Wenn die Armen solvent werden
MIT Hilfe von Mikrokrediten konnten Millionen Arme den Teufelskreis der Armut durchbrechen. Die ungewöhnlich hohe Rückzahlungsquote hat dazu beigetragen, daß dieses System, das Anfang der achtziger Jahre in Bangladesch erfunden wurde, sich auf alle Kontinente ausweiten konnte. Heute soll es der Bevölkerung von Polarkreisregionen ebenso angedient werden wie den Bewohnern der Ghettos von Chicago. Absehbar war auch, daß die Privatbanken ihr Interesse an Mikrokrediten entdecken würden, nachdem sie sich unächst eher skeptisch bis feindselig verhalten hatten. Der Mikrokredit und seine punktuellen Erfolge werden nunmehr zum Alibi, das die programmatischen Entwicklungen der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (Unctad) rechtfertigen soll, die darauf hinauslaufen, die öffentlichen Finanzhilfeprogramme zugunsten eines Engagements des privaten Sektors zu kürzen.
Von JEAN-LOUP MOTCHANE *
Alles begann 1974. Muhammad Yunus, Professor für Ökonomie an der Universität von Chittagong in Bangladesch, fand heraus, daß einige Dollar mehr oder weniger über Leben und Tod entscheiden konnten.1 Indem er den sehr armen Bauern eines Dorfes in der Nähe von Jorba 27 Dollar auslieh, konnte er 42 Familien vor dem Zugriff von Wucherern retten. Ab 1976 zahlten die Armen ihre Darlehen vollständig zurück – das Konzept des Mikrokredits war geboren.
1983 gründete Muhammad Yunus eine Bank, die Kleinstkredite an die Armen in ländlichen Gebieten verlieh, die Grameen-Bank (von gram, was auf bengali „Dorf“ heißt), die heute in 37000 Orten des Landes vertreten ist. Die Kredite wurden zu 94 Prozent an Frauen vergeben – höchst ungewöhnlich für ein muslimisches Land – und beliefen sich 1995 auf umgerechnet 1 Milliarde US-Dollar. Die Durchschnittshöhe eines Darlehens liegt bei 160 Dollar, die Rückzahlungsquote bei 97 Prozent, also deutlich höher als bei den herkömmlichen Krediten. Dies erklärt sich trotz der sehr hohen Zinssätze dadurch, daß die Rentabilität des investierten Kapitals auf 300 bis 400 Prozent ansteigen kann.
Nach Schätzungen der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (Unctad) gibt es (die Familien eingerechnet) etwa 500 Millionen potentielle Interessenten an Mikrokrediten und etwa 7000 Mikrofinanzinstitutionen (MFI)2 , die 8 Millionen Menschen bedienen, wobei das Gesamtkreditvolumen 7 Milliarden US-Dollar beträgt. Alle Mikrofinanzinstitutionen begannen als gemeinnützige Vereinigungen, die sich durch Spenden oder Subventionen finanzieren. Um jedoch langfristige Aktionen zu gewährleisten, mußten sie zur Selbstfinanzierung übergehen.
Daß mit Kleinstkrediten Profite gemacht werden können, war die große Entdeckung der letzten Jahre. So sprachen der bolivianische Banco Sol und die kenianische K-Rep, zwei auf die Darlehensvergabe für die Armen spezialisierte Organisationen, „von Rentabilitätsquoten, die über denen einiger der größten und effizientesten Banken der Welt“3 lägen. Auf den Philippinen erwirtschaftete die Kaunlaran Agricultural Corporation einen Nettogewinn von 294000 US-Dollar, bei einem Kreditportefeuille von 1,6 Millionen. Nach Angaben der Unctad hat der potentielle Markt, den die 500 Millionen potentiellen Kleinstunternehmer darstellen, lediglich ein Volumen von 100 Milliarden Dollar – verglichen mit dem klassischen Kreditmarkt von rund 13000 Milliarden Dollar eine unerhebliche Summe.
