die Aussöhnung mit den Kräften gelingt, die in der Vergangenheit seine schlimmsten Feinde waren. Was die fünf Fernsehkanäle am Abend des 29. Dezember 1998 ausstrahlten, bedeutete weder so etwas wie eine militärische Kapitulation noch eine politische Desertation, es war vielmehr eine feudale Unterwerfungsgeste im ursprünglichen Sinne.
Und noch eine kulturelle Dimension gilt es zu bedenken: Die Idee der nationalen Versöhnung entspringt einer Gesellschaft, in welcher das Prinzip der Verantwortung vom Prinzip des Karmas überlagert wird: Niemand kann über einen anderen richten, denn für jeden vollzieht sich nur ein Schicksal, das durch sein früheres Leben vorbestimmt ist; alles Leid im jetzigen Leben kündet nur von einem besseren nächsten Leben. Diese Überzeugung produziert ein Gefühl der Ohnmacht und eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des anderen. Es wundert daher nicht, daß die Forderung nach Gerechtigkeit vor allem von gebildeten Kambodschanern ausgeht, die in der Diaspora (in Europa bzw. Amerika) leben.
Über diese kulturellen Erklärungen hinaus herrscht in Kambodscha ein eingefleischter Pragmatismus, der moralische Prinzipien kaum kennt. Der Premierminister ist nicht der einzige Kambodschaner, der sich fragt, was das Land durch einen Prozeß gewinnen kann. Cham Prasidh, der Handelsminister, behauptet unumwunden: „Wer ein internationales Tribunal will, will keinen Frieden.“8 Dem wird auch von einer kambodschanischen Juristin, die für eine UNO-Agentur arbeitet und deren Vater im Folterzentrum Tuol Sleng umgekommen ist, nicht widersprochen, wenn sie betont: „Für uns hat der Frieden höchste Priorität. Wenn es möglich ist, zugleich auch Gerechtigkeit zu erlangen, um so besser. Aber wir dürfen den Frieden um keinen Preis gefährden.“
Als der Premierminister am 30. November 1998 seine neue Regierungsmannschaft vorstellte, betonte er die „technischen und ökonomischen“ Prioritäten. In dieser Logik ist alles, was ein negatives Image vermittelt, sinnlos und gefährlich. Eine Verhaftung der historischen Führer ist riskant: sie erzeugt Unruhe, rührt die durch extreme Gewalt gezeichnete Vergangenheit wieder auf und bringt Kambodscha wieder als das Land der Roten Khmer in Erinnerung. All dies ist dem Image eines stabilen, friedlichen Staates abträglich, der sich Investoren und Touristen öffnen will. In einem Land, dessen Ernährungsniveau laut Berichten der Welternährungsorganisation (FAO) dem von nordkoreanischen Bauern vergleichbar ist, weiß Hun Sen, wofür sich die Menschen entscheiden, wenn sie zwischen der Verbesserung ihres Lebensstandards und einem internationalen Tribunal wählen sollen. Kambodscha, so argumentiert der Premierminister, steht vor der Alternative: Frieden oder Gerechtigkeit. Doch diese Alternative ist die direkte Folge der Art und Weise, wie man mit dem Zerfall der Rote-Khmer-Bewegung seit 1994 umgegangen ist. Der Tauschhandel „Überlaufen gegen Straflosigkeit“ hat das Abhängigkeitsverhältnis der Rote-Khmer-Soldaten gegenüber ihren – ebenfalls übergelaufenen – Chefs nicht beendet. Die Guerilla ist nicht entwaffnet worden, sondern hat lediglich die Uniform gewechselt.
Khieu Samphan und Nuon Chea haben erklärt, daß es die Roten Khmer nicht mehr gibt.9 Angesichts der Situation im westlichen Teil Kambodschas, rund um die Edelsteinhochburg Pailin, wirken diese Äußerungen wie Nebelwerfer. In dieser Region befinden sich die bedeutendsten noch lebenden Führer des Demokratischen Kampuchea (mit Ausnahme von Thiounn Prasith, der die Gastfreundschaft der USA genießt, und Ta Mok, der Anfang März an der Grenze zu Thailand verhaftet worden ist). Sie werden von 12000 Soldaten beschützt, und die Kommandeure sind ehemalige Rote Khmer, die offiziell zur Regierung übergelaufen sind. Was wird geschehen, wenn die Führer, wie sie gerade angedeutet haben, sich erneut aus „gewöhnlichen Bürgern“ in politische Aktivisten verwandeln?
Die Region Pailin ist heute nichts anderes als eine „legalisierte“ Rote-Khmer- Zone, über die Phnom Penh keinerlei Gewalt ausübt. Jeder Versuch der Regierung, dort Personen zu verhaften, die vor ein internationales Tribunal gestellt gehören, würde ernsthafte Unruhen auslösen. Aber noch größer ist die Gefahr eines Wiederaufkeimens der Rote-Khmer-Bewegung selbst. In den Wahlveranstaltungen von 1998 standen mehrere der traditionellen Themen des Roten Khmer – etwa Rassismus und Ultranationalismus – im Mittelpunkt. Indem Hun Sen die Schaffung eines internationalen Tribunals zu umgehen versucht, verhindert er die notwendige gesellschaftliche Aufklärung über Schuld und Verantwortung und sorgt dafür, daß das Ende der weitgehenden Straffreiheit weiter hinausgezögert wird. Damit verhindert er aber, daß die Gefahr einer Rückkehr der Roten Khmer endgültig gebannt wird.
dt. Sigrid Vagt
* Politischer Berichterstatter in Phnom Penh.