16.04.1999

Die moderne Rechte

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Die moderne Rechte

VON IGNACIO RAMONET

ZUM ersten Mal seit ihrer Gründung im Jahre 1949 führt die Nato einen Krieg gegen ein Land – die Bundesrepublik Jugoslawien –, das kein anderes Land angegriffen hat. Zum ersten Mal seit 1945 bombardieren europäische Streitkräfte einen anderen souveränen Staat Europas. Als Javier Solana, der Generalsekretär der Nato, diese Entscheidung am 23. März 1999 ankündigte, sprach er von einer „moralischen Pflicht“.

Solana ist ein langgedientes Führungsmitglied der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) und zählt in diesem Krieg auf die Unterstützung von Gerhard Schröder, Lionel Jospin, Massimo D'Alema und Anthony Blair, allesamt Regierungschefs und Führungsmitglieder der europäischen Sozialdemokratie.

Um aus der Sackgasse herauszufinden, in der sich die Kosovo-Friedensverhandlungen am Ende befanden, haben sie alle den militärischen Weg akzeptiert, den die USA als „einzige Lösung“ vorgeschlagen hatten. Wie die USA im Irak 1991 feststellen konnten, reichen jedoch Luftschläge keineswegs aus, um Krisen dieser Art beizulegen. Bekannt ist auch, daß eine Besetzung des Kosovo durch Bodentruppen einen hohen Preis an Menschenleben fordern und die Gefahr bedeuten würde, daß sich der Konflikt auf den gesamten Balkan ausdehnt.

Aufgrund seiner Weigerung, dem Kosovo eine weitreichende politische Autonomie zuzugestehen, und seiner fortgesetzten Repression ist Slobodan Milošević der Hauptverantwortliche für die Krise. Doch kann er sich in der Kosovofrage auf die meisten Serben stützen, die aus kulturellen Gründen wünschen, daß das Kosovo weiter bei Serbien verbleibt, und die sich mit der dort ansässigen serbischen Minderheit solidarisch fühlen. Es handelt sich also keineswegs um eine Krise zwischen einem isolierten Milošević auf der einen und den alliierten Kräften plus der serbischen Bevölkerung (die es in gewisser Weise zu „befreien“ gilt) auf der anderen Seite, wie es die Propaganda der Nato glauben machen will. Die Dinge sind wesentlich komplizierter.

Zur Rechtfertigung der Nato hat Solana erklärt: „Wir müssen ein autoritäres Regime daran hindern, weiterhin sein Volk in Europa zu unterdrücken.“1 Sollte man also Gewaltmaßnahmen ergreifen, um die Türkei, ein europäisches Land und Nato-Mitglied, zu zwingen, den Kurden eine Autonomie zu gewähren und die Repression zu beenden, die schon Tausende Tote unter der kurdischen Zivilbevölkerung gekostet hat? Hier wird offenbar mit zweierlei Maß gemessen.

Wie war es möglich, daß sich die sozialdemokratischen Führungskräfte, die Erben von Jean Jaurès und einer langen Tradition des Kampfes für das internationale Recht, dem US-amerikanischen Druck beugten und sich in ein kriegerisches Abenteuer stürzten, das nicht über die geringste internationale Legitimität verfügt? Keine einzige UNO-Resolution zum Konfliktherd Jugoslawien erlaubt explizit den Rückgriff auf die Gewalt. Und der UN-Sicherheitsrat, das höchste Gremium der Welt in Sachen Krisenbewältigung, wurde vor den ersten Luftschlägen nicht angerufen und hat keinerlei Unterstützung für die Anwendung von Waffengewalt gegen Serbien erteilt.

Schließlich hat keine der sozialdemokratischen Führungskräfte auch nur daran gedacht, sich vor Kriegsbeginn dem eigenen Parlament zu erklären, geschweige denn, den Einsatz der nationalen Streitkräfte autorisieren zu lassen.

SO wurde der Sozialismus, vormals eines der großen die Menschheit einenden Ideengebilde, ein weiteres Mal von den europäischen sozialdemokratischen Führungen verraten. Bereits der Rücktritt des deutschen Finanzministers Oskar Lafontaine am 12. März 1999 hatte auf spektakuläre Weise die sozialdemokratische Ideenleere aufgezeigt, wie auch die Unfähigkeit dieser politischen Strömung, der neoliberalen Hegemonie eine Alternative entgegenzusetzen. Selbst der Keynesianismus, der es Präsident Roosevelt in den dreißiger Jahren erlaubte, den Vereinigten Staaten aus der Krise herauszuhelfen, ist diesen Sozialdemokraten mittlerweile zu links.

Seine eigenen Genossen haben Oskar Lafontaine fünf Sünden vorgeworfen: eine europäische Politik der Wirtschaftsankurbelung anzustreben, eine gerechtere Besteuerung zu verlangen, die Europäische Zentralbank zu kritisieren, eine Reform des internationalen Geldsystems zu fordern und (in der Zeit davor) die Bundesbank aufzufordern, ihre Zinssätze zu senken, um durch Verbilligung der Kredite den Konsum zu stärken und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Sein Abgang ist ein weiteres untrügliches Zeichen für den ideologischen Zusammenbruch der Sozialdemokratie. Diese hat keinen Kompaß mehr, navigiert nur noch auf Sicht, fixiert auf die allernächsten drängenden Aufgaben, und kommt ohne jede ideologische Basis aus – es sei denn, man wollte den Katalog von Verzichtserklärungen, zu dem sich „Der Dritte Weg“ von Anthony Giddens und „Aufbruch“ von Schröder-Berater Bodo Hombach summieren, als Theorie bezeichnen.

Die Sozialdemokratie, die in den großen Ländern Europas allein regiert, setzt Politik mit Wirtschaft gleich. Und Wirtschaft, das ist der Finanzbereich. Und der Finanzsektor, das sind die Märkte. Deshalb fördert sie die Privatisierungen, den Abbau des öffentlichen Sektors, die Konzentration und die Fusionen der großen Firmen. Und sie ist bereit, auf den Gesellschaftsvertrag zu verzichten. Ziele wie die Vollbeschäftigung oder die Beseitigung der Armut, um die 18 Millionen Arbeitslosen und die 50 Millionen Armen der Europäischen Union aus ihrem Elend herauszuholen, haben sie völlig aus dem Auge verloren.

Die Sozialdemokratie hat die intellektuelle Schlacht nach dem Fall der Mauer 1989 gewonnen. Die konservativen Parteien haben sie verloren und verabschieden sich jetzt aus der Geschichte, so wie es schon die Aristokratie nach 1789 tun mußte. Im politischen Spektrum muß die Linke nun neu erfunden werden, nachdem der Platz des Konformismus und des Konservativismus von der Sozialdemokratie eingenommen wird. Sie ist die moderne Rechte.2 Aufgrund ihrer Theorieleere und ihres Opportunismus hat sie die historische Aufgabe übernommen, den Neoliberalismus zum Naturzustand zu erklären. Im Namen des „Realismus“ führt sie heute Krieg in Serbien, und morgen wird sie ihn in den verarmten Vorstädten führen. Denn sie will nichts mehr umwälzen. Schon gar nicht die gesellschaftliche Ordnung.

Fußnoten: 1 Le Monde, 25. März 1999. 2 Vgl. Roland Hureaux, „Les trois Ûges de la gauche“, Le Débat, Januar 1999.

Le Monde diplomatique vom 16.04.1999, von IGNACIO RAMONET