Die Americans for Community Cooperation in Other Nations (Accion) hat maßgeblich dazu beigetragen, daß die Vergabe von Mikrokrediten zu einem rentablen Geschäft wurde. Der gemeinnützige Verein mit Sitz in den USA verfügte 1997 über ein Budget von 6,7 Millionen US- Dollar, das zu 70 Prozent vom Privatsektor gespeist wurde. Sein Netz erstreckt sich über dreizehn Staaten Amerikas; zu ihm gehört insbesondere auch der Banco Sol, an dessen Gründung im Jahre 1992 der Verbund maßgeblich beteiligt war. 1997 vergab Accion 480 Millionen Dollar an 310000 Kleinstunternehmer; die durchschnittliche Darlehenshöhe lag bei 650 Dollar, die Rückzahlungsquote bei 98 Prozent.4
In Europa entstanden die ersten Mikrokreditinstitutionen für Entwicklungshilfe in den neunziger Jahren. In Frankreich betreibt die Société d'Investissement et de Développement International (Sidi), mit Unterstützung der staatlichen Hinterlegungs- und Konsignationszentralkasse, seit über zehn Jahren Unterstützungsprogramme für Kleinstunternehmen in den Entwicklungsländern.5 Eine weitere französische Initiative zur Entwicklungshilfe ist die am 13. Oktober 1998 von Jacques Attali, dem ehemaligen Sonderberater François Mitterrands, gegründete PlaNet Bank. Diese Institution nutzt das Internet, um Organisationen zu unterstützen, die den Ärmsten finanzielle Hilfe leisten; sie hilft bei der Finanzierung von Mikrokreditorganisationen und bietet Informationen, Ausbildungsprogramme und Beratungsleistungen bis hin zur Evaluierung von Mikrofinanzprojekten und –institutionen (rating). Die PlaNet Bank will vor allem in Afrika tätig werden.
Die Internationale Bank von Luxemburg (BIL) hat den Aufbau eines Investitionsfonds von 10 Millionen Dollar angekündigt, „der bei den Reichen Darlehen aufnimmt, um das Geld den Armen zu leihen“6 . Dieser Fonds namens Dexia Micro- Crédit wird verwaltet von Axa Investment Managers, dem weltweit drittgrößten Fondsverwalter (500 Milliarden Dollar); er wird Mikrokreditinstitutionen in den armen Ländern refinanzieren, als erstes einige Projekte in lateinamerikanischen Staaten. Die Refinanzierungssätze sollen bei 10 Prozent liegen, die Profitrate bei 6 Prozent. Damit will man das Interesse der Investoren wecken und zugleich – jedenfalls nach dem Verständnis der Projektbetreiber – den „ethischen“ Charakter dieser Operationen wahren.
Ein dynamischer Wachstumsmarkt
NUR drei Jahre nach Erfindung des Mikrokredits, also 1977, wurde in den USA ein Gesetz verabschiedet, das den armen Bewohnern ländlicher und benachteiligter städtischer Gebiete, die keinen Zugang zu traditionellen Bankkrediten hatten, die Aufnahme von Darlehen ermöglichte.7 Dieses Gesetz verpflichtet die Banken, einen bestimmten Teil ihrer Aktiva für Kredite an Kunden mit bescheidenem oder geringem Einkommen bereitzustellen. Doch sowohl in den USA wie in den anderen entwickelten Ländern bewirkten die Deregulierungen der achtziger und neunziger Jahre und der allgemeine Globalisierungsprozeß, daß sich die Einkommen höchst ungleich entwickelten und die Armut immer weiter zunahm. In den USA wurden die staatlichen Sozialprogramme vom republikanisch beherrschten Kongreß aufgehoben oder stark beschnitten, soziale Solidarität wurde damit zur Sache von privaten Initiativen. Das schuf die Voraussetzungen für die rasche Entwicklung des Mikrokredits, die durch gesetzliche Regelungen noch gefördert wurde. Von 1988 bis 1998 wurden aufgrund des Gesetzes von 1977 etwa 1000 Milliarden US-Dollar an Krediten verteilt, wobei auch große Finanzinstitutionen wie Bankers Trust8 , Wells Fargo oder Citicorp die Offensive der Mikrofinanzinstitutionen abstützten.
