Das westliche Modell steht zur Debatte
U PHILIP S. GOLUB *
ZUR Zeit befindet sich Japan in der schwersten wirtschaftlichen Rezession seiner Nachkriegsgeschichte oder gar kurz vor der Implosion. Damit steht das Land vor der Herausforderung, den Fortbestand eines „dirigistischen“1 Entwicklungsmodells zu sichern, das es zwar in die industrielle Modernität geführt hat, inzwischen aber in der Sackgasse zu stecken scheint. Angesichts des katastrophalen Zustands der zweiten Wirtschaftsmacht der Welt – des zerrütteten Bankensystems, einer unter starker Kreditverknappung leidenden Wirtschaft, der anhaltenden Flaute der Binnennachfrage, der wachsenden Arbeitslosigkeit, die ähnliche soziale Friktionen wie in den westlichen Ländern erwarten läßt2 – erscheint eine grundlegende Revision des wirtschaftlichen und institutionellen Systems Japans als überfällig.
Doch welche Art von Revision? Nach dem Muster der beharrlichen Kritik am Staat und zumal am europäischen Wohlfahrtsstaat werfen internationale Organisationen – allen voran die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Internationale Währungsfonds (IWF) – sowie angelsächsische Wirtschaftsintellektuelle dem japanischen Kapitalismus schon seit Jahren vor, die „sichtbare Hand“3 gegenüber der Smithschen unsichtbaren Hand zu privilegieren und auf der regulierenden Rolle des Staates im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu bestehen.
Diese Vorwürfe variieren je nach dem Kontext, in dem sie sich artikulieren. Während des scheinbar unaufhaltsamen technologischen und kommerziellen Höhenflugs der „Japan Inc.“ in den siebziger und achtziger Jahren richteten sie sich vor allem gegen die „neomerkantilistische“4 Industriepolitik eines Landes, dessen Produktivität angst machte und dem man die Absicht zutraute, die Weltwirtschaft zu erobern. Diese unsinnigen und karikaturhaft verzerrten Ängste sorgten in den USA über zehn Jahre lang für einen wahren Boom an alarmierenden Büchern und Berichten.
Dieser Alarmismus wurde inzwischen durch die entgegengesetzte, aber genauso unsinnige Behauptung abgelöst: Das zuvor für unfehlbar gehaltene japanische Modell gilt plötzlich als völlig überholt und als Ursache für die gegenwärtige Krise des Landes. In Ausweitung dieser These sieht man in der asiatischen Krise eine Krise des etatistischen Modells überhaupt, wie es Alan Greenspan, der Präsidenten der US-amerikanischen Zentralbank, ausgedrückt hat.5
Diese Idee wurde etwa von Richard Katz aufgegriffen, der in einem Ende 1998 veröffentlichten Buch schreibt: „Das [japanische] ,Wirtschaftsmodell' ist nicht, wie einige behaupten, eine andere Form des Kapitalismus, sondern das Relikt eines Typus von Vorkapitalismus.“6 Katz führt die Entstehung der Krise darauf zurück, daß die japanische Wirtschaft den Übergang von der „Adoleszenz“ zur „Reife“ verpaßt habe, das heißt, den Übergang von einem staatlich gesteuerten zu einem freien Markt. Im Unterschied zum modernen Kapitalismus, der sich durch die „effiziente Zuteilung von Ressourcen“ durch Kapitalmärkte ohne staatliche Kontrollen auszeichnet, sei das japanische Finanzsystem insofern „präkapitalistisch“, als es durch eine starke Verflechtung von Staat, Banken und Industrie gekennzeichnet ist.7
Paradoxerweise soll also der japanische Kapitalismus (ein Kapitalismus „infantilen“ Typs) gleichzeitig das Wirtschaftswunder“ der siebziger Jahre erklären wie auch sein Gegenteil. Der wesentliche Vorwurf gegen ihn lautet letztendlich, daß er aus dem Rahmen der herrschenden neoliberalen Theorie und Praxis herausfällt, vor allem aber, daß er sich, und sei es auch nur passiv, der Universalisierung der angelsächsischen Wirtschaftsnormen und –praktiken widersetzt. Vor diesem Hintergrund sah man die Schwächung Ostasiens im Verlauf der Krise als günstige Gelegenheit, eine strukturelle Veränderung der Wirtschaftspolitik Japans und vor allem der ostasiatischen Länder einzuläuten (siehe hierzu den Artikel von Bruce Cumings). „Die erste Antwort des Westens“, so François Godement, „(...) war ein klassischer Aufruf zur Annäherung der Wirtschaftsmodelle, was in der Praxis heißt: zur Fortsetzung und sogar Beschleunigung der kommerziellen und finanziellen Liberalisierung.“8
