16.04.1999

Eine Stadt am seidenen Faden

zurück

Eine Stadt am seidenen Faden

WENN gesellschaftliche Gewalt immer mehr Menschen ausgrenzt, gewinnt das Problem der Straftaten, gerade in den besonders betroffenen Wohngebieten, eine bedrohlich konkrete Gestalt. Aber es kann gelingen, die Spannungen abzubauen – durch geeignete kommunale Maßnahmen, durch entschlossene Initiativen und die Bereitschaft zum Dialog. In der französischen Stadt Trappes ist die Arbeitslosenquote hoch, viele Einwohner leben von der Sozialhilfe. In den Medien wird die Stadt oft als hoffnungsloser Fall darestellt – doch in dieser Stadt tut sich was. Seit Anfang der neunziger Jahre bieten Theatergruppen, Sportvereine und andere Institutionen die Möglichkeit, der Sinnlosigkeit eines gleichförmigen Alltags und der allgegenwärtigen Gewalt zu entfliehen.

Von NICOLAS TRUONG *

Die 31000 Einwohner zählende Gemeinde Trappes, rund dreißig Kilometer von Paris entfernt an der Nationalstraße 10 gelegen, gehört mit sechs anderen Kommunen zu Saint-Quentin-en-Yvelines, einer – durchaus prosperierenden und dynamischen – Trabantensiedlung jener Art, wie sie im Zuge der Stadtentwicklung Ende der siebziger Jahre aus dem Boden gestampft wurden. Fußgängerzonen und Einkaufszentren, Schnellstraßen, die die Verwaltungskomplexe und ständig im Umbruch befindliche Industriegebiete miteinander verbinden, begrünte Einfamilienhaussiedlungen, die über zahllose Kreisverkehrsanlagen angeschlossen sind – in diesem einförmigen, verkehrsdurchlässigen Ensemble erscheint die Gemeinde Trappes wie ein Fremdkörper. Als schwarzer Fleck, als Abszeß, wie manche meinen, die in der „roten“ Stadt einen einzigen großen Gefahrenherd sehen, ein häßliches Elendsquartier, ähnlich wie Mantes-la-Jolie oder Les Mureaux, eine klaffende Wunde in der beschaulichen, üppigen Landschaft der stillen Gegend von Yvelines.

„Trappes, die Stadt, in der sich was bewegt“, unter diesem Motto stellten sich die Stadtoberen 1992 auf einem Plakat der Öffentlichkeit vor. „Trappes, die Stadt, die tötet“, schrieben einige Sprüher sogleich auf die Wände des Kommissariats, als wollten sie das labile Gleichgewicht in dieser von Extremen geprägten Stadt wiederherstellen.

Auf den ersten Blick schon erscheinen die Nationalstraße 10 und die Bahntrasse durch die alte Eisenbahnerstadt als Grenzlinie im sozialen Raum. „Um sich davon zu überzeugen“, schreiben Marie-Pierre Grandin-Degois, Jacques Pain und Claude Le Goff, „braucht man nur einmal über die beiden Wochenmärkte der Stadt zu laufen, der eine westlich, der andere östlich der Nationalstraße gelegen. Auf der einen Seite Gewürze, Minze, Koriander, Laméstoffe, Couscous-Töpfe aus rostfreiem Stahl; auf der anderen Wurstwaren, Pferdefleisch, Bratpfannen.“1 Im Osten 75 Prozent der Geschäfte und ein Großteil der Verwaltungsgebäude; im Westen 75 Prozent der Bevölkerung und die Sozialwohnungsblöcke der Siedlung „Le Merisier“, in der sich sämtliche Probleme der Gemeinde konzentrieren.

Aus der Sicht der Bewohner von Trappes gibt es ein ganz anderes Problem, das heftig diskutiert wird, eine Wunde, die immer wieder aufbricht. Es geht um einen Zwischenfall, der sich am 27. Januar auf dem Fernsehschirm ereignete, um eine Reportage des Senders TF1, eine von vielen. In den Augen von Khadija Aram offenbar eine zuviel: „Die haben uns verkauft. Alle Mütter saßen mit ihren Kids vor dem Fernseher, und dort haben sie es so dargestellt, als ob in dieser Siedlung jeden Tag die Polizeiwache angegriffen würde und die Jugendlichen dauernd mit ihren Pitbulls im Keller sitzen und mit Revolvern rumspielen.“ Nach Ansicht der aus Marokko stammenden Mutter von sechs Kindern, die seit 22 Jahren in Le Merisier wohnt, können sich die Reporter von TF1 beglückwünschen, ganze Arbeit geleistet zu haben: „Vor allem diejenigen Jugendlichen, die immer noch eins draufsetzen wollen, werden jetzt sagen, daß sie noch viel gefährlicher sein können als der, den sie mit seiner Waffe gezeigt haben“, bedauert Khadija.

