16.04.1999

Die „Japan Inc.“ – Hindernis oder Schutzwall

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Die „Japan Inc.“ – Hindernis oder Schutzwall

SEIT dem Zweiten Weltkrieg war für die Vereinigten Staaten das Wirtschaftswachstum und die Stabilität Japans ein entscheidender Faktor im weltweiten Kampf gegen den Kommunismus. Obwohl sich die japanischen Politiker dieses Drucks von außen immer bewußt waren, haben sie die amerikanischen Störmanöver gegen ihr „staatliches“ Entwicklungsmodell in den letzten zehn Jahren als Anmaßung empfunden. Heute hat es keine andere Wahl, als die marktwirtschaftliche Doktrin der Amerikaner zu übernehmen – auch auf die Gefahr hin, daß der gesellschaftliche Zusammenhalt des Landes darüber zerbricht.

Von BRUCE CUMINGS *

In einer Neujahrsansprache vor mehreren hundert Beamten seines Ministeriums erklärte der japanische Justizminister Shozaburo Nakamura, das neoliberale Evangelium des völlig unkontrollierten Marktes, aufgrund dessen die Vereinigten Staaten in den neunziger Jahren offenbar alle ihre wirtschaftlichen Rivalen hinter sich lassen konnten, predige „nicht die wahre Freiheit“. Es bedeute vielmehr „eine Form von Freiheit, die in dem Augenblick, da ein anderes Land die Oberhand gewinnt, Atombomben und Raketen abfeuert“. Und weiter im selben Ton: „Wir kämpfen im Rahmen einer Verfassung, die uns verbietet, eine Armee zu unterhalten, und die uns die Möglichkeit versagt, eben diese Verfassung zu revidieren.“

Wie nicht anders zu erwarten, distanzierte sich Ministerpräsident Keizo Obuchi von seinem Minister, und dieser mußte schließlich zurücktreten. In Japans Nachbarstaaten, die schon seit langem befürchten, Tokio könnte eines Tages seine „Friedensverfassung“ zerreißen und wieder eine militaristische Politik betreiben, hat man Nakamuras Äußerungen sofort als Brandreden aufgefaßt.1

Wenngleich solche Episoden von verbaler Entgleisung und Widerruf sich häufig wiederholen (sie sind fast so alltäglich geworden wie Regierungsneubildungen), hat Nakamura mit seiner Rede doch zahlreiche und tiefsitzende Frustrationen des Landes zum Ausdruck gebracht. Seit Ende der vierziger Jahre ist Japan in ein regionales System eingebunden, durch das es politisch und militärisch eingeengt, an seiner Selbstbehauptung und der Durchsetzung seiner nationalen Autonomie gehindert und in Abhängigkeit von Amerika gehalten wird. Nachdem dieses System vierzig Jahre lang auf dem Königsweg des industriellen Wachstums und wirtschaftlichen Wohlstands vorangekommen ist, wird dieser Weg neuerdings, da sich eine einzige Spielart des Kapitalismus (nämlich die amerikanische) gegenüber allen anderen Entwicklungsmodellen durchzusetzen scheint, zunehmend mühsam.

Daß Japans Wirtschaft sich in einer Sackgasse befindet, ist bekannt. Seit die spekulative Finanzblase zu Beginn der neunziger Jahre geplatzt ist, entwickelt sich das Wachstum nur noch mäßig oder sogar negativ. Die riesigen Banken, die fast alle zu den zehn größten der Welt gehörten, sind mit nicht oder nur schwer eintreibbaren Darlehen in Höhe von insgesamt 1 Billion Dollar belastet. Die ehemals weltweit expandierenden Industrien des Landes haben am Ende der achtziger und in den neunziger Jahren im Ausland wie in Japan zuviel investiert; seit 1992 liegt ihre Kapazitätsauslastung nur noch bei 75 Prozent.2 Auch auf dem technologischen Sektor ist keine Rede mehr von hervorragenden Leistungen Japans, und es gibt kaum noch einen Schlüsselbereich, in dem es gegenüber den USA eindeutig in Führung liegen würde.

Schließlich steckt das Land in einer politischen Krise von historischer Dimension: Zum einen brach die seit 1955 regierende Koalition unter Führung der Liberaldemokratischen Partei 1993 auseinander, zum anderen steht das früher so hoch gelobte staatlich-administrative System vor dem Bankrott und ist offenbar nur noch zur Nabelschau fähig.

