Europäische Demokratie in den Kinderschuhen
DER Rücktritt der Europäischen Kommission in der Nacht vom 15. auf den 16. März hat die funktionalen Schwächen der europäischen Institutionen deutlich gemacht. Aber das allerorten beschworene „Demokratiedefizit“ erklärt sich weniger aus der mangelnden Kontrolle durch das Europäische Parlament als aus der tiefen Kluft zwischen den Bürgern der Mitgliedstaaten und den europäischen Institutionen bzw. der Europäischen Zentralbank. Zu bekämpfen ist dieses Defizit nur durch eine stärkere Einbeziehung der ntionaen Parlamente.
Von BERNARD CASSEN
Schlichte Fragen führen zu ebenso schlichten Antworten: Demnach wäre der Rücktritt der EU-Kommission am 16. März 1999 nichts anderes als ein Sieg des Europäischen Parlaments, das die Demokratie der Gemeinschaft gegen eine Brüsseler Exekutive rettet, die von fünf unabhängigen Experten der Günstlingswirtschaft, des Mißmanagements, Betrugs und fehlender politischer Kontrolle überführt wurde.1 So hat denn auch Alain Duhamel, der in Frankreichs Medien omnipräsente Meinungsjournalist, den Urprung der Krise flugs ausgemacht: „Die schallendste Ohrfeige, die dieser europäischen Vorzeigeinstitution in vierzig Jahren verpaßt wurde, verweist zugleich auf einen französischen Fehler, eine französische Verantwortung, einen Mißerfolg französischer Prägung.“ Frankreich sei daher „unmittelbarer für das Demokratiedefizit in Europa verantwortlich als seine vierzehn Partner“2 .
Zusammengefaßt lautet diese auch von anderen Kommentatoren aufgegriffene Analyse wie folgt: Das „europäische Defizit“ bestehe darin, daß das Parlament in Straßburg über zuwenig politische Macht verfüge oder von seiner Macht zuwenig Gebrauch mache; wenn dieses Defizit sich weiter vertieft hat, sei dies grundsätzlich den französischen Politikern anzulasten, die aufgrund der monarchistischen Kultur der Fünften Republik allergisch auf eine Volksvertretung reagieren, die von allen Völkern Europas gemeinsam gewählt würde. Worauf unser Meinungsführer nicht weiter eingeht, was er aber schon bei vielen anderen Gelegenheiten bedauert hat, ist folgende Tatsache: Ein gewichtiger Teil der französischen Öffentlichkeit ist zwar der europäischen Einigung ebenso so positiv gesonnen wie die ausgewiesenen Europa-Enthusiasten, hat sich aber weder mit den auf die wirtschaftliche Dimension reduzierten Zielen dieses Europas abgefunden noch mit den undemokratischen Strukturen der Gemeinschaft. Hinter der Kritik an Frankreich im allgemeinen erscheint zwischen den Zeilen die Kritik an jenen Franzosen, die ein anderes Europa nicht nur für wünschenswert, sondern auch für möglich halten.3
Geht man auf keine dieser Fragen ein, erscheint die Lösung des Problems denkbar einfach: Sie steht im Grunde schon im Vertrag von Amsterdam, der die Rechte des Parlaments ausweitet.4 Wenn die Europaabgeordneten, die am 13. Juni gewählt werden, die nötige Beharrlichkeit und Wachsamkeit an den Tag legen und wenn man rasch eine erneuerte, kompetente und integere Kommission installiert, ist die Affäre aus der Welt, und der Aufbau des „Hauses Europa“ kann weitergehen. Diese Argumentation wäre ebenso überzeugend wie die Erklärung des Golfkriegs aus der Sorge der USA um die territoriale Integrität Kuwaits oder die der weltweiten Finanzkrise aus der Tatsache, daß die asiatischen Politiker korrupt sind. Deshalb müssen wir zunächst die jüngsten Brüsseler Ereignisse relativieren und in einen Gesamtzusammenhang einordnen.