Kleine Rücksichtslosigkeiten

DER kommunistische Bürgermeister der Gemeinde, Jacques Monquaut, hat sich schließlich ein Video mit dem Sendebeitrag beschaffen können, der in aller Munde ist und zu manchem Gerücht Anlaß gibt. Auf einen Hinweis hatte er sich die im Januar in den 13-Uhr-Nachrichten ausgestrahlte Reportage angesehen und daraufhin ein Protestschreiben an den Präsidenten des Conseil supérieure de l'audiovisuel, Hervé Bourges, gerichtet: „Diese Bilder sind eine schamlose Verhöhnung des Engagements von Menschen, die sich im Sozialwesen, in den Initiativen und in der Wirtschaft um ein besseres Image ihrer Stadt bemühen, mit der sie sich sehr verbunden fühlen.“

Es handelt sich nicht nur um einen Streit um das richtige Image. Wie viele andere entrüstete Einwohner will Jacques Monquaut die Schwierigkeiten in seiner Stadt gar nicht herunterspielen. Aber es gehe nicht an, daß man die Zuschauer bewußt irreführt, beispielsweise mit dieser Szene, die seltsamerweise ohne Kommentar ausgestrahlt wurde: Vor dem Kommissariat redet eine Mann auf ein Dutzend Polizisten ein und wird schließlich in Gewahrsam genommen. Erkundigungen bei der Polizeidienststelle und einigen Anwohnern ergaben, daß es sich um einen stadtbekannten Säufer handelte, der den Rest des Tages nicht im Gefängnis, sondern im benachbarten Krankenhaus verbrachte.

Es geht um die irreführende Manier, in der versucht wurde, Trappes als „Stadt des Verbrechens“ zu inszenieren, obgleich die einzigen interviewten Personen zwei Hausmeister waren, die in ihren Aussagen unterschiedliche Auffassungen vertraten. Der eine meinte, „für eine Stadt, die als heißes Pflaster gilt, ist es hier gar nicht so schlimm“; der andere fühlte sich verunsichert, weil er die Situation nicht mehr im Griff habe. „Die Wirklichkeit, die wahre Wirklichkeit sieht so aus“, fügt Jacques Monquaut hinzu, „daß wir hier nicht eine besonders hohe Kriminalitätsrate haben – 1998 hat es nur zwei Vergewaltigungen und zwei bewaffnete Raubüberfälle gegeben –, sondern daß das Unsicherheitsgefühl wächst, weil es – und das ist keine Erfindung der Medien – zu immer mehr kleinen Rücksichtslosigkeiten und Übergriffen kommt.“

Die Wirklichkeit also, die andere Wirklichkeit. Wie anders sollte man sie beschreiben, als indem man den Einwohnern und engagierten Bürgern zuhört. Nicht jedoch so, wie die meisten Medien es tun, etwa die Tageszeitung Le Parisien mit ihrer Hitliste der „84 verbotenen Siedlungen“ der Ile-de-France, in der Trappes auf einem der vorderen Plätze rangiert, von den falschen Angaben in der Berichterstattung ganz zu schweigen.2 Ebenso zu vermeiden ist jedoch das andere Extrem, die Sichtweise mancher Angehöriger der Elite, die, vom schlechten Gewissen ihrer Klassenzugehörigkeit geplagt, über einen Widerspruch stolpern, den weiland schon Adorno herausgestellt hat: „Die Glorifizierung der prächtigen underdogs läuft auf die des prächtigen Systems heraus, das sie dazu macht.“3