Weniger bekannt ist Japans Stellung im internationalen System als zweite Macht (“Japan as number two“), die zwischen 1947 und 1950 von den Vereinigten Staaten geschaffen wurde. Dean Acheson, George Kennan und John Foster Dulles – um nur die drei wichtigsten damaligen US-amerikanischen Strategen zu nennen – wollten Japan gewissermaßen ein ferngesteuertes Kontrollsystem auferlegen: Es sollte tun, was zu tun war, ohne daß man es ihm eigens sagen mußte. Damit definierten sie die Grenzen, die bis heute für das Verhalten Japans gelten.

Verstand sich diese Politik der Eindämmung (“containment“) in erster Linie als Sicherheitsstrategie gegen die kommunistischen Expansionsbestrebungen, so verhalf sie den Vereinigten Staaten in Ostasien zwangsläufig auch zu Einfluß und Reichtum. Um ihre Sicherheitsziele zu komplettieren und durchzusetzen, schwebte den amerikanischen Planern für die gesamte Region eine Wirtschaft vor, die im Schlepptau einer wiederbelebten japanischen Industrie floriert und sicheren Zugang zu Märkten und Rohstoffen hat. So sollten mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Die von der sozialistischen Wirtschaft bedrohten Länder würden näher zusammenrücken; Japan würde autark werden; zwischen Japan und den USA würde eine wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit entstehen; Japan und die USA würden in die Sphäre des französischen Franc und des englischen Pfunds eindringen und damit die Kolonien dem europäischen Einflußbereich entziehen.

Der „lange Frieden“ zwischen den Großmächten in der Nachkriegszeit basierte in Wirklichkeit auf einem Doppelsystem: Eindämmung des kommunistischen Feindes, aber auch der kapitalistischen Alliierten. Kennans Doktrin war janusköpfig: in erster Linie war sie eine Politik der Eindämmung gegenüber der UdSSR und ihren Verbündeten, doch in zweiter Linie war sie auch auf die unterlegenen Gegnern von einst gerichtet – auf Deutschland und Japan.

Die Logik dieser Politik, die sich unmittelbar aus dem Wesen des Kalten Kriegs ergab, hat sich zwischen 1950 und 1975 noch verfestigt. Als gefügiger Partner der Vereinigten Staaten, der deren wirtschaftliche Erfolge sehr bewunderte, profitierte Japan von den Kriegen in Korea und Vietnam. Zwar war den US-amerikanischen Strategen der japanische Neomerkantilismus und die starke Rolle des Staates innerhalb seiner Volkswirtschaft ein Dorn im Auge, aber Washington hielt dennoch zu seinem Verbündeten und verwöhnte ihn mit einem gigantischen Technologie- und Kapitaltransfer.

Die High-Tech-Industrien der damaligen Zeit – etwa Westinghouse, General Electric, IBM, General Motors, Ford, Lockheed – und die Ölgesellschaften hatten auch von einem wiedererstarkten Japan nichts zu befürchten, solange es politisch, technologisch, militärisch und hinsichtlich seiner Rohstoffversorgung abhängig blieb. Die Sonne Japans sollte ruhig aufgehen, aber nicht allzu hoch steigen. Das heißt hoch genug, um seinen Verbündeten in weniger leistungsstarken Industriebranchen (Textilien, Elektronik, Automobilbau, Stahl) Handelsprobleme zu bereiten, doch nicht so hoch, daß man die Spitzenindustrien der USA bedrohen oder gar sich weltweit einen industriellen Vorsprung verschaffen konnte. Kurz, das Japan der Nachkriegszeit war eine weltwirtschaftliche Versuchswerkstatt, ein „ökonomisches Wesen“ von Amerikas Gnaden, ohne ihr früheres politisches und militärisches Gewicht.