Die Vorkommnisse, die der Kommission durch das Komitee der „Weisen“ angelastet werden, mögen höchst bedauerlich sein, aber die globale Kritik an der Kommission rührt keineswegs von einem weitverbreiteten Wunsch der Europäer nach einer Aktion „saubere Hände“. Das internationale Medienecho erklärt sich vor allem durch den Bekanntheitsgrad der „ertappten“ Persönlichkeiten. So sehen etwa die europhilen französischen Medien, die sich so sehr über Edith Cresson entrüsten, eigenartigerweise über die Tatsache hinweg, daß über die Hälfte der im Bericht der „Weisen“ aufgeführten Affären aus der Zeit stammen, in der Jacques Delors „Chef“ in Brüssel war. Aber es ist eben unbequem, sich kurz vor den Europawahlen an solche Details zu erinnern, wenn mehrere Spitzenkandidaten, die von besagten Medien unterstützt werden, sich auf die „europäische Vision“ des ehemaligen Kommissionspräsidenten berufen.
In Gang gesetzt durch die belgische Presse, insbesondere die Tageszeitungen La Meuse und Le Soir, entwickelte sich das Thema schnell zu einer Kraftprobe zwischen den EU-Institutionen – dem Parlament und der Kommission, die beide gleich weit von den Realitäten der Mitgliedsländer entfernt sind (sieht man von Belgien als dem Schauplatz der Auseinandersetzungen ab). Die Bürger Europas fühlten sich von diesem Konflikt nicht direkt betroffen, sie haben das Ganze von außen betrachtet: Da standen sich zwei supranationale Institutionen gegenüber, die beide gewillt sind, sich gegenüber den einzelnen Nationalstaaten zu behaupten – insbesondere gegenüber dem Rat als dem Vertreter der Regierungen.
Innerhalb der komplexen Funktionszusammenhänge der Union gibt es ein Kompetenzgewirr, das für die Bürger nicht zu durchschauen ist. Es geht auf folgende historischen Ursachen zurück: Die „Gründungsväter“ haben 1957 nicht versucht, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) nach einem Staatsmodell aufzubauen, vielmehr wollten sie die europäische Integration durch eine schrittweise Einschränkung der nationalen Souveränität voranbringen. Deshalb schufen sie kein vertikales System mit einer dem Parlament verantwortlichen Regierung, sprich einen Föderativstaat, sondern ein horizontales System, was bedeutet, daß im Rahmen eines „institutionellen Dreiecks“ alle beteiligten Organe (Kommission, Parlament und Rat) bei der Verabschiedung ein und derselben Gesetze zusammenwirken. Die Mitglieder der Kommission werden von den Staaten ernannt, sollen aber anschließend europäisch denken und handeln. Die Kommission hat das Monopol für die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen, Regelungen und Direktiven. Der Ministerrat, der sich aus den jeweiligen Fachministern zusammensetzt, entscheidet auf der Grundlage dieser Vorschläge.5 Er ist also die eigentliche Legislative.
Ein dramatisierter Rücktritt
ABER die Gesetzgebungskompetenz teilt sich der Rat mit dem Parlament, das mit jedem der europäischen Verträge (Einheitliche Europäische Akte, Maastricht, Amsterdam) seine Kompetenzen erweitert hat: von der beratenden Funktion zur Mitwirkung und schließlich zur Mitentscheidung in immer ausgedehnteren Bereichen. Die Abgeordneten des Parlaments sind also, selbst wenn sie weder ein Vorschlagsrecht noch das letzte Wort bei der Entscheidungsfindung haben, keine zu vernachlässigende Größe mehr und auch zunehmend entschlossen, sich Gehör zu verschaffen. Ihre Willensäußerungen richten sich an die Kommission, aber stärker noch an die Regierungen der Mitgliedstaaten, deren Einfluß auf die Gesetzgebung sie beschneiden wollen.6
Anders als es die dramatischen Kommentare darstellen, haben die EU-Parlamentarier überhaupt nichts riskiert und keineswegs ein Erdbeben ausgelöst, als sie den zwanzig Kommissaren ein Mißtrauensvotum androhten, das breite Zustimmung gefunden hätte, und damit die Kommission zum Rücktritt zwangen. Sobald Romano Prodi vom Parlament bestätigt ist, wird eine andere Kommission ernannt, die lediglich darauf achten wird, weniger arrogant aufzutreten und sich weiterhin mit dem Parlament zu einigen, um mittelfristig das gemeinsame Ziel zu erreichen: das Brüsseler Kollektivorgan als alleinige Regierung zu etablieren und das Parlament als alleinigen Gesetzgeber der Union. Eine solche Föderation würde die nationalen Parlamente und Regierungen auf einen untergeordneten Status herabstufen. Denn nach dem Subsidiaritätsprinzip, dessen Definition und Anwendung übrigens problematisch sind, wären sie nur noch dazu da, die als „regional“ definierten Aufgaben wahrzunehmen.