Da ist zunächst die harte Realität der Fakten: 2450 Arbeitslose, 700 Familien, die die Wiedereingliederungshilfe RMI beziehen, ein hoher Sozialwohnungsanteil, 5 Prozent Angestellte, 38 Prozent Arbeiter, eine Immigrantenbevölkerung aus achtzig Ethnien, die sämtliche sozialen Schwächen auf sich vereinigt, etwa im Bildungsbereich (nach der Volkszählung von 1990 haben nur 13 Prozent der „Trappisten“ das Abitur). Die Krise der Arbeitsgesellschaft hat hier deutliche Spuren hinterlassen. Die Arbeitsplätze, die in den Unternehmen der Automobilindustrie (wie Fiat, Renault und Simca-Talbot) einst zur Verfügung standen, sind rar geworden, und auch bei der Eisenbahngesellschaft SNCF, vormals wirtschaftlicher Hauptpfeiler der Stadt, werden weiter Stellen abgebaut oder nicht neu besetzt. Der langsame wirtschaftliche Verfall prägt nicht nur die Gesellschaft als Ganzes, sondern auch die kleinen, territorial organisierten Banden zugehörigen Jugendlichen, die auf den öffentlichen Plätzen herumhängen und auf dem Bürgersteig um so mehr Platz für sich beanspruchen, je weniger sie ihn in der Arbeitswelt finden.

Nach und nach greift die Krise auf das Familienleben über. Viele Väter entziehen sich ihrer Verantwortung, weil man ihnen ihre ökonomische Verantwortlichkeit für die Familie entzogen hat, so daß die Frauen, zumal die Frauen ausländischer Herkunft, allein zurechtkommen müssen. „Aus diesen Gründen möchte ich eine Frauen-Initiative gründen; Femmes d'ailleurs [Frauen von anderswo] soll sie heißen – damit sich die Frauen gegenüber der tatsächlichen oder möglichen Kriminalität ihrer Kinder nicht mehr passiv verhalten“, erklärt Khadija Aram, die von ihren Kindern „die Sozialarbeiterin“ genannt wird. Khadija, deren Wohnzimmer stets offensteht für Freunde und Mitmenschen, die sich mit ihrer Steuererklärung oder einem Lehrerbrief nicht zu helfen wissen, fürchtet die Ghettoisierung ihres Stadtviertels und die untergründige Gewalt, die sich in die sozialen Beziehungen langsam einschleicht: „Körperliche Gewalt ist die Ausnahme“, meint sie, „aber daß man ständig beschimpft wird, sogar von kleinen Kindern, oder diese Hunde, die wie Waffen mitgeführt werden, das zerstört das menschliche Miteinander in der Siedlung. Und außerdem die Wohnungspolitik, die dazu führt, daß in manchen Blöcken nur Marokkaner, nur Kabylen oder nur ,Afrikaner' wohnen, ganz zu schweigen von den Brigaden der Bärtigen, die in ihren Koranschulen die verirrten Schäfchen sammeln.“

Die Angst, daß aus dem Viertel endgültig ein ethnisches und soziales Ghetto werden könnte, teilen alle Verantwortlichen der Stadt. Cayol, Direktor der Realschule Collège Juri Gagarin, wo sich die Probleme häufen, macht sich keine Illusionen und fordert eine Neufestlegung des Einzugsbereichs seiner Schule. „Wir brauchen ein Gesetz, das gemischte Klassen vorschreibt“, meint Jean Jourdan. Der ehemalige Sportlehrer, heute Hochschullehrer und örtlicher Präsident der einflußreichen Organisation „Action culturelle“, bedauert, daß er selbst die Schaffung eines neuen Gymnasiums in einer Nachbarstadt angeregt und damit zur Verstärkung der urbanen Segregation beigetragen hat.

Daß sich das soziale Klima allgemein verschlechtert hat und die Jugendkriminalität nun auch auf die Altersgruppe der Neun- bis Zwölfjährigen übergreift, die angesichts autoritätsschwacher Väter und in allerlei Deals verstrickter großer Brüder schon in jungen Jahren jeden Halt verlieren, streitet zwar niemand ab, aber jeder versucht, die Ursache der Gewalt nach außen zu verlagern. „Die Gewalt geht auch von den Medien aus“, erklärt ein Familienvater. „Im Mittelalter gab es Schlösser, und um sie herum lebten Leibeigene. Was sich in der Umgebung des Grundherren abspielte, erfuhren die armen Leute durch irgendwelche Gerüchte und aus Heldenliedern. Heute hat sich das zumindest insofern verändert, als das Fernsehen zum Schaufenster des Lebensstils der Integrierten geworden ist. Und da wollen die Jugendlichen dazugehören, um jeden Preis.“

Gewalt gehe auch von unserer „verkehrten Welt“ aus, erklärt seinerseits der Bürgermeister. Zum Beispiel wenn sich, angesichts von 2500 Arbeitslosen im Viertel, die Stadt, zu der die Gemeinde Trappes gehört, mit 20000 potentiellen Arbeitsplätzen brüstet. Oder wenn eine Bank einem jungen Unternehmer aus Trappes einen Kredit verwehrt, weil das Geschäft, das er übernehmen will, in einer Gegend liegt, die als „Risikogebiet“ gilt. Für Dominique Charrier, Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins Médianes und Professor an der Universität von Caen, „ist es auch Gewalt, wenn einem Jugendlichen eine ABM-Stelle verwehrt wird, nur weil er aus Trappes kommt, oder wenn die regionale Presse in regelmäßigen Abständen mit Gruselgeschichten aus der Stadt aufwartet“.