Nicht von ungefähr herrschten in den neunziger Jahren für die USA geradezu paradiesische Zustände. Doch mit dem Ende des Kalten Kriegs ergab sich auch zwangsläufig das Problem der Kompatibilität zwischen dem japanischen System und der neuen neoliberalen Ära. Die eigentliche Bedeutung der asiatischen Finanzkrise von 1997 liegt darin, daß die Vereinigten Staaten den Versuch unternahmen, dem Modell der sogenannten nachholenden Entwicklung, also dem japanischen, ein Ende zu setzen uns seine Erfolgsaussichten zu begrenzen. Denn Japans stark nationalistischer Neomerkantilismus hat sich in Asien auch auf weniger mächtige Länder mit beschränkter Souveränität ausgebreitet (auf Süd-Korea, Taiwan, Singapur und auf die südostasiatischen „Schwellenländer“).

Der IWF als Rammbock US-amerikanischer Interessen

ALS sich im Herbst 1997 die Liquiditätskrise in Süd-Korea ausbreitete, machten die USA ihren Einfluß dahingehend geltend, daß das japanische Projekt eines asiatischen Währungsfonds, der die in Not geratenen Banken retten sollte, zu Fall gebracht und für Korea und Indonesien weitreichende Umstrukturierungen als Gegenleistung für Finanzhilfen des IWF durchgesetzt wurden.3 Wäre die japanische Lösung zum Zuge gekommen, hätte dies einen Schritt zu einer beispiellosen Autonomie bedeutet und Japan eine Hegemonialrolle in der ganzen Region verschafft.

Mit Unterstützung Chinas, das eine regionale Vormachtstellung Japans genauso ablehnt, gelang es den USA, den Vorstoß Tokios geschickt zu blockieren. Allerdings muß man hinzufügen, daß Japan ökonomisch gesehen schwache Karten hatte: Im November 1997 kulminierte die Krise des Bankensystems und drohte außer Kontrolle zu geraten (damals mußten die Finanzbehörden 30 Milliarden Dollar in das System pumpen). Experten schätzen, daß fast die Hälfte der großen japanischen Banken von Schließung oder Verkauf bedroht sind und die Rekapitalisierung des Finanzsektors mindestens 80 Milliarden Dollar erfordert. Die nicht eintreibbaren Schulden beliefen sich seinerzeit auf geschätzte 600 Milliarden Dollar (heute 1 Billion). Die Ausweitung der Krise veranlaßte die USA, gegen die Autonomiebestrebungen Japans zu arbeiten und gleichzeitig zu versuchen, die Gefahr eines allgemeinen Zusammenbruchs zu bannen, von dem nicht nur Rußland, sondern auch die Weltwirtschaft insgesamt betroffen worden wäre. Nachdem der Plan des IWF umgesetzt war, begannen einflußreiche Beobachter in Washington eine Kampagne, die das jahrzehntelang gepriesene japanischen Entwicklungsmodell nun auf einmal schlechtmachte. So erklärte der stellvertretende IWF-Direktor Stanley Fischer, eine echte Umstrukturierung Ostasiens sei unmöglich, solange es das „koreanische Modell oder das Modell der Japan Inc.“ gebe. Andere Quellen in Washington räumten ein, zahlreiche Reformen des IWF seien nur auf Veranlassung des US-Finanzministeriums initiiert worden. Sie bestätigten damit die Auffassung des ehemaligen US-Sonderbeauftragten für Handelsangelegenheiten Mickey Kantor, wonach der IWF als „Rammbock“ im Dienste der amerikanischen Interessen dienen könnte.4

Die „Clinton-Doktrin“ von 1993 hat eine aggressive internationale Wirtschaftspolitik formuliert, die den Export fördern und bestimmte Volkswirtschaften für amerikanische Produkte und Investitionen öffnen soll.5 Gleichzeitig wird die Sicherheitsstruktur des Kalten Kriegs aufrechterhalten, was Washington die Möglichkeit gibt, seine Alliierten zu beeinflussen und zugleich potentielle Gegner wie China auf subtile, aber eindeutige Weise zu bedrohen. Und auch die scheinbar autonomen „asiatischen Tiger“, die lange im Schutz des amerikanischen Sicherheitssystems ökonomisch wachsen konnten, sind in eine Struktur der Abhängigkeit eingebunden und einem Hegemonialsystem unterworfen, das sie nur unzureichend verstehen und das ihre Gesellschaft und Ökonomie auf die amerikanischen Vorstellungen festnageln will. Und die zielen darauf ab, das einzige Modell, das dem amerikanischen Modell Paroli geboten hat, zu untergraben oder gar zu beseitigen.