In Japan empfindet man die wiederholten Aufforderungen, sogenannte strukturelle Reformen einzuleiten – Deregulierung des Finanz- und Arbeitsmarkts, Öffnung für die internationale Konkurrenz – in weiten Kreisen als eine ähnliche Einmischung, wie sie die USA schon 1985 hinsichtlich einer Aufwertung des Yen ausgeübt hatten. Man darf schließlich nicht vergessen, daß die japanische Krise damals durch den plötzlichen Kursanstieg des Yen eingeleitet wurde, der bekanntlich nicht nur durch Marktoperationen ausgelöst wurde. Der starke Yen war auch die Folge eines politischen Arrangements, das darauf abzielte, das bilaterale Außenhandelsdefizit der Vereinigten Staaten abzubauen. Dieser Kursanstieg sowie die gleichzeitig ergriffenen Maßnahmen zur Deregulierung des Finanzsektors führten zu einer Aufblähung des Finanzsektors und zu exzessiven Investitionen in den Immobiliensektor, dessen Einbruch am Ende der achtziger Jahre dann Japan eine anhaltende Flaute bescherte. Die Neubewertung des Yen von 1995 bewegt sich auf derselben Ebene. Die „plötzlichen Zickzack-Ausschläge der Dollar-Yen-Parität“, so Godemont, „lassen sich kaum als ein zeitversetzter Anpassungsmechanismus“9 zwischen der amerikanischen und der japanischen Wirtschaft begreifen.
Zwar hat es Japan in der Vergangenheit verstanden, mit einem starken Yen zu leben, indem es seine Produktionsstruktur verändert und seine Produktion ins Ausland verlagert hat. Aber sehr viel schwerer fällt es dem Land, eine Politik der allgemeinen Liberalisierung und Deregulierung zu akzeptieren, die darauf hinauslaufen würde, seine Existenzweise und seine Handlungsmaximen grundsätzlich in Frage zu stellen. Diese Politik würde das innere Gleichgewicht der Gesellschaft aus dem Lot bringen und nicht nur die Interessen der herrschenden ökonomischen Kaste und ihre erworbenen Rechte gefährden, sondern auch den Gesellschaftsvertrag à la japonaise. Das erklärt großenteils die Untätigkeit und Entschlußlosigkeit der Politik und des bürokratischen Apparats während der Krise des letzten Jahrzehnts. Auch wenn der Preis für diese Unbeweglichkeit heute sehr hoch ist (abzulesen am katastrophalen Zustand des Bankensektors), muß man doch zugeben, daß dieser Immobilismus auch eine Form der Verweigerung gegenüber einem westlichen „Modell“ ausdrückt, das als bedrohlich empfunden wird.
Aus denselben Gründen erklären sich die Widerstände hinsichtlich der Handels- und Währungspolitik, also der Bereiche, in denen das Land noch begrenzte Handlungsspielräume hat. So weigerte sich Japan etwa auf dem Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Apec) im November 1998, den amerikanischen Forderungen nach einer Aufhebung der Zolltarife für Forst- und Fischereiprodukte nachzugeben, und verhinderte damit die Umsetzung des Plans zur Schaffung einer großräumigen asiatisch-pazifischen Freihandelszone. Doch diese klassischen Handelsduelle zwischen Amerikanern und Japanern sind nicht das Entscheidende.
Die unterschiedliche Sichtweise Japans macht sich vor allem auf der internationalen Währungs- und Handelsebene bemerkbar. So sehen etwa zahlreiche japanische Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik in der internationalen Finanzkrise ein Problem des ganzen Systems, was den im Westen üblichen Deutungen diametral entgegensteht. Und was das internationale Finanzsystem betrifft, so werden in Japan teilweise die gleichen Bedenken geäußert wie in manchen europäischen Ländern. Laut Eisuke Sakakibara etwa (altgedienter stellvertretender Finanzminister mit dem Geschäftsbereich internationale Beziehungen und bekanntester Vertreter der nationalistisch-ökonomischen Schule in Japan) ist diese Finanzkrise nicht als eine spezifisch asiatische Krise zu verstehen, sondern als eine „Krise des Weltkapitalismus“.
Für Takashi Hosomi, den ehemaligen stellvertretenden Finanzminister, haben die Mängel des internationalen Finanzsystems und vor allem die Dollar-Politik der Vereinigten Staaten die Finanzkrise der letzten Jahre ausgelöst: „Das äußerste Mittel, das durch den impulsiven Kapitalstrom verursachte Problem zu lösen, wäre es, das globale Angebot an unkontrolliert fließendem Kapital von vornherein einzudämmen“, erklärte er im Oktober 1998. Ichizo Ohara, Berater von Ministerpräsident Keizo Obuchi, schlug vor, die industrialisierten Länder sollten „die kurzfristigen Kapitalströme besteuern“, um die „destabilisierenden“ Spekulationsbewegungen zu bremsen oder sogar zu unterbinden.
