16.04.1999

Kurze Geschichte der Osterweiterung

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Kurze Geschichte der Osterweiterung

Von GILBERT ACHCAR *

DIE erste Phase der Osterweiterung der Nato, deren Abschluß in diesem Monat auf dem Washingtoner Gipfeltreffen zum fünfzigjährigen Bestehen formell besiegelt wird, liefert einen hervorragenden Anschauungsunterricht über den tatsächlichen Stand der Beziehungen zwischen den europäischen Mitgliedern des Atlantischen Bündnisses und seinem amerikanischen Vormund. Die gesamte politische Konfiguration und künftige Strategie des europäischen Kontinents hängt von der Entwicklung der Nato und den Beziehungen zu Rußland ab.

Nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989 und den Folgeereignissen – dem Zusammenbruch des kommunistischen Staatensystems, der Wiedervereinigung Deutschlands und der Auflösung der UdSSR und des Warschauer Pakts – stand Westeuropa vor einer Alternative, die man vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit großer Klarheit formulieren konnte. Auf die Niederlage des russischen Reiches nach dem Ende des Kalten Kriegs gab es prinzipiell zwei Antworten, und zwar dieselben, die man für Deutschland jeweils am Ende der beiden Weltkriege gefunden hatte: entweder die Demütigung des Verlierers nach Art des Versailler Vertrags von 1919 oder die Integration in ein sich zusammenschließendes Europa nach dem Beispiel der Bundesrepublik.1

Die historische Erfahrung sprach um so mehr für die zweite Antwort, als Rußland im Jahre 1991 ebenso wie Deutschland im Jahre 1945 eine radikale Umwandlung durchlebte und Anschluß an den politischen und wirtschaflichen Liberalismus des Westens suchte, den es so lange bekämpft hatte.

Eine solche Entscheidung hätte der De-Gaulleschen Vorstellung eines Europa „vom Atlantik bis zum Ural“ entsprochen. Der Mann, der Frankreich 1966 aus der militärischen Integration der Nato herauslöste, um die Hegemonie der USA abzuschütteln, hätte nach 1991 vermutlich für eine Auflösung der Allianz plädiert, zugunsten einer euro-atlantischen Sicherheitsstruktur im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenheit in Europa (OSZE) auf der Basis eines europäischen Verteidigungssystems.2 Als Fernziel hätte De Gaulle wohl die Integration sämtlicher osteuropäischer Staaten, allen voran Rußlands, in die Europäische Union angestrebt. In einer franko- russischen und euro-russischen Allianz hätte er ein Mittel gesehen, ein neues Gleichgewicht der Kräfte in einem doppelten Sinne herzustellen: ein innereuropäisches angesichts des wiedervereinigten Deutschland und ein globales angesichts der triumphal dominierenden USA.

Die aktuelle amerikanische Haltung ist rational nur aus der Absicht Washingtons zu erklären, die Integration Rußlands in ein Mitteleuropa zu verhindern, das damit auf die strategische Bevormundung durch die Vereinigten Staaten nicht mehr angewiesen wäre. Auf Verlangen der postkommunistischen Führer der zentraleuropäischen Staaten, auf Drängen des deutschen Kanzlers Kohl und auf Rat von Zbigniew Brzezinski und Henry Kissinger, den „Realisten“ im Establishment der amerikanischen Außenpolitik, gab Präsident Bill Clinton nach einigem Zögern nach und erklärte sich im Januar 1994 bereit, die Atlantische Allianz auf die ehemaligen Vasallen Moskaus auszudehnen. Er bestätigte damit die Rolle der Nato als antirussischer Schutzschild, was in Moskau einhellige Empörung auslöste.3

Im Widerstreit zwischen einer „liberalen“ und einer „realistischen“ Option amerikanischer Außenpolitik entschied sich die Regierung Clinton für eine als Zwischenlösung deklarierte Variante, die man jedoch in Moskau als ausgesprochen feindselig empfand: eine Osterweiterung der Nato, die durch den kläglichen Trostpreis eines im Mai 1997 in Paris gegründeten „Gemeinsamen Nato-Rußland-Rates“ kompensiert werden sollte (siehe dazu oben den Artikel von Paul- Marie de La Gorce). Damit illustriert die Regierung Clinton – wie schon auf dem Gebiet der Wirtschaftshilfe für Rußland (ein neuer Marshallplan, den das Land für den Vollzug seines Wandels dringend bräuchte, ist nicht in Sicht) – das Dilemma, das ein amerikanischer Gegner der Osterweiterung so beschreibt: Der Verzicht auf Hilfsleistungen für Rußland birgt das Risiko eines gefährlichen Chaos und wiederauflebenden Revanchismus; der Wiederaufbau der russischen Wirtschaftsmacht hingegen erweckt die regionale Hegemonie Moskaus und die Bipolarität zu neuem Leben.4

Die Erweiterung wurde im Juli 1997 beim Nato-Gipfel in Madrid offiziell verkündet. Die Beschränkung der zugelassenen Kandidaten auf Polen, Ungarn und Tschechien hatte Washington den europäischen Partnern aufgezwungen, die gern weitere Länder wie Rumänien und Slowenien aufgenommen hätten. Doch die härteste Aufgabe stand dem Weißen Haus noch bevor. Obwohl die Risiken dieser Entscheidung in erster Linie von den Europäern zu tragen sind, war die Gefahr, daß sie noch einmal rückgängig gemacht würde, gerade in den USA am größten.