Es gibt verschiedene Vereinigungen, die Kredite auch Arbeitslosen oder einkommensschwachen Kreisen zugänglich machen wollen. Accion zum Beispiel operiert in den benachteiligten Regionen von acht amerikanischen Großstädten, die Operation Hope, unter Leitung des jungen Bankers John Bryan, agiert im South Central District, dem innerstädtischen Ghetto von Los Angeles.9
Bryan hatte 1994 unter dem schockierenden Eindruck der gewalttätigen Ausschreitungen im April 1992, die materielle Schäden in Höhe von rund 1 Milliarde Dollar verursacht hatten, den Kampf gegen die verbreitete Armut aufgenommen: „Ich bin zwar ein Kapitalist, aber einer mit Herz“, erklärte er damals. „Man kann zugleich gut leben und Gutes tun. Eine Gesellschaft, die nur am Profitdenken orientiert ist, wird sich nicht lange halten.“ Auch der Accion-Präsident Michael Chu ist ein namhafter Banker. Er ist 1949 in China geboren, jedoch in Uruguay aufgewachsen, von wo er aufgrund seiner Opposition gegen die Militärregierung in die USA flüchten mußte. Heute glaubt er nicht mehr, daß „der von einer aufgeklärten Regierung getragene soziale Wandel als Allheilmittel gelten kann.“10 Für ihn ist Armut nur dadurch zu überwinden, daß man den Menschen zu ökonomischer Unabhängigkeit verhilft und ihnen die Mittel in die Hand gibt, ihre Zukunft selbst zu gestalten.
Just zu der Zeit, da der Wirtschaftsliberalismus zum zentralen Bezugspunkt der Wirtschaftspolitik im Osten wie im Westen Europas wurde und sich Arbeitslosigkeit und Armut auszubreiten begannen, setzte der Kleinstkredit auf dem alten Kontinent zu seinem veritablen Aufschwung an. Rosalind Copisarow, die ihre ersten Berufserfahrungen in den amerikanischen Banken J.P. Morgan, Midland und Citicorp gesammelt hat, und Maria Novak, Beraterin bei der Weltbank, gründeten 1997 in Warschau das Micro Finance Center, das sämtliche Mikrokreditinstitutionen in Mittel- und Osteuropa unterstützen soll. Hilfe kommt dabei auch von der Mott Foundation, der US-amerikanischen Regierung und der Weltbank.
In Frankreich gibt es etwa 50 Organisationen, die sich für alternative, solidarische Kapitalanlagen engagieren.11 Zwei von ihnen zeichnen sich durch ihr breites Aktionsprogramm aus: die Association des Fonds France Active (FFA) und die Association pour le Droit à l'Initiative Économique (ADIE). Ihre Aktivitäten sind komplementär, wobei sie von der staatlichen Hinterlegungs- und Konsignationszentralkasse, den Genossenschaftsbanken und der öffentlichen Hand unterstützt werden. Sie entwickeln Beratungs- und Umschulungsprogramme für Arbeitslose, die sich selbständig machen wollen, und erstellen Kreditfinanzierungs- und Sicherungskonzepte für die Partnerbanken, die die Darlehen bewilligen. Der letzte Punkt ist von besonderer Bedeutung: Das Risiko kann nicht von der Finanzinstitution getragen werden, da diese es sonst auf ihre Zinssätze abwälzen müßte.
Diese Banken, Genossenschaftsbanken oder Sparkassen fordern in der Regel normale Zinssätze (5 bis 6,5 Prozent pro Jahr) mit Laufzeiten zwischen zwei und fünf Jahren. Die französischen Handelsbanken beteiligen sich nur punktuell an diesen Mikrokreditgeschäften. Sie haben noch nicht begriffen, daß die Armen einen boomenden Markt mit sicherer Rentabilität darstellen. Damit lassen sie sich zugleich ein werbewirksames und politisch überaus „korrektes“ Argument entgehen, das da lautet: „Den Kapitalismus benutzen, um Gutes zu tun.“12
dt. Andrea Marenzeller
* Professor an der Universität Paris VII.