Die Infragestellung der weltweiten Ausdehnung des Finanzsystems wie auch die Unterstützung für eine Politik der Wechselkurskontrolle, wie sie von Malaysia praktiziert wird (nach Worten von Sakakibara „eine kühne, mutige Maßnahme“) erklären sich aus dem Willen, Japans Autonomie zu verteidigen. Genau das macht die gleichlautende Botschaft der Wirtschaftsnationalisten aus. Seit Jahren schon verweist Eisuke Sakakibara immer wieder auf den Widerspruch zwischen dem (politischen und ökonomischen) Liberalismus westlicher Provenienz und den japanischen Traditionen. In einem Artikel von 1997 behauptete der Autor des Buchs „Japan Beyond Capitalism“10 , der Bankrott des „Marxismus und des klassischen Liberalismus“ habe dazu geführt, daß „die Menschheit in einem Meer der Verwirrung und des Relativismus treibt“.11
Hinsichtlich der Zukunft Japans versichert Sakakibara: „Angesichts des Niedergangs und der Auflösung der durch die Meiji-Restauration12 geschaffenen Systeme (...) müssen wir das verwerfen, was nötig ist, und das bewahren, was bewahrenswert ist, damit wir nicht (...) in das durch die [Meiji-]Revolution gestürzte Feudalsystem zurückfallen.“
Politische Freiheit und Freiheiten des Marktes
IN dieser Spannung zwischen Reform und Bewahrung kommt das zentrale Dilemma der japanischen Gesellschaft zum Ausdruck: Wie läßt sich die Eigenheit Japans neu erfinden? Gibt es keinen dritten Weg zwischen einer verstärkten Ausrichtung auf den Westen und der Internationalisierung auf der einen und dem Rückzug auf eine anfällige Japanität auf der anderen Seite? Wie läßt sich der Raum der politischen und bürgerlichen Freiheiten erweitern, ohne damit eine bedingungslose Freiheit der Märkte zu oktroyieren und den Gesellschaftsvertrag der Nachkriegszeit zu unterminieren?
Außer diesen Fragen stellt sich für Japan noch die Herausforderung, „im weltweiten Kontext einer stark deregulierten Ökonomie“ an der Schaffung eines internationalen kooperativen Wirtschaftssystems teilzunehmen, ohne das man nur die Wahl zwischen zwei Übeln hätte: sich entweder dem herrschenden Neoliberalismus zu unterwerfen oder sich einem nationalistisch-ökonomischen Rückzug zu überlassen, der auf den Kampf zwischen regionalen Handelsblöcken hinausläuft.13
Und schließlich wird gar nichts möglich sein, ohne daß man das politische Sytem völlig neu gestaltet. Das Zusammentreffen von Wirtschaftskrise und Erstarrung einer zersplitterten politischen Klasse, die seit dem Ende des Kalten Kriegs keine Erneuerung zustande gebracht hat, stürzt Japan in tiefe Ratlosigkeit. Von der Rezession 1992/93 über das schwache Wachstum der Zwischenzeit bis hin zur tiefgreifenden Krise der letzten beiden Jahre ist das Gefühl einer grenzenlosen Orientierungslosigkeit immer stärker geworden.
Die diversen Konjunkturprogramme zur Wiederankurbelung und Rettung der Wirtschaft – das jüngste und gleichzeitig spektakulärste sieht eine Finanzspritze von 500 Milliarden Dollar ins Bankensystem und eine erhebliche Reduzierung der steuerlichen Belastung der Konsumenten vor – haben es nicht vermocht, das Vertrauen wiederherzustellen. Die konservative Liberaldemokratische Partei (LDP), die seit 1955 fast ununterbrochen an der Macht ist und aufgrund wiederholter Skandale stark an Popularität eingebüßt hat, hält sich nur deswegen an der Macht, weil es keine Opposition gibt, die eine klare Alternative formulieren könnte.
In dieser west-östlichen Debatte – einer Debatte voller Fallstricke, bei der politische Freiheiten und Freiheit des Marktes häufig durcheinandergehen – gibt es für Japan nur einen schmalen Pfad zu einer Reform, welche die Forderungen nach einer Öffnung des politischen und sozialen Raumes mit der Bewahrung eines eigenständigen Entwicklungsmodells in Einklang bringt.
dt. Matthias Wolf
* Journalist