16.04.1999

Der interessierte Blick der Wall Street

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Der interessierte Blick der Wall Street

NACH Angaben der Weltbank sind 1,5 bis 2 Milliarden Bewohner dieser Erde äußerst arm (weniger als ein Dollar pro Tag und pro Person, kein Trinkwasser, kein Zugang zu ärztlicher Versorgung und Schulbildung). Das Pro-Kopf-Einkommen liegt heute niedriger als noch vor fünfzehn Jahren. Das bedeutet: Annähernd 1,6 Milliarden Menschen geht es schlechter als zu Beginn der neunziger Jahre. Die Armut wächst überall: in den Entwicklungsländern, die nicht zu den aufstrebenden Schwellenländern gehören, aber auch in den reichen Ländern. Auch die Armut wird zunehmend global.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion steht die öffentliche Entwicklungshilfe nicht mehr hoch im Kurs. Tatsächlich wird sie seit zehn Jahren in zunehmendem Maße durch private Finanzmittel ersetzt. Diese haben sich seit 1990 versiebenfacht; 1997 stiegen sie bereits auf mehr als 250 Milliarden Dollar und machen heute 85 Prozent der langfristigen Finanzmittel der Entwicklungsländer aus.

Hinter diesen Zahlen verbergen sich jedoch bedeutende Unterschiede: Der Zufluß internationaler privater Gelder konzentriert sich auf etwa zehn Schwellenländer, die anderen bleiben vollkommen abhängig von öffentlicher Hilfe. Beim Umweltgipfel in Rio im Jahr 1992 hatten die reichen Länder abermals ihre Absicht bekräftigt, 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP), das heißt 140 Milliarden Dollar, für Entwicklungshilfe aufzuwenden. Zu dem Zeitpunkt gaben sie für Entwicklungshilfe im Durchschnitt 0,45 Prozent ihres BIP aus. Heute sind es nur mehr 0,2 Prozent.

Ginge es nach dem Willen der USA, würden in Zukunft jedoch Handel und Privatkapital an die Stelle öffentlicher Hilfe treten, die als ineffizient abgetan wird (trade not aid). Die UNO, die ihre Ausgaben drosseln muß, gibt diese Botschaft verstärkt weiter – vor allem über ihre ständige Sonderorganisation, die Welthandelskonferenz Unctad (United Nations Conference on Trade and Development). Die Unctad, die unter dem Generalverdacht stand, nicht liberal genug zu sein, und deren Existenz durch die Schaffung der Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organization) bedroht war, mußte sich in der letzten Zeit umorganisieren und konzeptionell umorientieren. Jetzt steht die Privatisierung der Entwicklungshilfe auf ihrer Tagesordnung.

Auf der Unctad-Konferenz, die im November 1998 in Lyon in Anwesenheit von Ministern, Bankiers und Vertretern der „Zivilgesellschaft“ stattfand, war das Hauptthema die Verkündigung der neuen UNO-Doktrin in Sachen Entwicklungshilfe: Die öffentliche Hilfe soll in Zukunft zweitrangig werden und dem privaten Sektor den Vortritt lassen. Unctad-Generalsekretär Rubens Ricupero machte es in seiner Eröffnungsrede besonders deutlich: „Dieser Gipfel stellt einen Wendepunkt in der Geschichte der Vereinten Nationen dar. Zwar ist die offizielle Entwicklungshilfe noch immer unerläßlich, doch sie fällt relativ bescheiden aus im Vergleich zu dem, was man mit einem Bruchteil der Finanzmittel, die im privaten Sektor und in der Zivilgesellschaft verfügbar sind, erreichen könnte. Hier gibt es ein riesiges Potential, das zu lange übersehen wurde und das man in den Dienst der Entwicklung stellen müßte.“

Es ist also kein Zufall, daß sich dieses Treffen auf drei Themen konzentrierte, die nur auf den ersten Blick keinen Zusammenhang haben, in Wirklichkeit aber der gleichen ideologischen Logik folgen: die Mikrofinanz, der elektronische Handel und die privaten Auslandsinvestitionen. Hier handelt es sich um drei Aktivitäten, deren Expansion unter dem ausschließlichen Aspekt kurzfristiger Rentabilität eine totale Freiheit der Kapitalbewegungen und vor allem der Kapitalrückwanderung voraussetzt. Die finanziellen Risiken verbleiben dabei selbstverständlich bei den jeweiligen Staaten, das heißt bei den Steuerzahlern. Wie läßt sich gegenüber der Öffentlichkeit die egoistische und erbarmungslose Verfolgung privater Interessen mit dem edlen Ziel vereinbaren, die Armut in der Welt auszurotten? Hier nun kommt der Mikrokredit ins Spiel.