Die Intensität der Debatte unterschied sich beträchtlich von den bisweilen sehr hastig durchgezogenen Ratifizierungsverfahren in den europäischen Parlamenten. In Europa stieß die weitreichende Entscheidung lediglich auf den Widerstand kleiner Minderheiten. Der Protest kam, abgesehen von einigen eigenwilligen rechten Parteien wie der lombardischen Lega Nord, von kommunistischer Seite – unter anderem von der Kommunistischen Partei Frankreichs und der Rifondazione Comunista Italiens – sowie von einigen grünen Gruppierungen, die in dieser Frage gespalten waren, wie die grüne Fraktion im deutschen Bundestag.5

Nach einer unangebracht kurzen Debatte ging die Abstimmung in Frankreich in beiden Kammern fast unbeachtet über die Bühne. Selbst die Fraktion, in der Linksradikale, die Freunde Chevènements und die Grünen zusammengeschlossen sind, votierte nach einigen Vorbehalten für die Ratifizierung. Und all das, nachdem ein „gaullistischer“ Staatspräsident – wenn auch zögerlich – den Weg zur Reintegration Frankreichs in die militärischen Stukturen der Nato eingeschlagen und sich obendrein für eine Erweiterung der Organisation eingesetzt hatte.

Jenseits des Atlantiks mußte Clinton im Gegensatz zu seinen europäischen Partnern beträchtliche Anstrengungen unternehmen, um im Senat die für die Modifizierung eines internationalen Vertrags notwendige Zweidrittelmehrheit zu erlangen. Die Debatte schlug im Establishment und in der gesamten Presse hohe Wellen, so daß die Regierung alle von der Erweiterung betroffenen Lobbys auf den Plan rief: Neben der militärischen Führung und dem Außenministerium unter der Leitung von Madeleine Albright, die stets ihre tschechische Herkunft betont, traten die „ethnischen“ Lobbys von Amerikanern mittel- und osteuropäischer Abstammung auf, selbstverständlich auch die Lobby der Rüstungsindustrie, die auf den Löwenanteil bei der militärischen Umrüstung der ehemaligen Satelliten Moskaus spekuliert, gemäß dem für das gute Funktionieren der Nato notwendigen Prinzip der „kombinierbaren Zusammenarbeitsmöglichkeit“.6

Der amerikanische Senat zeigte sich höchst knauserig in der Frage der Erweiterungskosten. Daraufhin setzte die Regierung im Verbund mit der Bürokratie des Atlantischen Bündnisses alle Hebel in Bewegung, um den Betrag zu minimieren. Nachdem das Congressial Budget Office (Haushaltsamt beim amerikanischen Kongreß) 1996 die Kosten für die Integration der vier Länder von Visegrad (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) auf einen Betrag geschätzt hatte, der über fünfzehn Jahre gestaffelt zwischen 61 und 125 Milliarden Dollar erreichen würde, reduzierte das Verteidigungsministerium die Schätzung auf maximal 35 Milliarden, verteilt über dreizehn Jahre, eine immer noch erkleckliche Summe, von der aber der Anteil der USA einen Gesamtbetrag von 2 Milliarden, verteilt auf zehn Jahre, nicht überschreiten sollte. Das militärische Komitee der Nato besserte 1997 nochmals nach und schätzte die durch die Erweiterung verursachten Zusatzkosten für den Nato-Haushalt (zu dem Washington ein Viertel beisteuert) auf höchstens 1,5 Milliarden, verteilt auf zehn Jahre – eine haarsträubende Kalkulation, auf die das Verteidigungsministerium eiligst einschwenkte.