Und zum Phänomen „Unsicherheit“ gehört auch die „affektive Unsicherheit“, die viele „leidende Jugendliche“ in ihrer Familie erfahren, wie Sophie Alain- Touhara, Virgine Kettle, Philippe Lacot und Mohamed R'bib, bei Médianes als Erzieher tätig, zu berichten wissen. Jugendlichen, die sich aus freien Stücken an sie wenden, weil sie Opfer von Gewalt in der eigenen Familie geworden sind, sichert die gemeinnützige Organisation Anonymität zu.

Zwei Formen der Gewalt prallen hier aufeinander, die institutionelle Gewalt und die Gewalt der Jugendlichen. Erstaunlicherweise kommt es in der Siedlung dennoch nicht zur Explosion. Obwohl in Trappes eigentlich alle Voraussetzungen vorhanden sind, um Le Merisier ebenso in Brand zu setzen wie die entsprechenden Viertel in Straßburg und Toulouse, hält die Stadt durch. Wer diese Merkwürdigkeit verstehen will, braucht nur das Objektiv zu wechseln, braucht nur die Brille der Fernsehberichterstattung abzusetzen und mit eigenen Augen etwa das urbane Schauspiel zu betrachten, wie Alain Degois, von allen „Papy“ genannt, durch Le Merisier schlendert und Mitbürger jeden Alters und jeder Herkunft grüßt.

Theatergruppen und Sportvereine

DER 38jährige, „mit ganzem Herzen Trappist“, der die Geschicke der Theatertruppe „Déclic ThéÛtre“ lenkt, erklärt: „Der geheime Dreh von Trappes ist das außergewöhnliche Netz an Vereinen und Initiativen, das Engagement von Menschen, die Dominique Charrier als ,die Missionare' bezeichnet hat. Denn um hier zu überleben, muß man was tun.“ Und es sind nicht wenige, die „was tun“.

Neben manchen einzelnen, die Pionierarbeit geleistet haben, sind da vor allem die zahllosen Vereine und Initiativen, die das soziale Leben der Stadt Trappes prägen: die Vereinigung Banlieues'Art, die mit schulischen Theatergruppen zusammenarbeitet und jedes Frühjahr ein Festival veranstaltet, des weiteren die Mission populaire, der Mouvement pour la paix, verschiedene Sportvereine sowie die sogenannten „matchs d'impro“, eine aus Kanada stammende Mischung aus Sport und Improvisationstheater. Jean Jourdan hat diese Theaterform in Trappes eingeführt, und von „Papy“ wurde sie weiterentwickelt: Zwei Theatergruppen, die aus jeweils drei Männern und drei Frauen bestehen, improvisieren über ein Thema und wetteifern um die Gunst des meist jugendlichen Publikums – eine Gelegenheit, bei der Wort und Körper sich einen Augenblick lang von allen sozialen Festlegungen befreien können.

Aus diesem Netzwerk von Initiativen sind einige Stars hervorgegangen, die in einer Stadt, in der mehr als Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist, eine wertvolle Vorbildfunktion erfüllen, was Erfolg und Treue zum eigenen Stadtteil angeht. Der Schauspieler Jamel Debbouze, der mit seinem Sketch-Programm derzeit im Pariser Theater La Cigalle zu sehen ist, wohnt noch immer in Le Merisier, und der Fußballspieler Nicolas Anelka, der die Zuschauer ebenso beeindruckt wie die gegnerische Abwehr, versäumt keine Gelegenheit, seinen Heimatort zu besuchen, sobald sein Verein Arsenal London ihm freigibt. „Ihr Erfolg – der den Erfolg anderer, weniger bekannter Trappisten nicht vergessen machen sollte – hängt eindeutig mit dieser besonderen Atmosphäre zusammen“, meint Jean Jourdan.