Schon seit einiger Zeit verkünden manche Schlagzeilen in der Presse die neuartige Versöhnung von Profit und Armut. „Wenn Arme und Bankiers sich verstehen“, lautet etwa der Titel eines Artikels1 , der in der Zwischenüberschrift begeistert meldet: „Die Armen sind solvent“. An anderer Stelle heißt es: „Die Investoren interessieren sich für den Markt der Armen.“2 Rubens Ricupero hat es von offizieller Seite auf den Punkt gebracht: „Wenn wir mit dem privaten Sektor zusammenarbeiten, beweisen wir, daß Profit und Entwicklung, Markt und Solidarität keineswegs Gegensätze sein müssen, daß sie sich vielmehr ergänzen und so das Konzept der internationalen Zusammenarbeit verändern können.“3 Franck Grozel, der stellvertretende Sekretär der Konferenz von Lyon, verstand sich zu noch deutlicheren Worten: „Der Erfolg von Institutionen, die auf Mikrokredite spezialisiert sind (...), hat gezeigt, daß schon ein Kredit von einigen Dutzend Dollar auch den Ärmsten die Chance gibt, sich ihren eigenen Arbeitsplatz und damit ein Einkommen zu schaffen; daß die Kräfte des Marktes nicht nur die New Yorker Börse beleben, sondern auch in den Vororten von Lima oder Manila zur Quelle des Wohlstands werden können; daß schließlich eine Beziehung, die auf wechselseitigen Interessen beruht, die Entwicklung weiter voranbringt als die öffentliche Hilfe.“4

Gutes tun und daran verdienen, ja, das ist möglich, und in Lyon wurde sogar dazu geraten. Die Slogans bei dieses Offensive des Lächelns sind ganz unverblümt formuliert: „Mikrofinanzierung: der neue aufstrebende Markt“, steht über einem der Kommuniqués der 10. Konferenz.5 Die Tatsache, daß einige Banken lateinamerikanischer Länder eine Rentabilität von 20 bis 25 Prozent für das in den Mikrokredit investierte Kapital angeben, was Zinssätzen in der Größenordnung von 50 Prozent entspricht und an Wucher grenzt, löste keinerlei Fragen aus. Denn nach den Worten von Michael Chu, dem Präsidenten von Accion (siehe obiger Artikel) ist es ja schlicht so: „Der teuerste Kredit ist der, zu welchem man keinen Zugang hat.“

Die Privatisierung des Entwicklungsprozesses kommt in der Tat wesentlich billiger: Die durchschnittlichen Kosten eines individuellen Kleinkredits belaufen sich auf etwa 600 Dollar. Nach Angaben der Unctad würden 100 Milliarden Dollar für Mikrokredite genügen, um 100 Millionen Kleinstunternehmer mit ihren Familien aus der größten Armut herauszuführen. Es ist schon erstaunlich: Ausgerechnet die angeblichen „Spezialisten“ in Sachen Entwicklung scheinen nicht zu wissen, daß eine große Zahl von Arbeitsplätzen in Wahrheit zehnmal höhere Investitionen benötigen. In Brasilien z.B. schätzt man, daß die Schaffung eines Arbeitsplatzes im Rahmen der aktuell laufenden Agrarreform, die mehrere Millionen Bauern betrifft, ungefähr 10000 Dollar kostet.

In Lyon hütete man sich auch wohlweislich vor der Feststellung, daß die Zahl dieser Arbeitsplätze nicht nur zwangsläufig begrenzt ist, sondern daß es sich mehrheitlich um ungesicherte Arbeitsplätze in der Schattenwirtschaft handelt, die in aller Regel bestenfalls das Überleben ermöglichen. Und Ausgaben für Gesundheit, Bildung, soziale Sicherheit und Infrastruktur anzusprechen wäre geradezu geschmacklos gewesen. Auf solche Fragen hatte Michael Chu schon im voraus die Antwort parat: „Was die Leute brauchen, ist der Zugang zum Kapital. Alles übrige – Gesundheit, soziale Absicherung, Ernährung, Bildung – wird nach und nach kommen.“6

Die Beseitigung der Armut sahen die meisten Redner als ein rein individuelles Abenteuer, bei dem die Politik keine Rolle spielt. Fragen zur Art des Staates und zur Demokratie sind hier also fehl am Platze. Keinesfalls will man, daß die Privatinitiative durch überholte Sozialgesetze oder veraltete Umverteilungsmaßnahmen gehemmt wird. In diesem Kontext ist die Solidarität unter den Kreditempfängern lediglich im Sinne der Garantie willkommen, die sie für die Banken im Falle individueller Zahlungsunfähigkeit darstellt, keinesfalls aber etwa als Beitrag zur lokalen Demokratie.

Die Einbindung der Individuen in das Bankenystem macht sie angeblich zu verantwortlichen Wesen, womit sie sich von der Armut befreien können. Die Entwicklung aller wird durch die Bereicherung jedes einzelnen gewährleistet.

Man mag daran zweifeln, daß private Gelder wirklich die öffentliche Entwicklungshilfe ablösen. Es gibt zwar tatsächlich Bankiers, die bereit sind, „ethische“ Investitionen zu tätigen und sich mit einem Profit von 6 Prozent zu begnügen. Aber sie werden wahrscheinlich eine kleine Minderheit bleiben, solange amerikanische Rentenfonds eine Rendite von 25 Prozent anstreben. Die zehnte Unctad- Konferenz hat immerhin versucht, die Mikrokredite populär zu machen, die ein wirksames Instrument unter mehreren bei der Armutsbekämpfung darstellen. Aber der Versuch, eine Konvergenz zwischen den Interessen der Armen und der Wall Street zu behaupten, war nichts als eine unsinnige und lächerliche Propagandaaktion.

J.-L. M.

dt. Dorothea Schlink-Zykan

Fußnoten: 1 Journal de Genève, 21. Dezember 1997. 2 Le Temps (Genf), 13. Juli 1998. 3 Erklärung zur Eröffnung, 9. November 1998. 4 Franck Grozel, Einladung zum Gipfeltreffen der Unctad, Genf, 17.Oktober 1998. 5 Unctad, Pressekommuniqué, 22. Oktober 1998. 6 Boston Business Journal, a. a. O.

Le Monde diplomatique vom 16.04.1999, von J.-L. M.