DER FLUSS DER ZEIT IST KEIN FLIESSBAND
Die Pflicht zur Faulheit
Von THIERRY PAQUOT *
Die Revolutionäre von 1848 kämpften für das Recht auf Arbeit, für die Anerkennung dieser ganz besonderen Zeit, die eine ebenfalls ganz besondere Person, der Proletarier, gegen Lohn an seinen Unternehmer verkaufte. Noch bevor der 1. Mai im Jahr 1886, im Gedenken an blutig niedergeschlagene Kundgebungen in Chicago, zur festen Einrichtung wurde, ehrte Jean-Baptiste André Godin, ein linker, von Charles Fourier1 beeinflußter Unternehmer und Theoretiker der „sozialen Lösungen“, an jedem ersten Sonntag im Mai die Arbeit und die Arbeiter.
Bei Linken wie Rechten galt die Arbeit zu jener Zeit als eine Tugend, die dem innerlich zerrissenen oder aus der Gemeinschaft herausgefallenen einzelnen ermöglichte, sich wieder einzugliedern, sich sittlich zu erheben und auf jenen weisen biblischen Grundsatz zu besinnen, der freilich immer noch wie ein Fluch klingt: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!“ Immerhin verweist das Wort „travail“ (dt. Arbeit; von lateinisch „trepalium“) etymologisch auf ein Folterinstrument.
Im sozioökonomischen Kontext der Industrialisierung und der aus ihr entstehenden Arbeitsteilung erscheint die Arbeit als das beste Mittel, einen Platz – einen eigenen Platz – in der Gesellschaft zu finden. Nach und nach setzte sich die Ideologie der Arbeit in den Köpfen der Menschen fest und wurde zum Maß aller Dinge. Wehe dem, der die Spielregeln nicht beachtete, der vagabundierte, flanierte und schmarotzte! Er beging Arbeitsbeleidigung, er galt als Wilder, als Deserteur aus den Reihen der industriellen Armee, als Agent provocateur jenes sogenannten natürlichen Feindes, der Faulheit, die, zu einer Tür hinausgejagt, zur anderen wieder hereinkommt. Faulheit, damit war alles gesagt – voll Abscheu bei den Stachanowisten avant la lettre und mit genießerischem Zungenschnalzen bei den Lebenskünstlern, diesen zügellosen und zweifelhaften Erben Epikurs2 .
Vergessen wir nicht, daß die Faulheit lange Zeit als eine der sieben Todsünden galt, was keinen Zweifel an der Schwere der Verfehlung zuläßt! Aus dem etymologischen Ursprung des Wortes „paresse“ (“Faulheit“) geht dies keineswegs zwingend hervor: Es geht auf das lateinische „pigritia“ zurück, das sich von „piger“ – „langsam“, „träge“, daher die Bedeutung „arbeitsscheu“ – herleitet. Im christlichen Verständnis der Todsünden finden sich diese verschiedenen Bedeutungen wieder. Einer Untersuchung von Jean Delumeau zufolge3 meint Faulheit tatsächlich zunächst und vor allem die Acedia4 , jene „geistige Trägheit“, die den nachlässigen Gläubigen kennzeichnet, der es mit dem Beten und der Erfüllung seiner diversen Christenpflichten nicht eilig hat.
Im Laufe des 13. Jahrhunderts wird die Faulheit zum Synonym für Müßiggang, der bekanntlich „aller Laster Anfang“ ist. Als Brueghel im 16. Jahrhundert die sieben Todsünden malt, versieht er die Faulheit mit dem Kommentar: „All die Faulpelze, Nichtsnutze und Tagediebe sind stets wohlversorgt mit Wind, nicht aber mit Geld“ – Ausdruck moralischer Mißbilligung einer unverantwortlichen Haltung. Sicher ist, daß sich mit der Reformation die „protestantische Arbeitsethik“ zunehmend durchsetzt und es folglich einleuchtend erscheint, wie zahlreiche Theologen jener Zeit anmerken, daß „Hiob versichert, der Mensch sei zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen“.
Auch wenn mittlerweile ganz andere Bedingungen herrschen, übt diese spezifische Verbindung von Religion und Ökonomie noch immer Einfluß aus. Dem Müßiggänger wird Arbeit verordnet – mit Ausnahme des Rentiers, der sein Kapital für sich arbeiten läßt.
Im Jahre 1880 schreibt Paul Lafargue (1842-1911) in London, wo er mit seiner Frau Laura, der Tochter von Karl Marx, lebt, sein Buch „Das Recht auf Faulheit“5 . Es ist gut vorstellbar, daß er über das Thema mit seinem Schwiegervater diskutiert hat, und aus verschiedenen Zeugnissen, darunter dem von Friedrich Engels, ist bekannt, daß er die Bibliothek des Autors des „Kapitals“ benutzte. Denn dieses Loblied auf die Freiheit des Nichtstuns entspringt einer ausgesprochen ernsthaften dokumentarischen Arbeit, wie Maurice Dommanget feststellt6 ; beispielsweise kommentiert Lafargue Marx' Randbemerkungen in dem Buch von Moreau-Christophe, „Du droit à loisiveté et de l'organisation du travail servile dans les républiques greques et romaines“ (Das Recht auf Müßiggang und das System der Sklavenarbeit in den griechischen und römischen Republiken), das 1849 in Paris erschienen war. Hat er das 1861 veröffentlichte Bändchen „Les Délassements du travail“ (Erholungsmöglichkeiten von der Arbeit) von Maurice Cristal gelesen? Auf alle Fälle kennt er die Schriften von Fourier und dürfte von der bemerkenswerten Kritik beeinflußt worden sein, die der Theoretiker der „leidenschaftlichen Attraktion“ gegen das Dogma der Arbeit richtet.