Dieses Fernziel stellt die Frage nach dem berühmten „Demokratiedefizit“ auf neue Weise. Oberflächlich gesehen ist das Parlament, das aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen ist, unvergleichlich demokratischer als die Kommission. Aber da seine Mitglieder auf nationaler Ebene und aufgrund einer nationalen Agenda gewählt werden, ist es auf europäischer Ebene weniger demokratisch als jedes einzelne nationale Parlament und jede nationale Regierung, die ihrer jeweiligen Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig sind. Aber kann man überhaupt, da es kein „europäisches Volk“ mit gemeinsamer Identität von den Kanarischen Inseln bis Estland gibt, von einem wahrhaft europäischen Parlament sprechen? Bedeutet dies für das institutionelle Gefüge Parlament- Kommission nicht die Gefahr, sich der Bevölkerung der Mitgliedstaaten noch weiter zu entfremden? Die überzeugten Föderalisten beantworten diese Frage mit einer Flucht nach vorn: Schaffen wir zunächst die neuen supranationalen Strukturen, die werden das supranationale (oder postnationale) Volk dann schon automatisch hervorbringen – wie die Gnade, wenn man nur lange genug betet.
Diese Position ist zwar nicht realistisch – zumindest für die nahe Zukunft –, wirkt aber auf dem Papier zumindest stimmig. François Bayrou hat es kürzlich so formuliert: „Jedes Mal, wenn die Staaten akzeptieren, daß ein Problem in die Zuständigkeit einer unabhängigen europäischen Institution fällt, ist das ein Stück Föderalismus. Zur Zeit ist dieser Föderalismus klandestin, und es gibt keine Demokratie.“7 Offenbar hatte der zentristische Politiker mit diesem Satz aber keineswegs jene reine Karikatur des undemokratischen Föderalismus vor Augen, wie sie die Europäische Zentralbank (EZB) verkörpert. Diese Institution schuldet nichts und niemandem Rechenschaft, ist mit beachtlichen Kompetenzen ausgestattet, sie duldet, wie Oskar Lafontaine feststellen mußte, keinerlei kritische Anmerkungen, nimmt sich aber zugleich heraus, den nationalen Regierungen gute Ratschläge zu erteilen. Die Märzausgabe ihres Monatsberichts ist dafür ein gutes Beispiel: Darin kritisiert die EZB die Steuerpolitik einzelner Staaten und fordert strukturelle „Reformen“ des Arbeitsmarktes, äußert sich also zu zwei Bereichen, für die sie laut Statut gar nicht zuständig ist.
Vergeblich wartet man seither darauf, daß die Politiker, die sich offen zum Föderalismus bekennen oder sich hinter dem hohlen Konzept des „Staatenbundes“ verschanzen, diese grobe Einmischung in den Bereich der Politik verurteilen. Dabei bräuchten sie sich nicht zu scheuen, die Frankfurter Institution offen beim Namen zu nennen. Die Financial Times, ein über jeden Zweifel erhabenes Sprachrohr des Liberalismus, hat bereits angemahnt, die EZB solle sich „auf die Geldpolitik konzentrieren und die Politik den Abgeordneten und der Öffentlichkeit überlassen“8 .