Die von Nakamura repräsentierten konservativen Kräfte Japans versuchen, ihren Gesellschaftsvertrag aus der Nachkriegsperiode gegen das neoliberale Credo zu verteidigen. Doch für andere asiatische Politiker wie den ehemaligen südkoreanischen Ministerpräsidenten Lee Hong-koo ist die Diskussion bereits entschieden: „Das Modell ist klar. Es ist der Westen und nicht Japan. Die aktuelle Krise hat fast alle davon überzeugt, daß der alte Stil nicht funktioniert.“6 Diese Auffassung könnte sich letztendlich durchsetzen, denn weder Süd-Korea noch Japan sind in der Lage, sich Washingtons Anweisungen zu widersetzen.

Aus amerikanischer Sicht hat Japan nach 1990 an Bedeutung eingebüßt, was dem „kommunistischen“ China zugute kam, das im Laufe der letzten achtzehn Monate als ein Pol der Stabilität in Ostasien wahrgenommen wurde. Beim Besuch des amerikanischen Präsidenten im Juni 1998 haben Clinton und sein Finanzminister Robert Rubin sich daher deutlich an Peking angenähert und die währungspolitischen Bemühungen des chinesischen Regimes gelobt.7 Dies geschieht in der Absicht, Chinas Position auf dem Weltmarkt zu beeinflussen und zu kanalisieren, um die Entstehung eines „neuen Japan“ zu unterbinden. Doch China gehört nicht zum amerikanischen Sicherheitssystem der Nachkriegszeit, und der Einfluß auf Peking ist weitaus begrenzter als der auf Japan und Korea. Deshalb versucht Washington, China in ein Netz von Zwängen und einen institutionellen multilateralen Rahmen einzubinden, der vom Westen geschaffen und dominiert wird.

dt. Matthias Wolf

* Historiker an der Universität Chicago. Sein neuestes Buch, „Parallax Visions: Making Sense of American- East Asian Relations at the End of the Century“, erscheint im April 1999 bei der Duke University Press in Chicago.

Fußnoten: 1 Nicholas D. Kristof, „Japanese is Sorry He Called US a Bully“, The New York Times, 6. Januar 1999. 2 Zahlen nach The New York Times vom 6. Januar 1999. 3 Im Fall Koreas war der Augenblick entscheidend, als US-Finanzminister Robert Rubin seinen Thanksgiving-Urlaub unterbrach, um mit dem Präsidenten der amerikanischen Zentralbank, Alan Greenspan, zu konferieren, und danach zwei hohe Beamte seines Hauses, darunter der stellvertretende Minister Lawrence Summers, nach Seoul beorderte. Summers gilt seitdem als „eine moderne Version von General Douglas MacArthur, der Asien im Interesse Amerikas neu ordnet“. 4 Kantor, zitiert nach Devesh Kapur, „The IMF: A Cure or a Curse?“, Foreign Policy Nr. 111 (Sommer 1998), S. 115. Kapur schrieb außerdem, daß nach IWF-Quellen „bestimmte Bedingungen wie etwa die Forderung gegenüber Korea nach Öffnung seines Automobil- und Finanzsektors den Druck der Hauptaktionäre des IWF (Japan und USA) widerspiegelten“. 5 Das gilt für allem für die Dienstleistungsindustrien, die heute die amerikanische Wirtschaft beherrschen und 85 Prozent des BIP ausmachen. 6 Nicholas D. Kristof, „Asian Style Capitalism Giving Way to the Free Market“, The New York Times, 17. Januar 1998. 7 Paradoxerweise erklärt sich die Stabilität der chinesischen Währung, des Yuan, aus ihrer Nichtkonvertierbarkeit, was den Devisenhandel von Spekulanten und andere hedge funds verhindert. Zudem verfügt China wie Taiwan und Hongkong über große Devisenreserven. Diese beiden Faktoren haben die chinesische Währung vor einer direkten Bedrohung geschützt. Siehe hierzu auch Philip S. Golub, „Hoher Preis für rasches Wachstum“, Le Monde diplomatique, Februar 1999.

Le Monde diplomatique vom 16.04.1999, von BRUCE CUMINGS