Lafargues Streitschrift wird vom 16. Juni bis 4. August 1880 in Fortsetzungen in der Zeitschrift L'Egalité abgedruckt, bevor sie mit einigen nicht unwesentlichen Änderungen 1883 in Buchform erscheint und sowohl als Raubdruck wie in der offiziellen Auflage einen beachtlichen Verkaufserfolg erzielt. Der Text galt lange als Abweichung von den übrigen theoretischen Positionen des Autors und als Sonderfall im Katalog der marxistischen Werke. Er irritiert in der Tat durch seinen libertären Gestus, seine Unverfrorenheit gegenüber den traditionellen Werten der Arbeiterbewegung und durch seinen Aufruf zum „Genießen“, ein Wort, das linke Aktivisten und Bürger gleichermaßen schockiert.
Lafargue wettert nicht nur gegen die „Religion des Kapitals“ (wie eines seiner Bücher heißt), sondern gegen alle Gesellschaftssysteme, die sich auf die Arbeit als einzigen sozialen und individuellen Wert gründen. Er hofft auf eine Befreiung aus der Lohnabhängigkeit (“die schlimmste Form der Sklaverei“) durch die Maschine und den baldigen Zugang aller zu „Freizeit“. Der Begriff klingt unerhört, und was er meint, scheint kaum zu verwirklichen, angesichts des täglichen Arbeitspensums, der für Hin- und Rückweg aufzuwendenden Zeit und der im Schnitt geringen Lebenserwartung eines Arbeiters: Zeit für sich zu haben, nicht zum Nichtstun, sondern um das zu tun, was man tun will. Freizeit ist gewissermaßen befreite Zeit und durchaus keine freie Zeit.
Unsere sogenannte Konsumgesellschaft weiß genau, daß die freie Zeit eine Falle ist, hinter der gierig die Anbieter von Freizeitaktivitäten, von Sport und Heimwerkerarbeit lauern, nicht zu vergessen die Tourismusindustrie. Die Faulheit ist kein Recht, sondern stellt eine Aufgabe dar, auf die man vorbereitet sein muß. Schließlich sind wir doch völlig davon überzeugt, daß „die“ Gesellschaft uns alles bereitstellen, uns in allem beistehen muß; unsere Freiheit jedoch bemißt sich nach unseren Aktivitäten, die der Geldzirkulation enthoben sind, nach unseren ganz persönlichen Lebensentwürfen, den Begegnungen mit uns selbst.
Die Zeit ist ein Wert, der in dem Maße unbezahlbar ist, wie man über sie als Freizeit verfügt. Widerstand zu leisten gegen die Zeit des globalen Marktes, gegen die von der sakrosankten Rentabilität erzwungenen Arbeitszeiten, sich zu weigern, den Wechsel zwischen Schnelligkeit – wenn die Marktstrategen sie einfordern – und Langsamkeit – wenn sie einen nostalgischen, fast patrimonialen Charakter annimmt – mitzumachen, um statt dessen über die Verwendung der eigenen Zeit und ihren Rhythmus nach Belieben selbst zu entscheiden: das wäre eine Lebenskunst, gleichermaßen von Autonomie und von Achtung gegenüber anderen geprägt. In der gegenwärtigen Entwicklungsphase des Kapitalismus, in der das Anwachsen der produzierten Reichtümer mit einer Zunahme der Arbeitslosigkeit einhergeht, ist es gewiß angebracht, sich über die Neuverteilung der Arbeit Gedanken zu machen, auch und vor allem aber über ihre Grenzen, ihren Platz im Leben jedes einzelnen von uns. Die Maschine hat in einigen Fällen das Leid der Arbeiter gemildert – zahlreiche Berufe sind unbestreitbar weniger mühselig – doch im Falle der doppelten Arbeitsbelastung der Frau etwa haben die Hausgeräte nicht gerade viel Zeit „befreit“, sondern neue Zwänge geschaffen und ihre Benutzer von der Gegenständlichkeit und Verständlichkeit der Welt entfernt.
Vielleicht sollte man die Arbeit durch das Werk ersetzen, eine Aktivität, die auf eine Versöhnung „des Menschen mit sich selbst“ (Marx) abzielt, auf eine geringere Entfremdung von der Technik, den Dingen, den anderen Menschen und der Welt, einer Welt, die dafür die plurale Entfaltung seines „Seins“ empfängt. Die Nähe von Werk und Kunstwerk verweist zugleich auf die Einheit und Unterschiedlichkeit von „Tun“ und „Nichtstun“, auf dieses Warten auf ein Werden, diese schöpferische Pause, dieses faule Vergnügen, der Zeit zuzuschauen.
Nicht nur, daß sich Faulheit auf Schlauheit reimt, sie verleiht auch denen, die sich ihr überlassen, ein unvergleichliches Wohlgefühl. Warum sollte man sich das nehmen lassen?
dt. Christian Hansen
* Autor des Buches „L'Art de la sieste“, Paris (Zulma) 1998.