Wenn die Anhänger einer EU-Föderation davon ausgehen, es gebe bereits ein „europäisches Volk“ – obwohl die dringendste Aufgabe gerade darin besteht, dieses Volk erst entstehen zu lassen –, so heißt das nicht, daß der Europäische Rat als die Institution, die als Gegengewicht zu Kommission und Parlament konstruiert ist, insofern es die nationalen Interessen und die Verschiedenartigkeit der Völker ausdrückt, deshalb schon ein Hort demokratischer Tugenden ist. Jede Regierung ist ihrem Parlament verantwortlich. Wenn sich aber fünfzehn Minister versammeln und etwas entscheiden, sind sie als Kollektiv niemandem Rechenschaft schuldig.
Um die Lücke in der demokratischen Legitimationskette zwischen den Bürgern Europas und denen, die in ihrem Namen entscheiden, zu schließen, gibt es keine andere Lösung, als die nationalen Parlamente wieder enger in die Entscheidungen einzubinden. Zum Beispiel indem man den Rat von einer interparlamentarischen Einrichtung kontrollieren läßt, die der seit 1989 bestehenden Konferenz der Europaausschüsse (Cosac) nachempfunden ist, ganz so wie die Kommission von den Europaabgeordneten kontrolliert wird.
Wie so oft verweisen die institutionellen Konflikte auf grundlegende Meinungsverschiedenheiten. In der EU verweisen sie aber auch auf die Eigenart des europäischen Projektes. Was die politischen Inhalte betrifft, so könnten Vereinigte Staaten von Europa ebenso fortschrittlich sein wie eine Gemeinschaft der Nationalstaaten.9 Doch würden sie, da es keinen verfaßten öffentlichen europäischen Raum gibt, nicht als legitim wahrgenommen. Die Mentalitäten der Menschen entwickeln sich nicht nach Maßgabe der Juristen – es gilt, sie durch Erziehung und Begegnungen zu entwickeln, damit eine „Schicht“ europäischen Bewußtseins entsteht, die zu dem Nationalbewußtsein hinzukommt, ohne es zu ersetzen. Und parallel zu einer Europäisierung in den Köpfen und Mentalitäten der Bürger könnten dann auch die supranationalen Strukturen wachsen.
In der aktuellen Konstellation ist diese Supranationalität nicht nur der Europäisierung vorausgeeilt, sie ist vor allem auch ohne demokratische Einbettung geblieben. Davon zeugt die unkontrollierte Macht der Kommission in Fragen des Wettbewerbs und die der Zentralbank auf dem Gebiet der Geldpolitik. Hier besteht ein dringlicher demokratischer Nachholbedarf. Man müßte also zum einen die Einflußmöglichkeiten des Europäischen Parlaments vergrößern, das bei Gesetzen und Verordnungen das gleiche Initiativrecht erhalten müßte wie die Kommission. Und zum anderen wäre es notwendig, daß sich die nationalen Parlamente endlich auf europäischer Ebene zurückmelden. Sie müßten vorab – und nicht erst im letzten Moment – die gemeinschaftlichen Rechtshandlungen kontrollieren können, die die Minister unterzeichnen wollen. Außerdem müßten sie in einem organisatorischen Modell nach Art der Cosac Rechenschaft vom Rat verlangen können, so, wie es das Parlament der Kommission gegenüber tut.
Weder Regierungen noch Strukturen, die der demokratischen Kontrolle entzogen sind – wie die Kommission, der Europäische Gerichtshof und die Zentralbank –, können zum Träger eines europäischen zivilisatorischen Projekts werden. Diese Rolle müssen die gewählten Abgeordneten übernehmen, in Ausübung des Wählerwillens. Aus diesem Blickwinkel ist der Rücktritt der Kommission kaum mehr als ein winziges Ereignis. Aber es hatte immerhin den Vorteil, die europäischen Institutionen für die Bürger etwas durchschaubarer gemacht zu haben.
dt. Daniela Weingärtner