Und diese Atmosphäre bildete ohne jeden Zweifel eine günstige Ausgangsbasis für das außergewöhnliche kollektive und pädagogische Abenteuer, in das sich das Collège Gagarin, am Rande der Siedlung gelegen und doch in ihrem Mittelpunkt stehend, zwischen 1990 und 1996 stürzte. Die Schule, die zusammen mit den drei anderen Schulen der Stadt in einer „Zone d'éducation prioritaire“ (ZEP) liegt und daher von speziellen Fördermaßen profitiert, zählt zwölfhundert Schüler: 75 Prozent von ihnen stammen aus dem Ausland oder aus den Übersee-Departements und Übersee-Territorien, 45 Prozent erhalten vom Staat finanzielle Unterstützung, und 70 Prozent sind ein oder zwei Schuljahre im Rückstand. Eine Arbeitsgruppe unter Leitung der damaligen Direktorin Aline Peignault fand Mittel, Wege und Partner, um aus der schwierigen Situation das Beste zu machen – eine Erfahrung, die in dem bereits zitierten Buch „Banlieue, les défis d'un collège citoyen“4 geschildert wird.

Und dabei konnte die Ausgangssituation gar nicht schlechter sein. Die beginnenden neunziger Jahre waren eine Zeit der Gewalt, international mit dem Golfkrieg, national mit den Krawallen von Vaulx-en-Velin, lokal schließlich mit den Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen von Trappes und den Jugendlichen aus der benachbarten Stadt La Verrière. In den Jahren 1990/91 „steuerte das Viertel auf eine Situation der Gesetzlosigkeit zu“, erinnern sich die Verfasser von „Banlieue“ in ihrem zugleich detailgenauen und konfusen, argumentativen, witzigen und lyrischen Bericht. Beschimpfungen, Erpressungen und Gewalttätigkeiten gegen Lehrer und Betreuer waren an der Tagesordnung; der Gebrauch des Arabischen im Unterricht und einige Graffiti zeugten von der Unterstützung des Irak, es gab Drohgebärden und begründetes Mißtrauen.

Nach und nach stellte der Direktor eine Pilotgruppe zusammen, der es gelang, das Ruder herumzuwerfen, die Schule zum Dialog zu führen und das Gewaltpotential durch geeignete Maßnahmen abzubauen: „Schweigetage“, „nützlich verbrachte Ferien“, Training staatsbürgerlicher Verhaltensweisen nicht nur im Staatskunde-Unterricht, Problemlösung durch Einbeziehung des Kollegiums, Partnerschaften mit den Eltern und wichtigen Personen der Siedlung.

Dennoch kommt es in der Schule 1994 erneut zu Krawallen, als eine Krankenschwester „mit guten Gründen, aber auf ungeschickte Weise“ entlassen wird. Der Zwischenfall hinterläßt Spuren, ein Teil der Pilotgruppe fordert die Gründung eines neuen Collège. Vergebens. Was bleibt, ist eine einzigartige, ja avantgardistische Erfahrung, die gewiß nicht als Modell, vielleicht aber als wertvolles Beispiel dienen kann und jedenfalls eine Art eigener Schulkultur hervorgebracht hat.

Bisweilen stellen sich Müdigkeit und Verdruß ein. „Obwohl wir immer mehr tun, verschlechtert sich die Situation zusehends“, meint Dominique Charrier: „Aber wo wären wir jetzt ohne dieses Experiment?“ Die Schüler haben ein Chanson von Michel Polnareff parodiert, berichtet Sophia Aram, Studentin und am Collège Gagarin als Betreuerin tätig: „,Wir gehen alle nach Bois-d'Arcy'5 . Das bringt die ganze Hoffnungslosigkeit und Ironie der Situation zum Ausdruck.“

Und dennoch bleibt Trappes die Stadt, die durchhält, die nicht aufgibt, auch wenn alles am seidenen Faden hängt. Vor allem aber besteht diese Stadt darauf, daß sie anders ist als das Bild, das ihr gewisse Journalisten ständig vorhalten.

dt. Bodo Schulze

* Journalist

Fußnoten: 1 Jacques Pain, Marie-Pierre Grandin-Degois und Claude Le Goff, „Banlieue, les défis d'un collège citoyen“, Paris (ESF editeur) 1999. 2 Le Parisien, 17. Februar 1999. 3 Theodor Adorno, „Minima Moralia“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983. 4 Siehe oben, Anmerkung 1. 5 Gemeint ist das dortige Gefängnis.

Le Monde diplomatique vom 16.04.1999, von NICOLAS TRUONG