Nach einer vier Tage dauernden, lebhaften Debatte passierte die Ratifizierung schließlich am 30. April 1998 den Senat, mit einer breiten Mehrheit von achtzig der hundert Stimmen. Sie war allerdings begleitet von einer ausführlichen Resolution, die bindende Bestimmungen über die Entwicklung der Nato und ihre neue strategische Doktrin enthält und das vorwegnimmt, was das Washingtoner Gipfeltreffen in diesem Monat beschließen soll. Die herausragenden Punkte dieses Grundsatztextes lauten: Als Hauptgrund für die Erweiterung gilt die „Möglichkeit des Wiederauftauchens einer Europa feindlich gegenüberstehenden Hegemonialmacht“, die versucht sein könnte, in Polen, Ungarn oder Tschechien einzufallen; die Beschlüsse und Aktionen der Nato erfolgen unabhängig von jedem anderen zwischenstaatlichen Forum wie UNO, OSZE, Euro-Atlantische Partnerschaft usw.; Rußland besitzt keinerlei Vetorecht gegenüber den Entscheidungen der Allianz, auch nicht im Rahmen des ständigen Nato-Rußland-Rats; die Nato kann sich außerhalb ihres eigenen Territoriums engagieren, wenn sich ihre Mitglieder darüber einig sind, daß ihre Interessen bedroht werden; die Führungsrolle der Vereinigten Staaten in der Nato wird bestätigt, und damit auch die Ausübung der obersten Kommandoposten durch amerikanische Offiziere; die militärischen und finanziellen Lasten sollen „gerechter“ verteilt werden, wobei sich die Erweiterung nicht in einem höheren Finanzzuschuß der Vereinigten Staaten am Nato- Haushalt niederschlagen darf; dieser darf den 1998 gezahlten Betrag nicht überschreiten und sollte sogar eher sinken. Der amerikanische Präsident ist gehalten, den Senat vor jeder Neuaufnahme in die Nato zu konsultieren.

Ein vom republikanischen Senator John Warner (Virginia) eingebrachter Änderungsvorschlag, der eine Wartefrist von drei Jahren vor jeder weiteren Neuaufnahme in die Nato vorsieht, erhielt 41 Stimmen – zuwenig, um durchzugehen, aber mehr als genug, um weitere Zulassungen zu blockieren. Nach außen hin praktiziert die Regierung allerdings eine Politik der offenen Tür, auch für die baltischen Länder, deren Beitritt zur Nato von Moskau nach wie vor als casus belli betrachtet wird. Im übrigen hat Zbigniew Brzezinski, der geistige Vater der ersten Erweiterungsphase der Nato, schon vorgeschlagen, daß Slowenien und eventuell Rumänien und Litauen von der Washingtoner Gipfelkonferenz aufgefordert werden sollen, der Organisation beizutreten.7

Die Regierung Clinton befindet sich bei diesem Gipfeltreffen in einer Zwickmühle: Entweder vertagt sie jede zusätzliche Erweiterung und vermittelt den Eindruck, daß es auch keine mehr geben wird, oder sie läuft Gefahr, vom Senat desavouiert zu werden. Denn dieser wird verlangen, daß ihm vor einem weiteren Schritt die Bilanz der ersten Etappe vorgelegt wird, die zu verzeichnen hätte, daß die Integration der drei neuen Mitglieder auf militärischer Ebene noch nicht vollzogen ist.8

dt. Margrethe Schmeer

* Universität Paris VIII.

Fußnoten: 1 Dazu den Artikel des herausragenden amerikanischen Historikers des Kalten Krieges, John Lewis Gaddis, „History, Grand Strategy and Nato Enlargement“, Survival, Bd. 40, Nr. 1, London 1998. 2 Vgl. Paul-Marie de La Gorce, „Ein Tanzbär namens Nato“, Le Monde diplomatique, Juli 1997. 3 Die amerikanische Entscheidung wird gut dargestellt bei Marc Danner, „Marooned in the Cold War: America, the Alliance and the Quest for a vanished World“, World Policy Journal, Bd. 14, Nr. 3, New York 1997. 4 Hall Gardner, „Dangerous Crossroads: Europe, Russia and the Future of Nato“, Westport (Praeger) 1997, S. 104. 5 Nach dem Kalten Krieg wollten die linken Nato- Gegner die UNO und die OSZE als Instanzen zur Krisenbewältigung durchsetzen. 6 Vgl. Jeff Gerth und Tim Weiner, „U.S. Arms Makers Lobby for Nato Expansion“, International Herald Tribune, Paris 1997, und William Hartung, „Welfare for Weapons Dealers 1998: The Hidden Costs of Nato Expansion“, herausgegeben vom Arms Trade Ressource Center des World Policy Institute in New York (New School for Social Research), März 1998. 7 Zbigniew Brzezinski, „The Dilemmas of Expansion“, The National Interest, Washington, Nr. 53, Herbst 1998. 8 Vgl. Tomas Valasek, „Preparations for Nato Membership Behind Schedule“, Weekly Defense Monitor, Washington (Center for Defense Information), Bd. 3, Nr. 1, Januar 1999.

Le Monde diplomatique vom 16.04.1999, von GILBERT ACHCAR